Zwei Dinge braucht die Frau

Gabriele Reuters literarisches Plädoyer für die Anerkennung lediger Mütter „Das Tränenhaus“ (1909) in einer Neuauflage

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist vor allem einer ihrer Romane, mit dem Gabriele Reuter, eine der meistgelesenen AutorInnen um 1900, noch heute bekannt ist, zumindest in Kreisen der Literaturwissenschaft: „Aus guter Familie“. Dabei hätte sie durchaus noch immer eine breitere Rezeption verdient. Und zwar im doppelten Sinne. Einmal wären etliche weitere Werke von ihr wiederzuentdecken, und zum anderen verdienten sie nicht nur das Interesse der Germanistik, sondern eines allgemeinen Lesepublikums. Erinnert sei hier nur an den 1927 unter dem Titel „Töchter“ veröffentlichten „Roman zweier Generationen“, in dem die Autorin das nicht selten konfliktträchtige Verhältnis zwischen Mutter und Tochter vor dem Hintergrund der abgeklungenen Ersten Frauenbewegung literarisiert. Leider ist das Buch längst vergriffen und selbst antiquarisch nicht ohne weiteres zubekommen.

Immerhin aber ist ein anderes der Werke Reuters nun wieder erhältlich – ein Roman voller Tragikomik, in dem der erste Teil des nur scheinbaren Oxymorons allerdings deutlich überwieg. Es handelt sich um den 1909 erstmals erschienenen Roman „Das Tränenhaus“. So nennen die Bewohnerinnen, sämtlich unverheiratete werdende Mütter, die Unterkunft, in der sie für einige Monate Zuflucht gefunden haben. Meist um sich die „Demütigung und Schande“ eines – wie es damals hieß – ‚gefallenen Mädchens‘ zu ersparen, die es bedeuten würde, wenn ihre Schwangerschaft in ihrem weit entfernten Heimatort bekannt würde.

Cornelie Reimann, die Protagonistin des Romans, ist jedoch nicht eben eine typische Mieterin des Tränenhauses, handelt es sich doch um eine erfolgreiche Intellektuelle und „vornehme Philosophin“, die zudem einige Berühmtheit in der Bohème und der Reformbewegung erlangt hat, deren Frauen sich an ihren Schriften orientieren. Ihre „vor einigen Monaten“ erschienenen „Beiträge zur Psychologie der Frau“ erregten allerdings „nicht nur unter den Frauen, sondern fast mehr noch unter den Männern“ ein „ungewöhnliches Aufsehen“. Auch in der Presse wurde sie „als ein aufgehender Morgenstern, ein Fanal in der Dunkelheit gepriesen“.

Bei alledem hat sie allerdings nicht selten merkwürdig konservative Ansichten über das ihrer Meinung nach instinkt- und naturbestimmte Wesen der Frau und über die Ehe. So erklärt sie etwa, dass nicht alle Frauen „zu Müttern geschaffen“ seien, sei „keine Schuld – es ist Naturanlage“. Dass eine Frau aus guten Gründen keine Mutter werden möchte, zieht sie nicht in Betracht. Und „das Wesen der Ehe“, meint sie, bedeute „wohl im letzten Grunde immer die Herrschaft und Tyrannei der Frau über den Mann“.

Die „Deklamationen über Welt- und Gesellschaftsordnung“ zweier junger Anhängerinnen, ihre „rasende Empörung über die Eiswände der Konvention, an denen die beiden Sturmgeister sich die heißen Köpfe wundgestoßen hatten“, und ihre „Begeisterungsausbrüche über neue Rechte des Weibes, Rechte des Menschen, sein Leben zu leben, nicht das der anderen“, erregen denn auch zwar eine gewisse Empathie in Cornelie, doch „sie selbst fühlte nur immer wieder: Grausame, grausame Natur … Sie fühlte nur: Weibesschicksal, das durch keine Gesetze, keine Rechte abzuwenden war. Das immer wieder vernichten musste, so lange Mädchen leben und lieben – so lange Männer Männer bleiben“. Auch heißt sie die Tatsache, dass sich keine der Frauen den Aufenthalt im Tränenhaus vom Kindsvater zahlen lässt, weil sie „nur ja nicht darüber [seiner] Neigung verlustig gehen“ wollen und „sich gar nicht einmal bewusst“ sind, „daß sie Opfer brachten“, damit gut, dass die Frauen den „Urinstinkten des Weibes“ folgten und daher „in ihrem Recht“ seien.

Auf das Ansinnen seiner schwangeren Freundin, doch auch einmal etwas zu den im Tränenhaus anfallenden Kosten beizusteuern, kann ihr Liebhaber auch schon mal mit dem wenig freundlichen Ausruf „Laß mich zufrieden – ‘s ist schon arg genug, daß d’ so garstig ausschaust“ reagieren, wie eine der Frauen berichtet.

Im Tränenhaus angelangt, schaut Cornelie erst einmal noch auf ihre „scheuen und stillen“ Mitbewohnerinnen herab. Dann aber kommt sie ihnen doch näher und es entsteht so etwas wie ein die unterschiedlichen Charaktere übergreifendes Gemeinschaftsgefühl, das durch die gleiche elende Lage gestiftet wird.

Unter Cornelies Mitbewohnerinnen ist zunächst die wenig attraktive und menschenscheue „bayrische Toni“ zu nennen. Sie hat sich mit ihren 17 Lenzen von einem Mann verführen lassen, der es auf ihren vermeintlichen Reichtum abgesehen hatte und sie prompt sitzen ließ, als sich herausstellte, dass das Mädchen keineswegs auf ein großes Erbe hoffen darf. Die „muntere Lebenskünstlerin“ „Annerle von Pfaffenhofen“ lebt zwar mit ihrem Hansel „wie brave Eheleut zusammen“, doch hat es sie ins Tränenhaus verschlagen, weil sie nicht heiraten können, da seine Eltern jüdisch sind und ihr Onkel „der Dekan“ ist. Als sie „endlich ihre Mutterschmerzen leiden muss, kennt ihr Zorn über eine solche Ungehörigkeit der Natur keine Grenzen“. Ganz ihrem Naturell gemäß schimpft sie lauthals: „Das ischt ha eine mordsmäßige Sauerei für uns arme Weibsleut’ – und ich will nit, ich will einmal nit.“ Die „Schweizer-Mari“ wiederum erleidet im Tränenhaus eine Frühgeburt und ist erleichtert, dass das Kind „Gott sei Dank gleich gestorben“ ist.

Eine Frau brauche vor allem zwei Dinge: „einen harten Schädel und einen harten Willen“, lautet die Lehre, die Cornelie aus dem Tränenhaus mitnimmt. Und das ist ja fast schon wieder feministisch.

Reuters Roman „Das Tränenhaus“ ist nicht nur darum zur Lektüre zu empfehlen, weil er einen Eindruck vom Leiden der ledigen Mütter im Kaiserreich bietet. Er entführt die Lesenden in die Welt Cornelies, Annerles, Tonis und der Schweizer-Marie. Schon bald sitzen sie mit den werdenden Müttern am Tisch des Tränenhauses, leiden, bangen und hoffen mit ihnen. Darum ist es eine Freude, das Buch neu aufgelegt zu wissen. Die Freude, es in der Hand zu halten, ist hingegen um einiges geringer. Zu lieblos ist die Aufmachung. Sie drückt fast schon Geringschätzung aus.

Titelbild

Gabriele Reuter: Das Tränenhaus.
Herausgegeben von Carsten Dürkob.
Igel Verlag, Hamburg 2013.
180 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783868155723

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