Hinter Rübezahls Bergen

Peter Lachmann gibt eine Anthologie mit von Schlesien inspirierten Texten E.T.A. Hoffmanns heraus

Von Clarissa HöschelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Clarissa Höschel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der deutsch-polnische Schriftsteller und Übersetzer Peter (Piotr) Lachmann beleuchtet eine bislang wenig bekannte Facette des aus dem ostpreußischen Königsberg stammenden E.T.A. Hoffmann, der, wenn die Rede auf topografische Bezüge in seinen Werken kommt, vor allem mit Berlin in Verbindung gebracht wird. Nun steht Schlesien im Mittelpunkt und trägt damit auch der Tatsache Rechnung, dass die Kulturlandschaft der ehemaligen deutschen Ostprovinzen 70 Jahre nach Kriegsende allenthalben wieder mehr in das Blickfeld rückt.

Zwar gibt es eine ganze Reihe von Büchern über Schlesien und über die Schlesier, und es gibt Schlesien-Anthologien, die Texte schlesischer oder aus Schlesien stammender Schriftsteller versammeln. Doch bislang führt diese Literatur ein eher marginales Dasein, denn Schlesien, ebenso wie Ostpreußen, Pommern oder andere ehemalige deutsche Gebiete, wurde bisher als etwas Exotisches aus der Vergangenheit wahrgenommen, zu dem nur bestimmte Bevölkerungsgruppen noch einen persönlichen Bezug haben. Was aber seit einigen Jahren geschieht, ist ein Sich-Öffnen des kulturgeschichtlichen Bewusstseins dahingehend, dass diese Gebiete zunehmend als Teil der kulturellen deutschen Vergangenheit begriffen werden. Dass diese einstige deutsche Kulturlandschaft – Schlesien war 700 Jahre lang ein Teil davon – auch in einer Vielzahl von literarischen Texten erscheint, ist allerdings kaum im kollektiven Bewusstsein verankert. Nun schließt Lachmann diese Lücke zumindest in Bezug auf Hoffmann, dessen Vita – die in den relevanten Auszügen dankenswerterweise im Anhang beigefügt ist – zeigt, dass die preußischen Ostprovinzen tatsächlich ein Teil Deutschlands waren, in dem sich die Menschen, ob Schriftsteller oder nicht, bewegten.

Der etwas exotisch klingende Titel „Durchflug“ (das Briefzitat von 1798, dem dieser Begriff entstammt, ist der Anthologie als Motto vorangestellt) ist eines von vielen Beispielen hoffmannscher Sprachkreativität. Gemeint ist „Ausflug“, und zwar Hoffmanns erster Ausflug in Rübezahls Reich, das Riesengebirge. Und weil wir gerade bei dem schlesischen Berggeist sind, sei vorweggenommen, dass der zweite der „Briefe aus den Bergen“ den Erzähler unverhofft Rübezahls Bekanntschaft machen lässt; kurz zuvor fällt, aus dem Munde eines Einheimischen, der einzige schlesische Satz der gesamten Anthologie.

Dass sich die bisherige mit dieser ‚neuen‘ Schlesien-Literatur wohl kaum vermischen dürfte, liegt fast in der Natur der Sache, denn Schlesien-Anthologien versammeln zumeist aus Schlesien stammende oder in Schlesien wirkende/gewirkt habende Dichter, die das Schlesische, oder zumindest den einen oder anderen Teilaspekt davon, in ihren Texten explizieren und thematisieren. Willkürlich herausgegriffene Beispiele sind „Der schlesische Landadel“ (Joseph von Eichendorff) oder „Die Weber“ (Gerhart Hauptmann), aber durchaus auch Texte wie „Ut mine Festungstid“ des Mecklenburgers Fritz Reuter, der 1837 den ersten Teil seiner mehrjährigen Festungshaft im niederschlesischen Glogau (heute: Glogów) verbrachte.

Womit wir wieder bei E.T.A. Hoffmann wären, denn in Glogau – der Heimat Andreas Gryphius‘ und Arnold Zweigs – lebte Hoffmann von 1796 bis 1798, im Hause seines Onkels. Offiziell beendete der angehende Jurist dort seine Studienzeit mit dem 2. Staatsexamen. Doch der Aufenthalt hat auch etwas Exilhaftes an sich, denn Hoffmann tauscht nicht nur die pulsierende Metropole Königsberg gegen das beschaulich an der Oder gelegene Glogau, sondern trennt sich auch räumlich von seiner verheirateten Geliebten Dora Hatt. Gerade diese vorangegangene, unglückliche und gesellschaftlich geächtete Beziehung – Dora war zu allem Überfluss auch noch neun Jahre älter als Hoffmann – scheint sich in den Texten wiederzufinden, denn just die ersten beiden der hier vorgestellten Erzählungen verwenden Varianten eines Unglückliche-Liebe-Motivs.

Diesem ersten und intensivsten Aufenthalt folgen Jahre später zwei weitere: 1808 verbringt Hoffmann den Sommer wiederum im Glogau, diesmal im Hause eines Freundes. Und gut zehn Jahre später, 1819, unternimmt der inzwischen 43-Jährige zusammen mit seiner Frau eine Bäderreise, die ihn in die schlesischen Kurorte Warmbrunn, Flinsberg und Landeck führt.

Zwei dieser drei Schlesien-Aufenthalte stellt Lachmann anhand seiner in drei Abteilungen angelegten Sammlung heuristisch kommentierter Texte vor: Die (privaten) Briefe der ersten Abteilung schrieb Hoffmann während seines ersten Aufenthaltes an seinen Freund Theodor Gottlieb von Hippel. Demgegenüber steht die dritte Abteilung, „Briefe aus den Bergen“, die Hoffmanns drittem Aufenthalt in Form von Briefberichten Rechnung tragen. Das Herzstück der Sammlung bilden die drei Erzähltexte der zweiten Abteilung, die sich zwar auf Hoffmanns ersten Aufenthalt zurückführen lassen, trotzdem erst zwei Jahrzehnte später, zwischen 1816 und 1819, entstanden sind. Dazwischen liegen Hoffmanns Bamberger Zeit (1808 bis 1813), sein zweiter Schlesien-Aufenthalt (der interessanterweise literarisch nicht dokumentiert ist), und die Veröffentlichung seines (auch die Bamberger Zeit reflektierenden) Sammelbandes „Fantasiestücke in Callots Manier“ (1814), auf den Hoffmann im chronologisch ersten der hier vorgestellten Erzähltexte auch gleich verweist.

Alle drei Texte enthalten dieselbe topografische Referenz, das Kürzel „G.“, und lassen sich mit dem schlesischen Oder-Städtchen Glogau in Beziehung setzen. Es fällt jedoch auf, dass sich die Schauplätze sukzessive von G. entfernen: Während der chronologisch erste Text, „Die Jesuiterkirche von G.“ (1816, erster Zyklus der „Nachtstücke“), den Ort sogar im Titel referiert und den Schauplatz der Rahmenerzählung in den Glogauer Jesuitenkonvent legt, spielt die zweite Erzählung, „Das steinerne Herz“ (1817; zweite Folge der „Nachtstücke“) auf einem eine halbe Stunde südlich von G. gelegenen Landgut. Die Verbindung des dritten Textes zu Glogau lässt sich gar nur noch über biografische Bezüge erschließen: Die Rahmenhandlung von „Spieler-Glück“ (1819; dritter Band der „Serapionsbrüder“) spielt in Pyrmont, doch die dort verarbeitete Casino-Erfahrung stammt aus einer Reise nach Warmbrunn, die Hoffmann während seines ersten Aufenthaltes mit einem Glogauer Bekannten unternommen hat. Allerdings wäre Hoffmann nicht Hoffmann, wenn nicht auch in diesem Text Verweise auf G. zu finden wären: Serapionsbruder Theodor erzählt von seinem Aufenthalt bei seinem Onkel in G. und seiner Bekanntschaft mit seiner späteren Reisebegleitung. Und: Die Hauptfigur der ersten Binnengeschichte hält sich ebenfalls kurze Zeit in G. auf.

Neben dieser wiederkehrenden topografischen Referenz weisen die drei Texte noch weitere Gemeinsamkeiten auf, so eine Erzählerfigur, die sich in zwei der Texte eines Manuskripts bedient und damit dem Erzählten den Anspruch einer wahren Begebenheit verleiht. Lediglich der Erzähler von „Das steinerne Herz“ verzichtet darauf, die Herkunft des Erzählten mitzuteilen.

Alle drei Texte, und hier wird es äußerst unschlesisch, verknüpfen ihre Binnenerzählungen mit welschen beziehungsweise exotischen Orten. Die Vorgeschichte des Malers Berthold („Die Jesuiterkirche von G.“) spielt sich in Rom und Neapel ab und die des Chevalier Menars („Spieler-Glück“) in Paris und Genua. „Das steinerne Herz“ spielt zwar vordergründig auf dem bereits erwähnten schlesischen Landgut, doch findet dort ein historisches Kostümfest statt, bei dem die Anwesenden mit ihren Erlebnissen und Sprachkenntnissen aus exotischen Ländern glänzen.

Ausführlich kommentiert werden für den ersten und dritten Text auch die autobiografischen Bezüge. Hier kommt allerdings Hofmanns Zeit am Bamberger Theater etwas zu kurz, denn Hoffmann war dort auch Dekorationsmaler, was seine Vertrautheit mit architektonischer Hell-Dunkel- und Perspektivenmalerei, wie sie Maler Berthold („Die Jesuiterkirche von G.“) zu nächtlicher Stunde in der Kirche praktiziert, noch plausibler macht.

Diese Reise, vor allem durch Hoffmanns Erzähltexte, ist auf serapiontische Art spannend, doch Hoffmann ist in der Tat kein Schlesien-Dichter wie der aus einer oberschlesischen Adelsfamilie stammende Romantiker Joseph von Eichendorff oder der naturalistische Dramatiker Gerhart Hauptmann. Sieht man einmal von seinen Briefen ab, wird das Schlesische bei Hoffmann überhaupt nicht explizit thematisiert, sondern bleibt vielmehr die verschleierte Folie, auf der sich seine Erzählungen entfalten. Den drei hier vorgestellten Texten ist gemeinsam, dass die schlesischen Handlungsorte durchaus anhand bestimmter Elemente und autobiografischer Bezüge rekonstruierbar sind. Doch selbst wenn, wie im Falle G.‘s, ein historischer Ort identifizierbar ist, so tritt das Städtchen ebenso wenig in Erscheinung wie seine Menschen; Hoffmanns Hauptfiguren sind, auch wenn sie sich zeitweise in oder bei G. aufhalten, Auswärtige. Damit bleibt Schlesien – das Greifbare, Historische – während dieser gesamten Reise trotz allem verborgen wie der Berggeist des Riesengebirges.

Titelbild

Peter Lachmann: Durchflug. E. T. A. Hoffmann in Schlesien. Ein Lesebuch.
Deutsches Kulturforum, Potsdam 2011.
325 Seiten, 14,80 EUR.
ISBN-13: 9783936168495

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