Geschöpf der literarischen Moderne

Klaus Völker und Michael Prinz legen eine umfassende Ausgabe der Briefe Max Herrmann-Neißes vor

Von Jochen StrobelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jochen Strobel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In den späten achtziger Jahren veröffentlichte Klaus Völker bei Zweitausendeins eine inzwischen legendär zu nennende zehnbändige Werkausgabe des Lyrikers, Kritikers und Prosaautors Max Herrmann-Neiße. Die damals schon geplanten Briefbände konnten jedoch nicht mehr erscheinen; seitdem waren es nur Einzelausgaben wie die Korrespondenz mit George Grosz, die ans Tageslicht kamen. Infolge einer Initiative des Berliner Verbrecher Verlags wurden nun zwei umfangreiche, im Design an die Werkausgabe angeglichene Bände mit insgesamt 1.259 Briefen Herrmann-Neißes publiziert. Als Herausgeber zeichnet neben Klaus Völker diesmal Michael Prinz verantwortlich. Ein Langzeitprojekt geht damit endlich erfolgreich zu Ende – auch dank einer Reihe von Subskribenten, die das in den letzten Jahren gewachsene Renommee des gebürtigen Schlesiers eindrucksvoll belegen.

Zunächst scheint es, als böten die Briefe auf 2.000 Druckseiten nur ein höchst begrenztes Bild des Briefschreibers, richten sich doch fast alle abgedruckten Texte an die beiden wohl für ihn wichtigsten Personen, nämlich seine Frau Leni und seinen Freund Friedrich Grieger, der zwischen 1921 und 1946 als Lehrer in Breslau lebte. Seine Frau hat Herrmann-Neiße geradezu vergöttert, das geht schon aus den zahllosen ihr gewidmeten Gedichten hervor, kaum weniger aus den Briefen an sie.

Schon der junge Max Herrmann verleiht seiner Welt- und Sprachskepsis sprachmächtigen Ausdruck, als er um Leni Gebek wirbt. Das liest sich dann so: „Ach, wir feinfühligeren und zartnervigeren und mißtrauischeren Menschen wagen nie, das rund (rund ist schon so ein wohlgenährtes Durchschnittswort!) herauszusagen, was uns beherrscht, packt, schüttelt, zu irren Tänzen führt, weil wir die Unzulänglichkeit der Sprache kennen, weil wir empfinden, daß jede innigere, zarte Regung von den plumpen, schwerfälligen Worten zerstört wird“. Leni erhört ihn, seinem Pessimismus zum Trotz. Bald schon beginnt der unstete junge Dichter, der nach abgebrochenem Studium die Eltern in deren Neißer Bierwirtschaft unterstützt, in Berlin Fuß zu fassen. Er lernt sein Vorbild Alfred Kerr kennen, nähert sich bald den Kreisen der Expressionisten. Nach dem Tod der Eltern übersiedelt er 1917 endgültig in die Reichshauptstadt, heiratet und holt Leni zu sich.

Von Anfang an ist er als Geschöpf der literarischen Moderne kenntlich, als Angehöriger der expressionistischen Generation lässt er sich dieser ästhetischen Bewegung nur bedingt zuordnen, nimmt aber seine Zeitgenossen mit großem Interesse wahr. Schon in den ersten Briefen aus dem Jahr 1912 eröffnet sich ein breiter Lese- und Rezensionskanon: Rainer Maria Rilke, Max Dauthendey, Peter Altenberg und Heinrich Mann finden sich auf der Lektüreliste, schon seit 1909 rezensiert Max Herrmann für die „Breslauer Zeitung“.

Zwar stellt ihn Samuel Fischer zeitweilig als Lektor oder besser: als Korrektor an, doch schlägt er sich mit Theaterkritiken durch. Man erfährt viel über den Alltag einer prekären Schriftstellerexistenz im Berlin der zwanziger und beginnenden dreißiger Jahre – und über die Härten des selbst gewählten Exils. Militarismus und Antisemitismus hatte Herrmann-Neiße stets gehasst. Wie für nur wenige Intellektuelle in Deutschland war ihm der Kriegsausbruch 1914 ein Martyrium, das „Unaufhaltbare, Verhaßte, Grausige“. René Schickele, einer der Gleichgesinnten, trat damals auch als Briefadressat in Erscheinung.

In allen Wechselfällen seines äußerlich wenig glanzvollen Lebens hält Herrmann-Neiße mit seinem unfehlbaren Instinkt für die ästhetische Moderne an der Kunst fest, an der Aufwertung von Kabarett, Varieté, Zirkus wirkt er als Kritiker mit. Wie sehr er in dieser Welt lebt, wird erst dem Leser seiner Briefe verständlich. Die Herausgeber zitieren in ihrem editorischen Nachwort einen Nachruf Stefan Zweigs: „Immer, wenn ich ihn so sah, den kleinen verhutzelten Mann, in seiner großen Einsamkeit, hatte ich ein Gefühl der Ehrfurcht und sogar des Stolzes, daß da einer war unter uns allen, der rein blieb und unbekümmert dem dichterischen Dienst hingegeben inmitten einer katastrophischen Welt.“

1933 emigrieren Max und Leni Herrmann-Neiße über Zürich und Paris in das ungeliebte London. Dort ist und bleibt Herrmann-Neiße ein Fremder, ein Namenloser. Zusammen mit Lenis Geliebten, dem Juwelier und Diamantenhändler Alphonse Sondheimer, lebt man nun zu dritt. Wiederum zeugen Hunderte von Briefen vor allem an seinen Breslauer Freund von seinem als eintönig empfundenen Leben, das Interesse an der jetzt im Exil entstehenden deutschsprachigen Literatur hat er indessen nicht verloren. Er selbst publiziert nun bei Emil Oprecht in Zürich: 1936 erscheint dort sein Gedichtband „Um uns die Fremde“ mit einem Vorwort von Thomas Mann.

In dem allerdings knapp gehaltenen Kommentar kann wohl vor allem Völker aus seinem reichen Fundus schöpfen, hatte er, der wohl beste Kenner des Autors, doch neben der Werkausgabe auch einen brillanten Materialienband zu Max Herrmann-Neiße veröffentlicht. Ein kommentiertes zweihundertseitiges Register informiert umfassend über Namen, Orte und Institutionen. Es ist bedauerlich, dass Gegenbriefe fehlen, doch dies unterstreicht den autobiografischen Charakter der hier zusammengetragenen Texte. Dass Max Herrmann-Neiße nicht mehr zu den Vergessenen gehört, ist vor allem Klaus Völkers Arbeit zu verdanken. Die beiden Briefbände bestätigen dies einmal mehr.

Titelbild

Max Herrmann-Neiße: Briefe. Band 1.
Herausgegeben von Klaus Völker und Michael Prinz.
Verbrecher Verlag, Berlin 2012.
800 Seiten, 42,00 EUR.
ISBN-13: 9783940426758

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Titelbild

Max Herrmann-Neiße: Briefe. Band 2.
Herausgegeben von Klaus Völker und Michael Prinz.
Verbrecher Verlag, Berlin 2012.
800 Seiten, 42,00 EUR.
ISBN-13: 9783940426765

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