Der Islam und der Westen

John Bowens Essay über die globalisierte Religionsgemeinschaft

Von Josef BordatRSS-Newsfeed neuer Artikel von Josef Bordat

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Kultur- und Sozialanthropologe John Bowen (Washington Universität St. Louis) hat einen Essay zum Islam vorgelegt, dem man vieles vorwerfen kann – Blauäugigkeit und mangelndes Antizipationsvermögen etwa –, nicht aber, dass sich sein Autor gescheut hätte, eine der wohl drängendsten Gegenwartsfragen westlicher Gesellschaften mit den Mitteln der wissenschaftlichen Analyse zu durchdringen und eine unaufgeregte Antwort zu geben, in der Absicht, einen publizistischen Gegenpol zu einer sich momentan zuspitzenden öffentlichen Debatte um Islam und Islamismus zu bilden.

Der Islam ist dem Westen ein Feind, so die These Bowens. Und zwar zu Unrecht. Bowen erklärt zunächst, wie es überhaupt dazu kam, dass „der Islam“ ins Fadenkreuz „des Westens“ geriet: Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entstand ein Vakuum in der weltanschaulich-ideologischen Diskussion. Der siegreiche Westen machte sich auf die Suche nach neuen Feindbildern – „Der Islam war ein passender Kandidat“. Dankbar aufgegriffen und popularisiert von Samuel Huntington („Kampf der Kulturen“, 1996), habe sich das neue Feindbild nach dem 11. September 2001 zunehmend medial und politisch durchgesetzt, sich nach und nach diskursiv verselbständigt und am Ende Menschen wie Anders Behring Breivik hervorgebracht. Das ist tragisch, doch unterschlägt Bowen, dass das Feindbild nicht von einem Tag auf den anderen grundlos konstruiert wurde. So wenig es richtig ist, für den islamistischen Terror „den Islam“ verantwortlich zu machen, so falsch ist es, diesen Terror zu verharmlosen. Seit dem Ende der bipolaren Weltordnung (1989/91) fallen ihm täglich Menschen zum Opfer. Mit der eher beiläufigen Erwähnung einiger Attentate im Westen wird Bowen dieser Bedrohung – aus der sich die von ihm als „irrtümlich“ charakterisierte „Angst“ übrigens auch ableiten lässt – sicherlich nicht ganz gerecht.

Dennoch bleibt seine Grundaussage, die „Idee hinter diesem Buch“, richtig: Wir müssen Missverständnisse bezüglich des Islam ausräumen, müssen unsere „Redeweise im Alltag“ überdenken, müssen erkennen, wie die Zuspitzungen und Vereinfachungen „anti-muslimischer Stimmung“ Hass schüren, der sich in Gewalt entladen kann. Die Lösung liegt für Bowen nun in einem Multikulturalismus, gegen den sich vor allem die Europäer wehrten (Angela Merkel wird exemplarisch zitiert mit der Aussage, dass „der Ansatz für Multikulti gescheitert, absolut gescheitert“ sei). Nun gibt es zwischen unterschiedsloser Gleichbehandlungen aller Lebensformen und dem Hass auf ganz bestimmte Lebensformen sicherlich noch einen Mittelweg – die Alternative, die Bowen aufzeigt, kann jedenfalls nicht überzeugen: Entweder Werterelativismus und „anything goes“ oder Exklusion und am Ende lauter Breiviks, tertium non datur.

Besonders fragwürdig scheint das Operieren mit halbgaren und -wahren Zahlen, denn der gute Zweck sollte nicht jedes Mittel heiligen. Beispiel: Demografie. Ein Hinweis der „anti-islamischen Publizisten“ (bei Bowen erscheinen sie durchweg als irrationale, wutschäumende Stammtischhelden ohne jede Sachkenntnis) betrifft die unterschiedliche Fertilität in den Bevölkerungsgruppen. Auch wenn es hier oft absurde Übertreibungen gibt (Bowen nennt die absurdesten), so ist nicht von der Hand zu weisen, dass das Bevölkerungswachstum in der islamisch geprägten Welt deutlich höher ist als in Europa (wo von „Wachstum“ gar nicht mehr die Rede sein kann). Selbst, wenn stimmt, was Bowen mit Hinweis auf Daten des Pew Research Center prophezeit, nämlich einen Rückgang der Geburtenrate in islamisch geprägten Ländern von 4,3 (1990) auf 2,3 (2030), so liegt dieser Wert immer noch deutlich über dem für Europa (1,7), der wohl mehr oder weniger konstant bleiben wird. Die Geburtenrate in Marokko etwa werde auf 1,9 fallen und sich damit europäischen Verhältnissen nähern; in Frankreich liege die Geburtenrate derzeit bei 2,1. Bowen versucht hier einen besonders brisanten Kontrast zu nivellieren, doch leider schießt er damit etwas über das Ziel hinaus. Erstens stimmt das nicht (die Geburtenrate in Frankreich liegt bei 2,0, nicht bei 2,1), zweitens ist darin ja schon die erhöhte Fertilität islamischer Französinnen enthalten, drittens gilt Frankreich als absolute Ausnahme in Europa (zum Vergleich: die Geburtenrate in Deutschland beträgt 1,4), viertens ist es irreführend, Zahlen für „2030-35“ mit aktuellen Zahlen zu vergleichen.

Wahr ist hingegen: Kein einziges europäisches Land erreichte das Ersatzniveau von 2,1 Kindern pro Frau, das notwendig ist, damit die nächste Generation genauso groß ist wie die jetzige. Das bedeutet eben auch: Die Bevölkerung Europas wird sich in absehbarer Zeit anders zusammensetzen als bisher. Das muss keine Angst machen, doch sollte man die Dinge deutlich aussprechen. Dazu gehört auch, den Sprung von den Zahlen auf die Prognose realer gesellschaftlicher Verhältnisse zu wagen. In Europa, so das Pew Research Center, werde es im Jahre 2030 rund 8 Prozent Muslime geben. Das ist nicht viel, doch besagt dieser Durchschnittswert nichts über sich daraus ergebende Spannungen in Großstädten und Ballungszentren. Am Ende des Tages zu diagnostizieren, dass „Europa die Veränderung seiner Bevölkerungszusammensetzung überleben“ werde, „wie dies bei früheren Gelegenheiten auch geschah“, ist etwas dünn.

Völlig Recht hat Bowen wiederum mit seiner Forderung nach „Zentren für religiöses Lernen“, die jungen Muslimen ein „aufgeklärteres Verständnis des Islam“ ermöglichen und „radikaleren, oberflächlicheren Auffassungen dieser Religion zum Nachteil gereichen“ sollen. Allerdings verharmlost er kurz darauf die Scharia als irrelevant für das europäische Rechtssystem. Dabei übersieht er zum einen, dass die islamische Rechtslehre damit für Europäer (und Europäerinnen) nicht gegenstandslos wird, wie der jüngste Fall einer in Dubai vergewaltigten Norwegerin zeigt, die nach der Scharia zu einer Haftstrafe verurteilt, dann aber „begnadigt“ wurde. Zum anderen beschreibt er selbst die Rolle der „islamischen Tribunale“ in England als eine Form der Paralleljustiz, zwar ohne formale Verbindlichkeit, sehr wohl aber mit praktischer Bedeutung: „England scheint sich mehr und mehr in Richtung eines Gleichgewichts zwischen aktiven islamischen Tribunalen und aufmerksamen Richtern zu bewegen, die die Grenzen der Vertretbarkeit von Einigungen überwachen“. Bowen preist diesen „englischen Weg“, der sich irgendwo zwischen dem „Bewusstsein für Religionsfreiheit“ und der Teilkapitulation des Rechtsstaats hindurchschlängelt, als „Vorbild für andere“, um „pragmatische Kompromisse zwischen konkurrierenden politischen Werten zu finden“. Das Problem ist nur: Manchmal kann es keinen sinnvollen Kompromiss geben. Der Kompromiss zwischen 50 Peitschenhieben und 0 Peitschenhieben liegt jedenfalls nicht bei 25.

Der Islam sollte dem Westen kein Feind sein. Seine Grundauffassung begründet John Bowen durchaus nachvollziehbar. Dabei richtet er sich weniger an ein Fachpublikum als an die Allgemeinheit, in klarer, einfacher Sprache, mit einer formalen Struktur, die der kleinschrittigen Argumentation einen stützenden äußeren Rahmen verleiht. Nur verwischt er dabei manchmal die Grenzen zwischen irrationaler Feindseligkeit und durchaus berechtigter Sorge und Kritik. „Der Westen“ sollte sich das Recht auf Kritik an bestimmten Ausprägungen des Islam vorbehalten, denn nicht jede Kritik ist Ausdruck von Feindschaft. Differenzierung ist nicht nur bei den Islam-Gegnern nötig, sondern auch bei den Islam-Gegner-Gegnern. Dazu gehört das Eingeständnis, dass der Islam Werte vertritt, die nicht nur als fremdartig „angesehen“ werden, sondern die uns in Teilen fremd sind. Wie wir mit dieser Differenz umgehen, ist dann eine nachrangige Frage. Zunächst muss die Diagnose stimmen, damit die Therapie gelingen kann. John Bowen leistet dazu einen grundsätzlich wertvollen Beitrag, mit deutlichen Abstrichen in Detailfragen.

Titelbild

John Bowen: Feind Islam.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Annette Kühn und Nicole Reuter.
luxbooks, Wiesbaden 2013.
100 Seiten, 14,80 EUR.
ISBN-13: 9783939557180

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