Eher Steinbruch als Roman

Über Christian Hallers „Der seltsame Fremde“

Von Volker HeigenmooserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Heigenmooser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Rechtzeitig zu seinem 70. Geburtstag im Februar ist der neue Roman von Christian Haller „Der seltsame Fremde“ erschienen. Leider ist es ein Buch, mit dem gerade die ihn schätzende Leserschaft kaum glücklich sein dürfte. Das ist umso bedauerlicher, da Haller ja tatsächlich ein großartiger Autor ist, der sich vor allem mit seiner „Trilogie des Erinnerns“ als erstklassiger Stilist und überragender Erzähler, der etwas zu sagen hat, einen Namen gemacht hat.

„Der seltsame Fremde“ ist als Roman ein Bric-à-brac, wie die Hauptfigur, der Erzähler Clemens Lang an einer Stelle sein Leben bezeichnet. Auch wenn es einen roten Faden in diesem Buch gibt, hat man das Gefühl, dass es in viele einzelne Erzählungen, Abhandlungen und Reflexionen auseinanderfällt. Der rote Faden darin ist die Reise des Fotografen Clemens Lang zu einem Kongress über Fotografie und Wahrnehmung in ein fernes Land – man liegt wohl nicht falsch, wenn man Indien assoziiert –, wo er eine eigene Fotosammlung präsentieren soll. Bereits beim Abflug begegnet der Fotograf einem „seltsamen Fremden“, der sich ihm als „Causeur“ vorstellt und der ihn auf seine Reise, die auch eine Art Reise zu sich selbst ist, begleitet. Diese Figur des seltsamen Fremden bezieht sich explizit auf eine der letzten Erzählungen Mark Twains, „The Mysterious Stranger“. Es ist zwar klar, dass der Autor mit dieser Figur unserer Gesellschaft ‚den Teufel an die Wand‘ malen will – in Twains Erzählung greift der Teufel als freundliche Figur in eher mythischer Vorzeit ins Geschehen eines Dorfs ein –, doch überzeugt dieser Kunstgriff nicht. Vor allem, wenn er diesem selbst nicht traut und Hinweise darauf einstreut, dass der Causeur, dieser liebenswürdige Plauderer, der dem Erzähler ein angenehmes Gefühl verleiht, der Versucher, also der Teufel selbst ist. Ein Beispiel: An einer Stelle sagte der Ich-Erzähler zum Causeur, von dem wir ja schon längst wissen, das er aus dem Teufelsgeschlecht stammt, aufgebracht: „Ach gehen Sie doch zum Teufel!“ woraufhin der Causeur repliziert: „Nicht leicht, zum Teufel zu gehen, wenn man ihn selbst spielt.“ Auch wenn eine gewisse Ironie nicht zu übersehen ist, wirkt das doch ziemlich plump. Noch ein Beispiel: Wenn etwa die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Kongresses auf einem Ausflug in ein Dorf kommen, das wie aus einer anderen Zeit zu stammen scheint, worüber die Besuchergruppe etwas irritiert ist, sagt der Causeur: „Die Herrschaften glauben, in einer Art Freilichtmuseum zu sein und erschrecken, wenn sie merken, dass sie es mit der Wirklichkeit zu tun haben. Einer Wirklichkeit übrigens, wie Sie sich erinnern werden, die der dörflichen Einfachheit in Twains ‚Der seltsame Fremde‘ entsprechen dürfte, in der südlichen Variante selbstverständlich.“

Zu Beginn des Romans kann man noch glauben, dass Haller eine Art Remake von Twains Erzählung beabsichtigt hat, doch verliert der Causeur, ein alter ego des Erzählers, im Laufe der Romanzeit an Bedeutung, um am Schluss ganz verschwunden zu sein. Die Reflexionen und kleinen Essays unter anderem über Zeit, über Geschichte, über Erinnerung, über Wahrnehmung, die in unterschiedlicher Verpackung in diesen Roman montiert sind, besitzen für sich betrachtet und dank des großen erzählerischen Vermögens Hallers Charme. So wie die Varieté-Geschichte, in der der Causeur verkleidet auftritt und Zettel, auf die Zahlen geschrieben wurden, zu Geldscheinen macht. Die Gier überkommt die Zuschauer, die mit Geld überladen losziehen wollen. Aber natürlich: es „verbrennt“. Wer verstünde dieses Gleichnis nicht? Nein, der Impetus Hallers, hochgebildete Zeit- und Kulturkritik zu üben, ist unübersehbar. Und auch die vielen Anspielungen auf weitere Autoren, allen voran auf Dante und seine „Divina Commedia“, sind unübersehbar und werden auch immer ausgesprochen. Doch sie sind nicht so verbunden, dass sie einen Roman tragen könnten. Haller scheint diese Gefahr erkannt zu haben und versucht sie selbst zu neutralisieren, indem er sie thematisiert, etwa wenn er seinen Ich-Erzähler Clemens Lang den Causeur fragen lässt, wozu er seine Reise im wörtlichen und übertragenen Sinn machen solle: „Wozu? fragte er ungehalten. Ihnen genügt wohl nicht, sich mit einem Thema auseinanderzusetzen, einzig und allein, weil man Näheres über sich und die Welt erfahren möchte?“ Und an anderer Stelle heißt es, dass sich der Ich-Erzähler Notizen mache, um „in die verwirrlichen Erlebnisse eine Abfolge zu bringen.“ Die ästhetische Konstruktion wird so eher störend überdeutlich.

Es ist im Grunde von Anfang an klar, dass der Ich-Erzähler, der als akribischer und skeptischer Fotograf auf Genauigkeit Wert legt und sich und seine Arbeit nahezu grüblerisch selbst befragt, eigentlich der seltsame Fremde ist. Das wird dann ebenfalls ausgesprochen, damit es wirklich jeder begreift: So wurde er von einem Mentor als Jugendlicher bezeichnet, berichtet er selbst an einer Stelle. Und später charakterisiert ihn ein Gesprächspartner in einer Art resignativer Geste ebenso: „Doch was heute vor allem zählt, ist der Name, die Fama, sie rechtfertigen alles. Damit können wir beide nicht gerade glänzen. So hält man Sie bloß für einen, der nicht dazugehören will.“

Dieser Erzähler ist voller Skepsis gegenüber der Welt, der Wahrnehmung und dem herrschenden Mainstream. Das ist sympathisch, möchte man da sagen. Aber ist „Der seltsame Fremde“ ein Roman? Als solcher wirkt er seltsam unausgereift, eher wie ein Steinbruch, dem Anregendes vor allem zu kulturhistorischen und -theoretischen Themen zu entnehmen ist.

Titelbild

Christian Haller: Der seltsame Fremde. Roman.
Luchterhand Literaturverlag, München 2013.
380 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783630873923

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