Inzest, steinerne Herzen und kalte Augen
Simone Stölzel führt in ihrer Anthologie „Nachtmeerfahrten“ durch die schwarze Romantik
Von Georg Patzer
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseNeu ist das nicht: Dass die deutsche Romantik nicht nur aus blauen Blumen und geseufzten Gefühlen und überschwänglichen Gefühlsausbrüchen besteht. Sondern dass sie eine dunkle, düstere, gefährliche Abgrundseite hat. Man lese nur ETA Hoffmann, nach dessen Psychothrillern man auch schon mal Schlafstörungen bekommen kann, wenn man sich an das „sköne Oken“ erinnert und an die Automatenmenschen und die Doppelgänger.
Nein, die Romantiker waren auch die Erfinder oder zumindest Vorläufer der Schauergeschichten. Was wurden sie ausgeschlachtet: Das Doppelgängermotiv, die gespaltene Persönlichkeit – durch Dr. Jekyll und Mr. Hyde von Robert Louis Stevenson berühmt geworden –, der künstliche Mensch durch die Frankenstein-Geschichte. Dazu die Fantasiewesen wie Nosferatu oder Dracula. Und vollends hat der Film die dunkle Romantik benutzt, um seinen Zuschauern angenehme und weniger angenehme Schauer über den Rücken zu jagen.
Die Kulturwissenschaftlerin Simone Stölzel unternimmt es in ihrem schön gestalteten Buch „Nachtmeerfahrten“, die dunkle Seele der Romantik literarisch vorzustellen, die Faszination des Grauens, das Böse, das Abartige, das Hässliche als eine Poetik für sich darzustellen. Auch das ist nicht neu, Karlheinz Bohrer hat das vor vielen Jahren schon exemplarisch entwickelt, ganz zu schweigen von Mario Praz, den sie vehement angreift, obwohl ihr Romantikbegriff nicht weniger problematisch ist.
Dennoch ist ihr Überblick, von den Romantikern in Jena und Berlin bis zur Seelenerfoschung vor der Erfindung der Psychoanalyse eine sehr brauchbare und unterhaltsame Lektüre. Sie gliedert ihren Sammelband drei Kapitel, „Gespensterliebe“, Böse Meister“ und „Innenansichten des Wahnsinns“ und setzt den Prolog „Seelenfinsternisse“ und den Epilog „Weltenbrand“ dazu. Ihre Auswahl an Autoren reicht von August Klingemanns „Nachtwachen von Bonaventura“ über Alfred Kubin, Bram Stoker und Edgar Allan Poe, Fjodor Dostojewski und Iwan Turgenjew. Aber sie führt sie auch weiter bis zur gothic novel, Kriminalromanen und Stanislaw Lems Science-fiction-Romanen, bis zu den Stummfilmen der 1920er-Jahre (Nosferatu), kommt von den verkauften Schatten in Adelbert von Chamissos „Schlemihl“ zu Spiegelbildern, die lebendig werden, zu Inzest, steinernen Herzen und kalten Augen, gefährdeten Existenzen, gespaltenen Seelen und nekrophilen Ekstasen. Sie führt zum Wahnsinn, zur Schizophrenie (denn man weiß nie, ob der Doppelgänger nicht einfach eine andere Seite des gleichen Menschen ist) und zum Weltenbrand.
Stölzels Buch ist kein Werk mit wissenschaftlichem Anspruch, sondern ein gut lesbare Anthologie, und damit erfüllt sie wunderbar ihren Zweck. Den Titel hat die Autorin übrigens bei C. G. Jung entliehen, der damit die Fahrt in die Tiefen des Unbewussten beschrieb, analog zum ägyptischen Sonnengott, der abends aufbricht, um morgens wieder frisch aufzuerstehen. Was in diesem Werk jedoch fehlt, ist ein Namensregister.
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