Selbstvermessung, Selbstverleugnung, Selbstbestimmung

Christian Grasse und Ariane Greiner über den Menschen als digitale Datenbank

Von Josef BordatRSS-Newsfeed neuer Artikel von Josef Bordat

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Neue Technologien und neue Medien kratzen an unserem Menschenbild, das in unseren Breiten vor allem christlich-humanistisch geprägt ist. Das ist keine originelle Erkenntnis, doch liegt sie zahlreichen Publikationen zugrunde, die sich mit den anthropologischen und ethischen Auswirkung des neuerdings Machbaren auseinandersetzen. Insbesondere gilt dies für die Wechselbeziehung von technologischer Innovation und medialer Verarbeitung, in der sich der Mensch heute neu verorten muss – ob er will oder nicht.

Die Autoren Christian Grasse und Ariane Greiner greifen dieses Thema auf und führen uns Wesen und Wirkung der Selbstvermessung vor Augen, die nach Meinung ihrer Befürworter zu Optimierung von Lebensstil und Gesundheitsvorsorge führt und damit einen Beitrag zur Selbstbestimmung leistet, die jedoch – so die Gegner – ein erhebliches Missbrauchspotenzial birgt. Dieses ist zum Teil selbstindiziert, da die aufgenommenen und arglos veröffentlichten Daten je nach Verwendungskontext brisante Informationen enthalten, von denen sich zu distanzieren der Mensch – das reale Ich – geneigt ist, um keine Nachteile in Kauf nehmen zu müssen. Die Folge sind Selbstverleugnung unter dem Druck, sich einer gesellschaftlichen Norm anpassen zu müssen.

Der Mensch, so die Ausgangsthese des Buches, vermisst sich zunehmend detaillierter und hält die gewonnenen Resultate im Zuge des wissenschaftlich-technischen Paradigmas einer empirischen Durchdringung und Letztbegründung von Welt und Wirklichkeit für das entscheidende Phänomen der Persönlichkeit. Der Mensch wird zum Datum. Perpetuiert wird der Hang zu Quantifizierung und Ökonomisierung, so eine weitere These, durch die Neuen Medien, insbesondere die Sozialen Netzwerke, in denen eine Veröffentlichung des Ich beziehungsweise dessen Maße auf eine ebensolche Reaktion trifft: auf eine zahlenmäßige Bewertung, die den Vergleich der „digitalen Iche“ erlaubt.

Der Vergleich, so der Existenzphilosoph Sören Kierkegaard, ist jedoch „das Ende des Glücks und der Anfang der Unzufriedenheit“. Doch nicht allein diese Einsicht macht skeptisch: „Der vermessene und skalierte und nach seiner Nützlichkeit für bestimmte Zwecke bewertete Mensch passt nicht in unser humanistisches Menschenbild“ – vom christlichen Menschenbild ganz zu schweigen. Zudem sind die Gefahren von „Identitätsklau“ und „Datenmanipulation“, von „körperdatenbezogenem Überwachungsstaat“ und „Gesundheitsdiktatur“ groß.

Andererseits, so die ausgewogene Betrachtung von Grasse und Greiner, ist auch nicht jede dystopische Zuspitzung, die von „totaler Kontrolle“ über die Körper der Menschen ausgeht, ein adäquater Umgang mit dem Thema. Die Vorteile liegen auf der Hand: Jeder Mensch ist ein Individuum, jeder Körper reagiert anders auf Belastungen und Medikationen. Hier sind eigens erhobene Langzeitdatenreihen sicher hilfreich. Doch es bleibt die Gefahr, dass diese sensiblen Daten in die falschen Hände oder die falschen Zusammenhänge geraten.

Christian Grasse und Ariane Greiner informieren in klarer, zugänglicher Sprache über ein neuartiges Phänomen, nicht ohne dafür Sympathien zu zeigen, doch auch kritisch genug, um gelegentlich die Euphorie der „Selbstvermessungsbewegung“ auszubremsen. An einigen Stellen enthält der Text – der Einheit von Form und Inhalt zuliebe – Quick-Response-Codes, hinter denen sich weiterführende Hinweise verbergen. Insgesamt ein gelungener Einblick in die Welt der fortschreitenden Digitalisierung menschlicher Existenz.

Titelbild

Christian Grasse / Ariane Greiner: Mein digitales Ich. Wie die Vermessung des Selbst unser Leben verändert und was wir darüber wissen müssen.
Metrolit Verlag, Berlin 2013.
176 Seiten, 15,99 EUR.
ISBN-13: 9783849300371

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