Endlich komplett

Reiner Bölhoff präsentiert den ersten Band seiner kritischen Günther-Ausgabe

Von Andreas SolbachRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Solbach

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Johann Christian Günther (1695-1723) war und ist in der germanistischen Literaturgeschichte ein bemerkenswerter Sonderfall, der kontroverse Reaktionen hervorgerufen hat. Lange Zeit galt der Autor mit seinem lyrischen Werk als genialer Vorläufer des jungen Johann Wolfgang von Goethe, eine Sicht, die aber auch bald gegenteilige Wertungen provozierte. Der jüngeren Forschung gilt Günther überwiegend als ein Autor, der den Vorstellungen des literarischen Barock verpflichtet ist und dessen lebhafte und lebendige Art und Weise des Dichtens keinerlei Rückschluss auf die Form der sogenannten „Erlebnisdichtung“ im Stil des jungen Goethe zulässt. Problematisch erscheint diese Einordnung zunächst einmal angesichts von Günthers Lebensdaten, denn während zahlreiche Dichter der Frühaufklärung zugerechnet werden, die teilweise erheblich älter sind als der Schlesier Günther (so etwa Canitz, 1654 geboren oder Brockes, 1680 geboren), müsste Günther eindeutig ein Aufklärungsdichter sein. Doch wer sich Günthers Gedichte vornimmt und sich mit den Umständen seiner poetologischen Praxis vertraut macht, wird schnell merken, dass der Autor tatsächlich in ganz erheblichem Maße den Kontexten der barocken Dichtung von Opitz bis Hofmannswaldau folgt. Eine auch nur oberflächliche Lektüre wird aber dennoch feststellen, dass sich der Ton seiner Gedichte von denen seiner älteren Vorgänger nicht immer, aber doch sehr häufig, in einer ganz entscheidenden Weise unterscheidet. Wie das geschieht und wie dieses Faktum zu bewerten ist, wird wohl auch noch einige Jahre die Günther-Forschung weiter beschäftigen müssen.

Die gerne in der älteren, sehr oft hagiografischen, Günther-Literatur anzutreffende Grundhaltung, die Günther als Erlebnislyriker sehen möchte, hat dann auch zu einigen weniger erfreulichen Ergebnissen geführt. Der gegenwärtig wohl kenntnisreichste Günther-Forscher, Reiner Bölhoff, hat in seiner äußerst umfangreichen Bibliografie einige tausend dieser verehrenden Texte dokumentiert und in dem dazugehörigen Forschungsbericht, eine Darstellung, die an Breite und Genauigkeit nur wenig zu wünschen offen lässt, desillusioniert eingestanden, dass der weitaus größte Teil dieser nur in den seltensten Fällen wissenschaftlich zu nennenden Auseinandersetzungen mit dem Autor als überflüssig und für unser Verständnis wertlos zu betrachten ist.

So steht der bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts desolaten wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Autor eine in bemerkenswerter Kontinuität sich entfaltende verehrende Günther-Rezeption entgegen. Erst der Günther-Forscher Wilhelm Krämer konnte mit seinem Versuch, die Werke Günthers in wissenschaftlicher Form zu präsentieren, einen ersten Erfolg verbuchen. Allerdings ist seine 1930 bis 1937 erschienene sechsbändige Günther-Ausgabe erstens nie vollendet worden und zweitens, ähnlich wie bei seiner ausführlichen Günther-Biografie, leider ohne textkritischen Apparat publiziert worden. Die Barockforschung hat Krämers Ausgabe nach dem Kriege mangels anderer überzeugender Alternativen benutzt, aber es ist sehr schnell klar geworden, dass sie allenfalls quantitativen Wert in der umfangreichen Präsentation des Materials besitzt. Ihre editorischen Prinzipien waren fehlgeleitet, ihre textphilologischen Entscheidungen nicht selten ungeschickt oder falsch und die Abwesenheit des Apparates ließ von Beginn an deutlich werden, dass eine neue umfangreichere und kritische Ausgabe dringend erwünscht war.

Es hat allerdings recht lange gedauert, nämlich etwa 60 Jahre, bis Reiner Bölhoff, dem es zuvor bereits gelungen war, Krämers schwärmerische Günther-Biografie mit Hilfe des Autors, der seine Anmerkungen, die in der ersten Auflage nicht abgedruckt wurden, für einen Neudruck des Textes zur Verfügung stellte, zu einem wichtigen Forschungsinstrument werden zu lassen, eine textkritische Auswahlausgabe (1998) im Klassiker Verlag veröffentlichte. Bölhoff hat mit dieser verdienstvollen Ausgabe, die aber nur den geringeren Teil des Günther’schen Werkes umfasst, auf die besondere Situation des Werkes reagiert: Der weitaus größte Teil der Günther’schen Lyrik ist Gelegenheitspoesie, nicht selten im Auftrage eines Dritten, die dem Autor die nötigen Mittel zum Überleben bereitstellen sollten. Günther wurde deshalb sehr lange auch von seinen Verehrern nur teilweise, nämlich als Autor der Liebesgedichte wahrgenommen, wobei die Gelegenheitsdichtung als uninteressante Meterware gerne an den Rand gedrängt wurde – sie war ja ohnehin überhaupt erst seit der Krämer’schen Ausgabe sichtbar. So hat sich auch Bölhoff zunächst auf die für die Forschungstradition wichtigen Liebes- und Klagegedichte konzentriert, hat aber auch in bislang unübertroffener Auswahl die Gelegenheitsdichtung in seine Ausgabe miteinbezogen.

Mit dieser Ausgabe des Klassiker Verlags war nun allerdings die Aufgabe, eine möglichst vollständige, textkritisch solide und zureichend kommentierte Ausgabe des Gesamtwerks herzustellen, nicht erreicht, und so hat sich der Herausgeber der Aufgabe unterzogen, dieses Vorhaben in einer größeren Ausgabe auszuführen. Das erste Ergebnis liegt in den beiden angezeigten Bänden seit kurzem vor. Der erste Band, der auf vier Bände (und vermutlich ebenso viele Kommentarbände, sowie einer Quellendokumentation) angelegten Ausgabe ist erschienen und umfasst die Texte von 1710 bis 1715, insgesamt gut 350 Seiten Text. Dazu zählt im Übrigen auch das von Krämer nicht mehr berücksichtigte Theodosius-Drama, das Bölhoff bereits für seine frühere Auswahlausgabe ediert hatte. Auch in der Gliederung der Ausgabe hält sich Bölhoff an seine frühere Ausgabe, wenn er das Werk in drei Großgruppen „Religiöse Dichtungen“, „Dichtungen für die Respublica literaria“ und „Erotische Dichtungen“ einteilt. Die erste Gattung umfasst sowohl Leichencarmina als auch geistliche Lieder und Gedichte, die zweite Lob- und Glückwunschgedichte, Geleitgedichte und Freundschaftsgedichte, während die dritte Hochzeitsgedichte sowie galante und verliebte Gedichte umfasst. Angesichts der nicht einfachen editorischen Sachlage hat sich Bölhoff dazu entschieden, die Texte nach dem jeweils ersten vollständigen und zuverlässigen Textzeugen wiederzugeben, was konkret bedeutet, dass jedes Gedicht einzeln geprüft werden muss – anders als noch Krämer verfahren war, der sich auf die fragwürdige Gesamtausgabe des 18. Jahrhunderts berief.

Der Kommentarband der hier angezeigten Ausgabe ist naturgemäß durch seine für alle weiteren Bände wichtigen Grundinformationen zu Günther und den verwickelten Textüberlieferungen bis hin zur Verbreitung der Texte etwas umfangreicher geraten, als vielleicht gedacht. Etwas weniger als die Hälfte des Umfangs ist de facto dem textkritischen Apparat und den Erläuterungen gewidmet. Wer sich in vergleichender Absicht die Kommentare dieser Ausgabe anschaut, wird feststellen, dass sie relativ gesehen weniger erläuterndes Material präsentieren, als die frühere Auswahlausgabe; es ist dies zweifellos der Notwendigkeit geschuldet, sparsam mit dem Raum umzugehen, und so finden sich im Wesentlichen sprachliche und sich direkt auf das Gedicht beziehende historische Erläuterungen, während die Ausgabe des Klassiker Verlages deutlich allgemeinere Erläuterungen bietet. Wer die ältere Ausgabe benutzt, wird allerdings feststellen, dass Bölhoff mit dem gleichen Problem konfrontiert ist, wie alle anderen Kommentatoren auch: Je weiter man das Feld der Erläuterungen fasst, umso zufälliger müssen die tatsächlichen Stichworte werden, so dass man als Leser manches überflüssig findet und anderes dagegen vermisst. Hier hat sich der Herausgeber in der neuen Ausgabe eine deutliche, aber auch nachvollziehbare Grenze gesetzt. Im Großen und Ganzen kann sich Bölhoff aber auf den Bestand seiner vorangehenden Ausgabe stützen, den er naturgemäß durch alle nicht abgedruckten der betreffenden Zeit ergänzt. Die Schwierigkeiten, die bei der Bestimmung des genauen Zeitpunkts der Abfassung bei zahlreichen Gedichten Günthers begegnen, sind oftmals nicht in befriedigender Weise aufzulösen; an manchen Stellen wird man zweifeln können, überall aber bietet Bölhoff gute Gründe für seine Entscheidungen in genauer Abwägung zu den von der älteren Forschung vorgeschlagenen Daten. Die Ausführungen des Kommentarbandes zur Textüberlieferung zu früheren Editionen und zu dieser Ausgabe sind in aller Regel knapp und hilfreich. Lateinische Texte von Günther erscheinen im Textband mit einer modernen deutschen Übersetzung, so dass auch dieser Bereich gut erschlossen ist.

Alles in Allem haben wir es bei dieser Ausgabe mit der ersten durchgängig verlässlichen und vollständigen Ausgabe der Texte Günthers für den Zeitraum bis 1715 zu tun. Textpräsentation, editorisches Beiwerk und Kommentar sind auf dem Stand der Forschung, den Bölhoff zu guten Stücken selbst herbeigeführt hat. Schwerwiegende Probleme lassen sich bei der Ausgabe nicht erkennen, auch kleinere Mängel geraten schnell ins Geschmäcklerische, so gesteht der Rezensent seine Abneigung der Arialtype für den Kommentarband, und die Preisgestaltung, die bei dem Hochpreisrekordhalter De Gruyter mit 229 Euro sogar „relativ moderat“ ausfällt, wird private Leser weitgehend vom Erwerb dieser empfehlenswerten Bände abhalten. Die Günther-Forschung wird sie als endlich erreichten Standard begrüßen und auf das Erscheinen der weiteren Bände gespannt sein.

Titelbild

Johann Christian Günther: Textkritische Werkausgabe in vier Bänden und einer Quellendokumentation. Band I Dichtungen der Schuljahre 1710-1715 Teil 1 Texte.
Herausgegeben von Reiner Bölhoff.
De Gruyter, Berlin 2013.
794 Seiten, 229,00 EUR.
ISBN-13: 9783110283921

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