Schreiben als Schutzschild in schwierigen Zeiten

Über Peter Schneiders Roman „Die Lieben meiner Mutter“

Von Norbert KugeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Norbert Kuge

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Peter Schneider, renommierter Autor und Essayist, einer der bekannten ehemaligen 68er, hat einen Roman geschrieben, in dem er sich erstmals intensiv mit seiner Familiengeschichte auseinandersetzt, genauer mit dem Leben seiner Mutter. Lange hat er in einem Schuhkarton Briefe seiner Mutter bei sich verwahrt, sie bei jedem Umzug mitgenommen, obwohl er die Briefe, die in Sütterlinschrift verfasst sind, nicht lesen konnte. Er vermochte nur einige Worte zu entziffern, zu wenig, um damit etwas anzufangen. Hinzu kam eine Scheu, sich mit seiner Familiengeschichte aus dem „Dritten Reich“ auseinandersetzen. Diese rückwärtsgewandte Sicht war für ihn und seine 68er Mitstreiter lange Zeit verpönt. Man beschäftigte sich lieber mit aktuellen gesellschaftlichen Verhältnissen und der Utopie.

Erst private Schicksalsereignisse wie das Scheitern seiner Ehe weckten jedoch Schneiders Interesse an diesen Briefen und an seiner früh verstorbenen Mutter. Hinzu kam ein lange verdrängtes dunkles Kapitel aus der eigenen Kindheit. Beide Aspekte und vielleicht eine Altersmilde brachten ihn dazu, die Briefe von einer Bekannten übersetzen zu lassen und sich mit dem Inhalt, mit dem Leben der Mutter und seiner Kindheit, auseinanderzusetzen. Es ist ein ihn überraschendes, teilweise verstörendes Leben der Mutter, das sich ihm aus den Briefen erschließt. Die Mutter, jung verheiratet mit dem Dirigenten und Komponisten Heinrich, bekommt rasch hintereinander 4 Kinder und geht anfangs in der Rolle der Mutter und Ehefrau auf: Alles also ganz im Sinne der damaligen Ideologie des Bürgertums und der Nazis.

Ihr Vater, ein ehemaliger Reichstagsabgeordneter der SPD, missbilligt jedoch diese Verbindung mit dem mittellosen Komponisten, und sie wird Zeit ihres Lebens ein gespanntes Verhältnis zu diesem Vater haben. Nach einer Begegnung mit dem Freund des Mannes, dem Opernregisseur Andreas, verfällt sie auf der Stelle in Liebe zu diesem Mann. Eine Amour fou und zermürbende Ménage-à-trois beginnt. Von Beginn an geht die Mutter ganz offen mit dieser Beziehung um, verheimlicht nichts, auch nicht der Familie. Allerdings ist es auch eine Liebe auf Distanz, denn die beiden Männer sind kaum zu Hause, sondern meist mit Engagements in fernen Städten im Reich beschäftigt oder, während des Krieges, zu künstlerischen Einsätzen bei der Wehrmacht an der Front unterwegs.

So spielt der Vater sogar einmal in unmittelbarer Nähe der Wolfschanze, was Schneider noch heute wütend macht, zumal dies in Uniform geschieht und die Mutter ihm in einem Brief zu der schicken Unform gratuliert. Wegen dieser berufsbedingten Trennung sind Briefe daher für die Mutter die einzige regelmäßige Verbindung zu beiden Männern. Vor allem zu dem Geliebten, mit dem sie sich nur selten, meist in Hotels, treffen kann. In diesen Briefen steigert sie sich in einen wahren Liebeswahn, denn der geliebte Mann gibt ihr deutlich zu verstehen, dass er keine Zukunft mit ihr sieht. Weder will er seine Frau verlassen, noch ein Leben mit ihr und den Kindern führen. Gegen diese Lieblosigkeit schreibt Schneiders Mutter verbissen an, erniedrigt sich dabei zum Teil, was den Sohn, der aus diesen Briefen in Ausschnitten zitiert, manchmal mit Unwillen reagieren lässt.

Was trieb die Mutter in diese offensichtlich aussichtslose Liebesgeschichte? Peter Schneider mutmaßt, dass sie damit gegen ihre Depression kämpfte und sich quasi einen Panzer schaffte, um überhaupt das Leben als alleinerziehende Mutter im Krieg zu meistern und zu ertragen. Dies ist umso mehr nötig, als sie oft krank ist und in Krankenhäusern behandelt werden muss. Was diese Frau für einen Überlebenswillen und für eine Kraft besitzt, erahnt man, wenn man sich die Umstände und Entbehrungen dieses Lebens während des Krieges vor Augen führt – insbesondere ihre Flucht mit den Kindern aus dem fernen Königsberg über Dresden bis ins väterliche Haus nach Grainau bei Garmisch-Partenkirchen.

So wie sie um ihre Liebe zu Andreas kämpft, so kämpft sie auch um ihr Überleben und das ihrer Kinder. Diese Erlebnisse während des Krieges werden von Peter Schneider ganz behutsam und ohne Kritik aus dem heutigen Wissen über diese Zeit erzählt, obwohl er selbst nur wenige Erinnerungen an diese Zeit hat. Ein anderer Strang des Romans ist ein Kindheitserlebnis, ja, man kann sagen, ein Kindheitstrauma. Als Kind verfällt er dem 15-jährigen Nachbarjungen Willi, der ihn mit dem Versprechen, dass der Erzengel Michael ihm das Fliegen beibringen werde, zum Stehlen und Lügen verleitet. Dieser Engel verlange aber Geld und Lebensmittel für seine Dienste, so dass Peter diese dann zu Hause stiehlt und Willi übergibt.

Auch die ältere Schwester wird in den Bann dieses Willi gezogen, was der Bruder aber erst später erkennt. Als die Mutter diese wahnhafte Abhängigkeit, die Diebstähle und die offensichtlichen Lügen bemerkt, verprügelt sie ihn und verbietet ihm den Umgang mit Willi. Es ist jedoch zu spät, der Sohn wendet sich von der Mutter ab. Ist es bei der Mutter die Abhängigkeit vom Geliebten, so ist es bei dem Jungen die Abhängigkeit von dem Älteren und dem Wunsch, fliegen zu können. Obwohl alle Flugversuche scheitern, gelingt es Willi lange Zeit, die Schuld dafür den Umständen oder dem Jungen zu geben. Obwohl der kleine Peter bereits nach einiger Zeit begreift, dass die Geschichte mit dem Erzengel nicht stimmen kann, gelingt es ihm trotzdem nicht, sich von Willi zu lösen.

Dies gelingt erst viel später. Diese nur dunkel bewusste und verdrängte Kindheitserfahrung lässt Peter Schneider staunen, wie leicht man manipuliert werden kann und gleichsam einem Wahn hinterherläuft. Diese nachforschenden Erinnerungen über die Kindheitsepisode und die brieflichen Informationen über das Leben der Mutter mit den beiden Männern und der restlichen Familie bestimmen das Buch. Weil der Fokus Schneiders ganz auf der Mutter liegt, erfährt man wenig über die doch rätselhafte Toleranz des Vaters, der auch noch gleichzeitig Briefe mit dem Liebhaber Andreas über die Mutter wechselt. Auch über den Liebhaber Andreas, anders als der Vater Mitglied der NSDAP, der nach dem Krieg Karriere als Intendant und Opernregisseurin Hamburg macht, wird wenig berichtet.

Schneider ist sichtlich irritiert, dass die Mutter sich so lange Zeit diesem doch eher unsympathischen Mann kompromisslos ungeordnet hat. Letztlich bleibt ihm die Mutter doch ein Rätsel, das er nicht zu lösen vermag. Nur selten drückt ein Kommentar Schneiders eine Missbilligung über diese doch aussichtslose, obsessive Beziehung der Mutter aus. Auch dass die Mutter später noch zu weiteren Männern Beziehungen unterhält, erfährt der Sohn erst aus den Briefen. In seinen eigenen Erinnerungen tauchen diese Männer nicht auf. Der siebzigjährige Sohn steht am Ende nur staunend, bewundernd, aber auch irritiert vor der Lebensleistung der Mutter. Vor allem beeindruckt ihn ihre offensichtliche Schreibbegabung. Denn in vielen Briefen gelingen der Mutter wunderschöne poetische Sätze und Gefühlsäußerungen, obwohl andere Sätze wiederum nah am Kitsch sind und sie sich darin als eine fast zur Hysterie neigende Frau präsentiert.

Das Schreiben war ihr Panzer, so interpretiert er es, der sie vor dem Krieg und allen schwierigen Umständen schützte. Als dann nach dem Krieg keine Aussicht mehr auf eine Fortführung der Verbindung bestand und damit auch die brieflichen Kontakte entfielen, starb sie geschwächt und ausgebrannt im Alter von nur 41 Jahren. Der achtjährige Peter musste von nun an ohne die beschützende Mutter aufwachsen. Peter Schneider hat mit diesem Roman ein beeindruckendes Porträt der Mutter geliefert und ihr ein kleines Denkmal gesetzt. Es gelingt ihm mit diesem Roman, Einzelschicksale mit konkreten geschichtlichen Ereignissen im „Dritten Reich“ zu einem interessanten und behutsam erzählten Roman zu verknüpfen. Was kann man mehr von einem solchen autobiografischen Zeugnis erwarten?

Titelbild

Peter Schneider: Die Lieben meiner Mutter.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2013.
300 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783462045147

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