Spiel mir den Tanz der Finsternis
Thomas Stangl brilliert mit seinem vierten Roman „Regeln des Tanzes“ über Erinnerung, Kunst, Scheitern und die Suche nach dem richtigen Leben
Von Christopher Heil
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseNach dem viel gelobten Roman „Was kommt“, der 1937 in Wien und Ende der 1970er-Jahre spielt, wendet sich Thomas Stangl in „Regeln des Tanzes“ nun der jüngeren österreichischen Geschichte und der nahen Zukunft zu. Sein vierter Roman handelt von Figuren, die sich am existenziellen Scheideweg befinden und nach krisenhaften Situationen auf der Suche nach dem richtigen Leben sind. Die Entscheidung liegt an ihnen: „Du kannst dir aussuchen, wer du bist, nichts hält dich“.
Wieder einmal ist der Schauplatz Wien, und der in zwei miteinander kunstvoll verflochtene Zeitebenen und in drei Handlungsstränge angelegte Roman setzt am 4. Februar 2000 ein: „Zwei bösartige Gnome wie aus einem schlechten Märchen haben mit einer Bande von Faschisten und Gaunern die Macht im Land übernommen“. Eine lange Zeit namenlos bleibende Anglistik-Studentin beteiligt sich an den Donnerstagsdemonstrationen, um gegen die „aus Rechtsradikalen und Opportunisten zusammengemischte neue Regierung“ ein Zeichen zu setzen und Widerstand zu leisten. Ihre Hoffnung auf einen magischen Umsturz und die vollkommene Freiheit vermischen sich mit Resignation und dem Gefühl der Fremdheit in der Masse und im eigenen Leben: „Sie existiert außerhalb von sich selbst, irgendwo in der wirklichen Welt, die ein geträumter Film ist“. Sie ist alleine, und dann verschwindet auch noch ihre jüngere Schwester Mona, mit der sie gemeinsam in einer Wohnung lebt und in deren Tanzschritte sie sich später einfinden wird.
Waren Politik und privates Leben für die demonstrierende junge Frau untrennbar miteinander verwoben, wird „Ankoku Butoh, das heißt Tanz der Finsternis“ – ein Ausdruckstanz und freies Tanztheater mit japanischen Wurzeln – ihre Ausdrucksform: „Man kann tanzen lernen, vielleicht kann man auch lernen, seinen Körper auszutauschen, die Vergangenheit zu löschen.“ Ist das die vollkommene Freiheit? Die Schwerelosigkeit der Kunst des Tanzes, in der es „kein Außen mehr“ gibt? Die „Regeln der Gesellschaft hinter sich lassen. Völlig anderen Regeln folgen“?
Mona, von der der zweite im Jahr 2000 spielende Handlungsstrang ausgeht, hat sich urplötzlich abgesetzt. Es ist nicht das erste Mal, dass sie spurlos von der Bildfläche verschwindet, um „Distanz zu zeigen, eine Grenze um sich zu ziehen, Bereiche zu schaffen, zu denen niemand Zugang haben durfte; ihr Leben in Bereiche zu zerteilen, zwischen denen es keine Verbindung gab“. Sie entflieht der Politik und der Gesellschaft, letztlich dem Leben selbst und entscheidet sich für einen radikal individuellen Weg, der in einem acte gratuit endet – „endlich, sagt sie sich“ und entschließt sich zur „entscheidende[n], totale[n] Geste der Ablehnung und Bestätigung“.
Der dritte Akteur im Bunde ist der 64 Jahre alte Dr. Walter Steiner, der sich im Jahr 2015 in einer existenziellen Krise befindet. Durch einen zufälligen Fund von zwei Filmdosen nimmt sein eingefahrenes Leben eine Wende, und die Verstrickungen der verschiedenen Handlungsstränge offenbaren sich. Von der Wissenschaft hat der gutaussehende Doktor der Philosophie – wie Cary Grant 1965 sehe er aus – genug, und seine Frau Pre verlässt ihn. Er lässt die alten Filmrollen entwickeln, vertieft sich in die Welt der Fotografien und möchte Nachforschungen über die zwei darauf abgebildeten Mädchen anstellen: „Er hätte alles aufgegeben für diese Fotos und wegen dieser Fotos, aber er hat keine Ahnung, warum.“
Eines der Mädchen muss doch die im Jahr 2000 verstorbene Monica Stanek sein, deren Grabstein eine der Fotografien zeigt, oder nicht? Aber bei seiner Recherche hat Steiner ein Problem: „Wer vor mehr als zehn Jahren gestorben ist, der ist noch mehr gestorben als jemand, der heute stirbt und endlose Spuren in der endlosen Parallelwelt des Netzes hinterlassen hat.“ Und doch verknüpft sich schließlich alles: Die Musik des Zufalls begleitet Walter Steiner und führt ihn zu einer Tänzerin, „deren Name klingt wie eine Automarke, der Gott einer halbgaren halböstlichen Religion, eine Verzweiflungsinternetfirma“.
Stangl gelingt es, Spannung zu erzeugen, indem er den existenziellen Fragen der Figuren, deren Wahrnehmung, dem Sichtbaren und Unsichtbaren, den Blickwinkeln auf und dem Eintauchen in Bilder und Momente, den Fotografien und Spuren sowie nicht zuletzt dem „Tanz der Finsternis“ Raum gibt und alles in ein imposantes Finale münden lässt. Je näher man an den Schluss dieses beeindruckenden Romans gelangt, so sehr wünscht man sich, dass er nicht enden möge. Einfach von vorne beginnen und noch geschärfter all die Feinheiten einsaugen, lohnt sich gewiss. Mit „Regeln des Tanzes“ spielt Stangl hinsichtlich der Themen Zeit, Erinnerung, Wahrnehmung und Performancekunst in einer Liga mit Don DeLillos „Körperzeit“.
Auch in seinem vierten Roman verhandelt der Autor viele bekannte Muster wie das Verflechten von Zeit- und Handlungsebenen, das Hinterlassen und Auflesen von Spuren, die gespenstische Präsenz der Anderen – Verstorbenen und Lebenden, Spiegelbildern und Doppelgängern –, die Macht des Zeichens, das Erinnern und Vergessen, das Verschieben von Bedeutungen und unwirklichen Wirklichkeiten sowie das Auflösen der Zeit: „Dieses Gewebe, das man Zeit nennt, lässt sich einfach auflösen. Es kommt nur auf den richtigen Blick an.“ Das alles sind die Pfeiler des literarischen Schaffens Stangls.
Der Rhythmus der Sprache und die gelungenen Wechsel der Erzähltempora geben dem Roman seine besondere Note. Erneut verwendet der Autor größtenteils das Präsens als Repräsentationsmodus, zeigt aber auch das, was gewesen sein wird. Zudem changiert die Erzählinstanz vom ‚sie/er‘ immer wieder in die Du-Form, wodurch es gelingt, verschiedene Dimensionen und Abstufungen von Nähe und Distanz zu schaffen. Wie durch einen ständig neu justierten Zoom einer Kamera – Bilder und Blickwinkel spielen ohnehin eine gewichtige Rolle in diesem Roman – erlebt der Leser das Geschehen.
Stangl hat einmal mehr ein ästhetisches Konstrukt geschaffen, das mit allen Regeln der Kunst tanzt. Ein Zitat aus dem Roman beschreibt Stangls Literatur und das neue Buch selbst am treffendsten: „Es gibt eine spezielle Art von Schwere, die nichts als Grazie ist; es gibt eine Grazie, die Schwere in Leichtigkeit verwandelt“. So schwer die Tanzschritte der Stangl’schen Prosa auch sein mögen – so filigran, intelligent, elegant, grazil, sensibel und atemberaubend sind sie gleichermaßen.
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