Tristanische Dialektik

Michael Seggewiß sucht nach der Synthese von Natur und Kultur in Gottfrieds „Tristan“

Von Stefan SeeberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Seeber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Natur ist in mittelhochdeutscher Dichtung oft das Andere, das dem Bereich der Kultur gegenübersteht und das man meidet oder aber zu zivilisieren versucht. Gegen diese Dichotomie setzt Michael Seggewiß in seiner Münsteraner Dissertation von 2008 einen differenzierten Naturbegriff und die Idee einer Synthese von Natur und Kultur in Gottfrieds „Tristan“. Er sieht einen dialektischen Ausgleich der bei Gottfried bewusst miteinander verwobenen Sphären, der den Dichter in die Nähe des Gedankenguts der Neuplatoniker in Chartres rückt. Ziel der Arbeit ist es, auf dieser Basis die Minneproblematik in ihrer Spannung zwischen Naturmacht und Ideal zu erhellen und ebenfalls dialektisch aufzulösen.

Seggewiß arbeitet sein Thema systematisch ab; er stellt Arbeitsdefinitionen der Begriffe Natur und Kultur vor, zeigt die Gewichtung der beiden Bereiche bei Bernardus Silvestris, Alanus ab Insulis und Johannes de Hauvilla auf und geht neben Gottfrieds auch auf die anderen Bearbeitungen des „Tristan“-Stoffs im Mittelalter ein – diese Seitenarme nehmen knapp 60 Seiten Platz ein, gehen aber wegen ihres Überblickscharakters notwendigerweise nicht allzu sehr in die Tiefe (dies gilt vor allem für die Analyse der anderen „Tristan“-Dichtungen). Ein wenig verloren steht am Ende ein vergleichender Ausblick auf den „Rosenroman“, die „Minnelehre“ Johanns von Konstanz und die „Minneburg“, die allesamt, ebenso wie Thomas, Eilhart, Berol und die Gottfried-Fortsetzer das Niveau des Straßburger Meisters nicht erreichen: Der „Tristan“ hat in seiner Synthese von Natur und Kultur nach Seggewiß ein Alleinstellungsmerkmal, das ihn auch als intellektuelles Elitenphänomen auszeichnet. Die These einer neuen Aufstellung des Naturbegriffs bei Gottfried ist sehr plausibel und ihre Herausarbeitung ist das Verdienst der Arbeit.

Der Teufel allerdings steckt im Detail ebenso wie in der Zielsetzung, ein neues Licht auf die Minneproblematik zu werfen. Deutlich wird die Schwierigkeit gleich am Anfang der Arbeit, wenn es um Begriffsdefinitionen geht: Natur wird in natura naturata, natura naturans und Natur als Wesensart differenziert (letztere ist im Übrigen die einzige Verwendungsform des Terminus, die sich im „Tristan“ nachweisen lässt) und detailliert behandelt. Kultur hingegen wird mit Clifford Geertz als Symbolsystem, als kommunikativer Code zur Verständigung begriffen, der durch den eher oberflächlichen Rekurs auf die höfische Kultur kaum eine mediävistische Pointierung erfährt. Das führt in der Folge zu einer „Naturlastigkeit“ der Argumentation, die bisweilen auch den Blick auf den Text verzerrt und deren der Kultur gewidmete Stränge kaum über bereits von der Forschung Erarbeitetes hinausgehen. Eine Verzerrung findet sich etwa, wenn blüemen als Ausgleich zwischen Kultur und Natur erarbeitet, die rhetorische Fundierung des Phänomens aber vergessen wird. Solche kleinere Unregelmäßigkeiten der Argumentation gibt es immer wieder, etwa in der Gleichsetzung von wild und unhöfisch mit natürlich, die Seggewiß für Tristans Gegner in Anschlag bringt. Hier werden differenzierte Figurenzeichnungen vereinfacht und wird Wesentliches (Anderweltliches wie auch Hofkritik) um der Gleichsetzung willen ausgeblendet.

Schwerer als solche Reduktionen wiegen zwei Dinge: Zum einen wechselt Seggewiß häufig unvermittelt zwischen den unterschiedlichen Vorstellungsweisen von Natur, die er einleitend aufgeführt hat, so dass natura zu einer Art Allanwendbarkeit auf den Text hingeführt wird, da sie situativ immer neu adaptiert werden kann. Dadurch verliert die Argumentation an Überzeugungskraft und die These an Konsistenz. Zum andern, und hier sehe ich das zentrale Problem der Arbeit, verknüpft Seggewiß seine Untersuchung zu Natur und Kultur sehr unvermittelt mit einer Analyse der Minne im „Tristan“. Es fehlt eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit der Semantik der Minne ebenso wie mit der Problematik des Minnebegriffes im „Tristan“ selbst. Minne und Liebe werden unreflektiert als Synonyme gesetzt; eine Einbettung in die gängigen Diskurse der Forschung (Codierung von Emotionen, kulturanthropologische Anbindung, Frage nach rhetorischer Überformung etc.) unterbleibt.

Die Folge dieser Vereinfachung ist schwerwiegend: Minne steht bei Gottfried nicht so sehr zwischen Kultur und Natur, sondern eher in der Spannung zwischen Freude und Leid, Verstand und Gefühl etc. – diese Dichotomien muss Seggewiß mit seinem Natur-Kultur-Schema zusammenbringen, was oft nur mit Mühe gelingt. Zudem ist der Minnebegriff auf der Ebene der Erzählerrede nicht einfach mit dem Minnebegriff der Handlung in eins zu setzen. Dieser Aufspaltung des Begriffes in unterschiedliche Bedeutungsspektren wird die Analyse mit ihrer situativ wechselnden Festlegung des ambiguen Minnebegriffs nicht gerecht, den alles relativierenden Fragmentschluss bezieht Seggewiß zudem nicht in seine Überlegungen mit ein. Problematisch erscheint mir ebenfalls die forcierte Anbindung Gottfrieds an die neuplatonische Philosophie mit ihrer Aufwertung einer prokreativen Sexualität als Teil der Natur – denn auf die Zeugung von Nachkommen hat es diese außereheliche Verbindung gerade nicht abgesehen, sie ist eine allein auf die Liebenden konzentrierte, im vollen Wortsinn unsoziale Angelegenheit. Die Verbindung Gottfrieds zur Schule von Chartres ist nicht zu beweisen; Seggewiß verliert über diesen erzwungenen Konnex einige andere, wesentlich interessantere Fragen aus dem Blick, etwa die danach, wie Gottfrieds Kunstbegriff als imitatio und aemulatio naturae sich mit der Ästhetisierung des Naturbegriffs zusammenfügen lässt, die der „Tristan“ so ostentativ durchexerziert und um die Minneästhetik ergänzt.

Insgesamt ist festzuhalten, dass die Arbeit durchaus die Sphären der Natur und Kultur im „Tristan“ aufweist und einen neuen Naturbegriff bei Gottfried plausibel zu machen vermag, der nach Ausweis des abschließenden Ausblicks auf andere Texte allerdings nicht traditionsbildend gewirkt hat. Neben dieser wichtigen Erkenntnis jedoch wird viel Bekanntes neu geboten, vor allem in den umfangreichen kommentierten close-readings im letzten Drittel des Textes. Die zentrale, von Seggewiß selbst aufgeworfene Frage nach dem Ort der Minne im Spannungsfeld der miteinander verwobenen Sphären von Kultur und Natur kann das Buch aber nicht beantworten, vielleicht auch deshalb, weil Gottfrieds Terminologie zu vieldeutig und sein Dichtungskonzept zu komplex ist, als dass eine auf Synthese ausgerichtete Sichtweise dem „Tristan“ gerecht werden könnte.

Titelbild

Michael Seggewiß: "Natur" und "Kultur" im Tristan Gottfrieds von Straßburg.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2012.
256 Seiten, 35,00 EUR.
ISBN-13: 9783825360894

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