Was ist eigentlich Normal?

Der Band zum XX. Anglo-German Colloquium über Text und Normativität im Mittelalter

Von Racha KirakosianRSS-Newsfeed neuer Artikel von Racha Kirakosian

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer immer noch behauptet, dass die historische Literaturwissenschaft Theorien gegenüber feindlich gesinnt sei, sieht mit dem Erscheinen dieses Bandes alt aus. Im Herbst 2005 traf sich ein Teil der internationalen Vorhut der germanistischen Mediävistik in Oxford, um sich in einer Reihe von Vorträgen über Normativitäts-Konzepte in ihrer historischen Tiefendimension auszutauschen. Entstanden sind 23 Aufsätze mit verschiedenen Schwerpunkten, die vom breit formulierten Oberthema erfolgreich zusammengehalten werden.

Allein die Ausführungen zur höfischen Epik liefern in ihrer Bandbreite ein flächendeckendes und reiches Angebot. Silvia Reuvekamp konkretisiert das Verhältnis von literarischem Entwurf und gesellschaftlicher Realität in der Figurenhandlung des höfischen Romans. Die Relation zwischen dem Höfischen und dem Mythischen in den Artusromanen Hartmanns beschäftigt Bruno Quast. Er rückt die Verwendung spezifischer Erzählmodelle in den Mittelpunkt. Aus ästhetischer Sicht nähert sich Corinna Laude dem Konzept von Körperschönheit. An ausgewählten Frauenfiguren aus dem „Straßburger Alexander“ und hauptsächlich dem „Eneasroman“ Heinrichs von Veldeke zeigt sie, „dass Schönheit in der profanen Dichtung durchaus nicht immer eine positive kulturelle Norm darstellt“. Wie im „Tristan“ Gottfrieds von Straßburg das Exzeptionelle in der Spannung zur Kontingenz eine ambivalente Dynamik entwickelt, wird von Susanne Flecken-Büttner ausgiebig dargelegt. Problematisierend untersucht Hans Joachim Ziegeler das Feudalsystem im Romananfang des Prosa-„Lancelots“. Er kommt zu dem Ergebnis, dass Herrschaftsnormen im Text kasuistisch organisiert sind. Mit einer literarischen Kategorie innerhalb des „Parzival“ Wolframs von Eschenbach setzt sich Martin H. Jones auseinander, der den Brief von König Gramoflanz and Itonje im Zusammenhang mit der didaktischen Literatur des 13. Jahrhunderts, namentlich mit dem „Welschen Gast“ Thomasins von Zerklære, analysiert und so das charakteristische Minnekonzept neu definieren kann.

Das Schnittfeld von Text und Normativität weist fast automatisch auf didaktische Literatur hin, deren Bedeutung in vielen Beiträgen herausgehoben wird. Sie steht im Zentrum von Gerhard Wolfs Aufsatz, welcher mit der Frage nach paradoxer Normativität betitelt ist. Dahinter verbergen sich drei Fallstudien, die das Spannungsverhältnis von geistlichem Wahrheitsanspruch zur narrativen Umsetzung und zur lebensweltlichen Geltung von Normen exemplifizieren. Bernt Bastert stellt ein Lehrgedicht, den „Winsbecke“, vor und diskutiert seine Normbegründung innerhalb einer rhetorischen Tradition.

Eine Brücke zwischen der höfischen und der geistlichen Literatur schlägt Stefanie Schmitt, die nach gemeinsamen narrativen Techniken sucht und in dreierlei Hinsicht fündig wird: Personenregie, Raumregie und das Erzählen in Szenen öffnen die Grenzen zwischen der Welt der legendarischen und biblisch-apokryphen Dichtungen und der des höfischen Romans. Henrike Lähnemanns Beitrag ist der einzige völlig der geistlichen Sphäre verschriebene. Darin geht es um die Andachtsanweisungen in den spätmittelalterlichen Orationalien der Medinger Nonnen und deren „Normvermittlung im Zusammenspiel von Wort, Bild und Musik“. Lähnemann macht deutlich, dass der lokale Gebrauch der Texte mit der Observanzbewegung zusammenhängt.

Drei besonders theorieorientierte Beiträge überzeugen mit Fallstudien, die anschauliches Material bieten. Bent Geberts Beitrag über die Poetik der Tugend orientiert sich am anthropologischen Habitus-Konzept Bourdieus. Gebert erprobt die theoretische Diskussion am mittelhochdeutschen „Gregorius“ Hartmanns von Aue und am „Welschen Gast“ Thomasins. Mit den Gesprächsnormen im „Welschen Gast“ befasst sich Nine Miedema, wenn sie die theoretischen Kommunikationslehren in der höfischen Epik mit diskrepanten Gegenmodellen konterkariert und daraus den didaktischen Wert für soziale Normen ermittelt. Eine ebenfalls erfolgreiche und überzeugende Liaison von Theoriegehalt und Relevanz für das literaturwissenschaftliche Arbeiten liefert Almut Schneider, die den Sprachklang als Moment der Legitimierung und Authentifizierung normativen Sprechens vorstellt und dafür mittelalterliche Musiktheorien beleuchtet.

Auf Spruch- und Lieddichtungen konzentrieren sich Christoph Huber, Markus Stock und Annette Volfing. Huber bespricht die Problematik lyrischer Normbildung im frühen Minnesang und in der Minnekanzone und kommt zu dem Schluss, dass eine „polyphon inszenierte Normbildung“ bewusst eingesetzt wird. Die Formkunst des Minnesangs ist auch ein Thema für Stock, dessen Beispiele sich aus dem Repertoire Gottfrieds von Neifen und Rudolfs von Ems speisen. Die Betonung in dieser Studie liegt auf dem Sprachklang und der „Spannung von Präsenzeffekten und Sinnstiftungsaktivitäten“ als Grundlage für die „Autorität des Wortes“. Volfing illustriert eine Funktionsbeschreibung der Geschlechternormen mit zahlreichen Beispielen, die nicht allein aus der Spruchdichtung stammen. Mit terminologischer Genauigkeit untersucht sie die normbildenden Implikationen des Gegensatzpaares wîp (gute Frau)-unwîp (schlechte Frau), wobei die Konstruiertheit von gender-Rollen in ihrer linguistischen Natur als poetologisch ausschlaggebend herauskristallisiert wird.

Im Gliederungsabschnitt zu Norm und Antinorm sind drei Beiträge gruppiert, die die Konstruktion von Gegenwelten erörtern. Soziale Funktionen von Komik werden von Elizabeth A. Andersen mit dem didaktischen Anspruch des Lachens im Schwankzyklus des „Pfaffen Amis“ behandelt. Ähnlich, doch mit verschobenem Akzent auf Autorschaftskonzepte, fragt Monika Schausten nach der Relation von gesellschaftlicher Normierung und Weltordnung. Mit einer Figurenanalyse des „Ring“ von Heinrich Wittenwiler weist sie auf eine Metaebene im Text hin, wo es „nicht mehr primär um die bloße Vermittlung höfisch-pragmatischer Verhaltensvorschriften“ zu gehen scheine, sondern vielmehr um die Bedingungen einer erfolgreichen Vermittlung. Karina Kellermann widmet sich den Kleindichtungen des deutschen Mittelalters und ermittelt das Spiel mit dem Topos der verkehrten Welt, was sie an der Lügendichtung als Verkehrung poetischer Prinzipien demonstriert.

Mehrere Aufsätze eröffnen den zeitlichen Rahmen auf die Frühe Neuzeit, so etwa Mark Chincas Arbeit zur Normenvermittlung im Münchener Eigengerichtsspiel von 1510. Die beiden letzten Beiträge des Bands erweitern den transepochalen Fokus um den medialen Aspekt: Martina Backes verbindet den thematischen Inhalt zum sozialen Handeln in Jörg Wickrams Nachbarroman von 1556 mit dem grafischen Layout früher Druckausgaben, und Jan Cölln bespricht humanistische Bildvorstellungen von Fortuna anhand der ins Deutsche übersetzten Werke Enea Silvio Piccolominis und Petrarcas. Damit ist der Bogen zum Eingangsbeitrag von Nikolaus Henkel gespannt, der sich mit Sebastian Brants Wertevermittlung im „Narrenschiff“ auseinandersetzt. Im ausklingenden Mittelalter angesiedelt (um 1500), werden die bildungs- und kulturgeschichtlichen Voraussetzungen für normative Diskurse hervorgehoben.

Die Gliederung des Bandes ist an theoretischen Fragestellungen orientiert, was an dem Anspruch der Herausgeber gemessen werden kann, neue Spielräume im aktuellen Forschungsfeld zu erschließen. Die Abschnitte lehnen sich an diskursive Debatten an und laden so dazu ein, die einzelnen Untersuchungen in größeren Zusammenhängen nachzuvollziehen. Das Anglo-German Colloquium als zentrale Institution der Altgermanistik hat sich mit diesem Band einmal mehr als fruchtvolles Unternehmen für die Forschung erwiesen.

Titelbild

Franz-Josef Holznagel / Elke Brüggen / Almut Suerbaum / Sebastian Coxon (Hg.): Text und Normativität im deutschen Mittelalter. XX. Anglo-German Colloquium.
De Gruyter, Berlin 2012.
500 Seiten, 129,95 EUR.
ISBN-13: 9783110280043

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch