Vom Wert und Unwert literarischer Leistungen

Ein interdisziplinärer Sammelband informiert über Plagiat, Fälschung und Urheberrecht

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Skandal um die Enhüllungen des Whistleblowers Edward Snowden, welche die umfassenden Datenspeicherungen verschiedener Geheimdienste bekannt machten, vergegenwärtigte einmal mehr den systemischen Charakter des Internets: Es basiert auf dem Grundsatz der digitalen Kopie. Oder, in einer Paraphrase von Philipp Theisohns „unorigineller Literaturgeschichte“ des Plagiats: Das Internet sei der plagiarische Raum schlechthin, so dass in ihm strenggenommen kaum noch ein spezifisches Plagiat möglich sei, weil die gesamte digitale und virtuelle Welt des World Wide Web ohnehin auf dem Sampling-Prinzip von Copy and Paste fuße und somit als globale „Beflügelung der Plagiatautorschaft“ wirke.

Dass dies unter anderem auch der amerkanischen National Security Agency (NSA), den britischen Government Communication Headquarters (GCHQ) und dem deutschen Bundesnachrichtendienst (BND) aufgefallen ist, sollte nicht weiter verwundern. Wo im Alltag eine Mail leicht in Kopie an Dritte weiterleitbar ist, ohne dass der Absender davon etwas ahnt, kann man, wenn entsprechende Speicherkapazitäten vorliegen, natürlich auch gleich annähernd die gesamte Kommunikation einer Gesellschaft duplizieren und maschinell durchmustern lassen. Zumindest, solange es das politische System ermöglicht, bestimmte technische Knotenpunkte anzuzapfen, über die solche Informationsflüsse weitergeleitet werden – und solange die Bürger ihre Daten bedenkenlos gigantischen Monopolisten wie Microsoft, Apple oder Facebook übermitteln, welche die akkumulierten Massen persönlicher Profile ihrer Kunden wiederum bereitwillig an interessierte staatliche Dienste weiterzugeben scheinen.

Dabei handelt es sich bekanntlich um milliardenschwere Ausbeuter-Firmen, denen es in den letzten Jahren und Jahrzehnten mittels geschickter Design- und Marketing- und Managementstrategien gelungen ist, zu erreichen, dass die Maintream-Klienten diese Konzerne für ihre dubiosen Geschäfte und trotz deren freiwilliger Kooperation mit den Geheimdiensten auch noch rückhaltlos bewundern und ihre Begründer Bill Gates, Steve Jobs und Mark Zuckerberg wie säkulare Heilige verehren. Wie süchtige Fetischisten stehen die Kunden für jedes neue Instrument, das ihnen für fragwürdige Updates und Apps das Geld aus der Tasche zieht und noch dazu ihrer eigenen, persönlichen Ausspähung und privaten Komplettdurchleuchtung dient, jubelnd Schlange.

Allerdings können die User dem Problem, zum gläsernen Menschen zu werden, kaum noch entkommen, da sie nur durch diese Firmen und ihre Monopol-Produkte überhaupt noch erschwinglich und effektiv mit ihrer Umwelt kommunizieren können. Wenn problembewusste Nutzer zum Beispiel beginnen sollten, ihre Nachrichten zu verschlüsseln, könnten sie den Geheimdiensten damit möglicherweise sogar umso mehr auffallen. Jedenfalls lassen sich auch solche versteckten Informationen vorsorglich kopieren und speichern, um sie gegebenenfalls zu einem späteren Zeitpunkt zu entziffern. Falls dies überhaupt so schwierig sein sollte: Denn wenn die NSA durch eine Abschöpfung von Google-Daten etwa problemlos an unsere Bankkonten-Zugänge kommen kann, ohne überhaupt irgendwelche geheimen Codes entschlüsseln zu müssen, dann sind wohl auch die von der Piratenpartei so begeistert angepriesenen Kryptotechniken bloß rührender Kinderkram zur Beruhigung eingebildeter Nerds, mit dem eine belanglose Chaoten-Partei, die ihrem vergangenen Zufalls-Hype nachtrauert, einigen ahnungslosen Blödmännern noch eine letzte Stimme abzuschwatzen versucht.

Was sich das Militär und die Nachrichtendienste mächtiger Staaten in aller Welt zu Nutze machen, um eine rechtswidrige Akkumulation klandestin erworbenen Wissens in einer Schnelligkeit und buchstäblichen Grenzenlosigkeit zu erreichen, die noch vor wenigen Jahren undenkbar war, beginnt allerdings auch andere Bereiche der Gesellschaft zu bestimmen und kulturell umzuformen. Genauer: Das nach wie vor kaum in seiner kompletten revolutionären Bedeutung begriffene Medium des Internets konfrontiert verschiedene soziale und wirtschaftliche Systeme, die Kreativität und der Erwerbung von Wissen zum Ziel haben, unweigerlich in einer ganz neuen Transparenz mit teils unlauteren Praxen, die es auch zuvor schon gab, die aber nun selbst viel schneller und umfassender enthüllt werden können als jemals zuvor. Selbst die bestorganisierten Geheimdienste unseres Planeten, deren Machenschaften im Internet von einem unloyalen Mitarbeiter in bisher noch nicht vollständig ersichtlichem Ausmaß an versteckten Orten digital kopiert und gespeichert wurden, um sie der Weltöffentlichkeit in aufklärerischer Absicht bekannt zu machen, müssen sich nunmehr mit dieser Tatsache auseinandersetzen. Sie werden in Zukunft in irgendeiner Form mit dieser peinlichen Panne umgehen, die dem Charakter dieser Organisationen nach allerdings kaum darauf abzielen wird, größere Transparenz anzustreben.

Auch Kunst und Kultur, also etwa die Musik, der Film, die Literatur und nicht zuletzt die Wissenschaft sind mit einer ganz neuen Sichtbarkeit von Formen des Nachahmens, Kopierens und Plagiierens konfrontiert, die in den von ihnen genutzten Medien vorkommen. Zugleich zeigen prominente Fälle von PolitikerInnen, die des Plagiats wissenschaftlicher Leistungen überführt oder angeklagt wurden, dass eine genaue Definition der Grenzen traditionell teils unterschiedlichst gehandhabter Praktiken der Paraphrase, die noch als erlaubt gelten, zum Befund des justiziablen Plagiats mitunter nur schwer exakt zu bestimmen sind.

So werden nicht nur Plagiate aus unterschiedlichsten Zeiten, die mittels neuer digitaler Ermittlungstechniken zu Tage treten, seit geraumer Zeit in teils erregten Debatten skandalisiert, sondern es wird auch der Umgang mit dieser Praxis und die Frage ihrer genaueren Definition intensiver reflektiert als jemals zuvor. Davon zeugt nun auch ein interdisziplinärer Sammelband, der auf ein Symposium an der Karl-Franzens-Universität Graz zurückgeht und Beiträge von Natur-, Geistes-, Wirtschafts- und RechtswissenschaftlerInnen bietet, die sich dem Problem aus ihrer jeweils spezifischen Sicht nähern. Die Aufsätze sind allesamt kurz und bündig gehalten und versuchen, aus den Ereignissen der letzten Jahre Bilanz zu ziehen.

Die literaturwissenschaftlichen Beiträge etwa erhellen dabei auch die eklatanten Wandlungen der Bewertungsformen von (angeblichen) Plagiatsfällen. So konnte etwa aus einem von E. T. A. Hoffmanns literarischer Figur des Katers Murr kopierten Goethe-Gedicht, dass noch in den 1960er-Jahren dem empirischen Autor als Raub geistigen Eigentums vorgeworfen wurde, wenige Jahre später bereits als positiver Paradefall fantasievoller Intertextualiät gefeiert werden, nachdem Julia Kristiva diesen Begriff im Gefolge eines weit offeneren Deutungsrahmens des Poststrukturalismus geprägt hatte.

Der hier zitierte Aufsatz von Hartmut Steinecke untermauert zudem noch einmal, was sich in der Literaturwissenschaft mittlerweile als Konsens in der Beurteilung des gegenwartsliterarischen Falles von Helene Hegemanns Debütroman „Axolotl Roadkill“ abzeichnet: Dass nämlich die gesamte Kontroverse, die 2010 im Feuilleton über Hegemanns angebliches Plagiat des Romans „Strobo“ des Bloggers Airen geführt wurde, im Rückblick „zu einer Groteske und zu einer Fußnote in der Literaturgeschichte“ zusammenschrumpfe. Allerdings verteidigt Steinecke die junge Autorin auch nur halbherzig, weil er der Auffassung ist, dass das Verfahren der Intertextualität bei Hegemann in kaum erkennbarem Maße als „ein literarisches Intrument oder gar ein Kunstmittel“ auszumachen sei: Eine „bewusste Verwendung, eine Reflexion des Verfahrens, ein artistischer oder spielerischer Umgang damit, als Hommage oder Parodie der früheren Texte mit dem Ziel, diesen eine Funktion im eigenen Text zu geben“, sei in Hegemanns Roman „kaum in Ansätzen zu erkennen“.

Die Anekdoten, die Dietmar Goldschnigg aus der Geschichte literarischer und literaturwissenschaftlicher Plagiatsaffären zum Besten gibt, zeigen derweil, dass die Universitäten auch schon lange vor den Zeiten des Internets nicht unbedingt Orte waren, an denen sich jeder an wissenschaftliche Grundregeln hielt. So berichtet der Grazer Literaturwissenschaftler von einem renommierten österreichischen Professor, dessen 40-seitige C. F.-Meyer-Interpretation als Plagiat aufflog. Der Beschuldigte verteidigte sich allen Ernstes mit dem Hinweis, er habe die Interpretation von einer seiner Studentinnen übernommen, weil er Produkte aus seinen Seminaren für sein geistiges Eigentum halte, aber nicht gewusst habe, dass die besagte Schülerin ihre Interpretation plagiierte. Andererseits ist da die Geschichte von dem wissenschaftlichen Mitarbeiter, der einen unpublizierten Vortrag seines Vorgesetzten nach dessen Tod heimlich unter eigenem Namen publizierte, ohne zu wissen, dass ein anderer Kollege den gleichen Beitrag zeitgleich und unter dem korrekten Autornamen in einem Sammelband veröffentlichte – dumm gelaufen, möchte man da fast ausrufen.

Diese Anekdoten zeigen aber auch, was der Erziehungswissenschaftler Werner Lenz in seinem Beitrag zu solchen literaturwissenschaftlichen Fällen ergänzt: Plagiate an Universitäten können zumal bei Studierenden nur dann wirkungsvoll verhindert werden, wenn auch ihre LehrerInnen ihnen einen verantwortungsvollen Umgang mit den Möglichkeiten wissenschaftlicher Zitierformen vorleben. Zudem müssen sie ihnen didaktisch die Angst vor den scheinbaren Unwägbarkeiten der Konventionen akademischer Kommunikation nehmen. So gesehen ist der vorliegende Sammelband auch ein Buch, dessen Beiträge sich zum Einsatz in der Lehre anbieten, um die Studierenden für die Komplexität des Themas zu sensibilisieren.

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Dietmar Goltschnigg / Charlotte Grollegg-Edler / Patrizia Gruber (Hg.): Plagiat, Fälschung, Urheberrecht im interdisziplinären Blickfeld.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2013.
256 Seiten, 44,80 EUR.
ISBN-13: 9783503137633

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