Käme in nordischen Sagen ein Sisyphos vor, müsste er Willy heißen

Zur Wahlkampfzeit erscheint der vorzüglich ausgestattete Briefwechsel von Willy Brandt und Günter Grass

Von Herbert JaumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Herbert Jaumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In unseren postdemokratischen Zeiten, in denen der Markt und seine Profiteure die Politik ersetzen und nebenbei gerade in manchen Ländern mehr als die Hälfte der jungen Generation ihrer Zukunftschancen berauben; in denen die ganze entpolitisierte Misere von einem matt lächelnden Kanzlermatriarchat geduldet und verwaltet wird, gegen das weder Ironie noch Kavallerie etwas ausrichten – selbst wenn Merkel 2017 abtritt, wartet schon Hannelore Kraft –: da erscheint ein Buch von 1.200 Seiten, schwer wie ein Ziegelstein, das auf unserem demokratischen Gewissen lastet. Denn in einem demokratisch verfassten Gemeinwesen hat „das Volk“ nun einmal die Wahl, und wenn die Wahl die Misere nicht verhindert, die bis jetzt für die meisten hierzulande noch recht gemütlich ist, dann hat letzten Endes niemand anders als das Volk selbst daran schuld. Das demokratische Gewissen aber ist bei vielen aus den ersten Nachkriegsgenerationen in dieser Republik in eben der Zeit gebildet worden, von der das Buch handelt.

„Seit diesem Wahlausgang stehe ich zum erstenmal nicht in Opposition zu einer Bundesregierung.“ Annähernd mit diesen Worten eröffnete Professor Müller-Seidel sein Münchner Doktorandenseminar im Wintersemester. Das muss im Oktober 1969 gewesen sein, und dem damaligen Mitglied des Seminars ist das Pathos dieses Augenblicks noch immer im Gedächtnis. Der Wahlerfolg der SPD am 28. September 1969 (noch hinter der CDU, aber mit nicht weniger als 42,7 % für die SPD!), der zur ersten Sozialliberalen Koalition unter einem Kanzler Willy Brandt geführt hat, war einer der Höhepunkte in der frühen Geschichte der Bundesrepublik, mit dem die zweite, die dynamische Phase der westdeutschen Demokratie eingeleitet wurde, die trotz aller Zerreißproben der ausgehenden 1960er-Jahre und danach zu ihrer eigentlichen Konsolidierung führte. Den zweiten Wahlsieg bei der Wahl zum 7. Deutschen Bundestag am 19. November 1972, für die die Koalition mit dem Slogan „Willy wählen!“ geworben hatte, konnte die SPD mit 45,8 % gar als stärkste Partei feiern (und einer heute sagenhaft klingenden Wahlbeteiligung von über 90 %). Die Ära Brandt (entgegen einem gedankenlosen Gerede bestimmt nicht „Brandt/Scheel“, allenfalls „Brandt/Heinemann“), deren Schlüsselbegriffe „Aufbruch“ und „Mehr Demokratie wagen“ lauteten, legte die Grundlagen für Reformen nach innen wie auch für die Überwindung des Kalten Krieges bis zur Auflösung der „scheinsozialistischen“ (Ernst Bloch) Sowjetregime im Osten, alles dessen, was heute von außen an Deutschland anerkannt und bewundert wird, auch wenn es, wie die Soziale Marktwirtschaft oder das reflektierende Bewusstsein auf die eigene Geschichte, längst auf dem Rückzug ist und so, wie es gelobt wird, gar nicht mehr besteht oder nie bestanden hat.

Man wird also von vielerlei Gedanken bestürmt, wenn man in diesen Briefen der 1960er- und 1970er-Jahre liest, die aus mehreren Anlässen wie etwa des hundertsten Geburtstages von Willy Brandt in diesem Jahr wie auch von 150 Jahren SPD bei Steidl in Göttingen erschienen sind. Dokumentiert wird darin ein Aufbruch zur Realisierung einer funktionierenden sozialen Demokratie und vor allem der „Demokratisierung aller Lebensbereiche“, eines zivilgesellschaftlichen Engagements (das noch nicht so hieß) auf der Grundlage eines „Verfassungspatriotismus“ (von dem man seit den 1980er-Jahren sprach), eines Modells, das selbst für das seit 1945 von Kriegen und materieller Not verschonte Mitteleuropa einzigartig war – was man noch in den 1980er- und 1990er-Jahren bei Aufenthalten im westlichen Ausland, besonders auch in Nordamerika, mit Händen greifen konnte – und das so schön aus der fernen Vergangenheit in unsere postdemokratische Gegenwart[1] herüberleuchtet, dass man sich als Leser heute beinahe dazu verführen lässt, es realitätswidrig und unhistorisch zu idealisieren. Denn schon um 1970 war der damals hyperkritischen jungen Generation, soweit sie den Schlagworten einer „Angelesenen Revolution“ nachstrebte (so der Titel eines damals erfolgreichen Vortrags von Günter Grass), der Verdacht ja nicht fremd, es könnte sich um eine Schönwetterdemokratie handeln. Auch wenn diese Skepsis durch die imponierende Leistung der friedlichen Vereinigung um 1990 noch einmal abgeschwächt wurde, sollte man nicht vergessen, wie relativ komfortabel die Auflösung des bankrotten Regimes der DDR für dessen Bürger gewesen ist in der Nachbarschaft einer funktionierenden Wirtschaft und demokratischen Ordnung im nun jederzeit erreichbaren Westdeutschland: Die Bewohner aller anderen Staaten im Osten, die Tschechen und Slowaken, die Ungarn, die Polen und die Bürger der baltischen und der Balkanstaaten, hatten diese System- und Mentalitätsalternative im eigenen Land nicht zur Verfügung.

Der Briefwechsel setzt im Frühjahr 1964 ein, im Vorfeld der „Wahlhilfe“, die „der SPD nahestehende“ Intellektuelle und Schriftsteller (eingeschlossen sind natürlich auch weibliche wie später, 1972, Luise Rinser oder auch Wibke Bruhns und andere) vor der Wahl zum 5. Deutschen Bundestag 1965 erneut leisteten, und er endet 1992, kurz vor dem Tod Willy Brandts am 8. Oktober. Er merke, wie stark seine eigenen „politischen Bemühungen“ „an Dein Bemühen gebunden gewesen sind und wie auch ich nun […] gleichfalls zurücktrete“, schreibt Grass elf Tage nach dem Rücktritt Brandts als Bundeskanzler wegen der Guillaume-Affäre am 6. Mai 1974 (Brief Nr. 194). Das substantielle Ende aber liegt irgendwo zwischen Brandts Rücktritt und der Ära Helmut Schmidts – wenn man nicht das Stimmungstief im Sommer und Herbst 1973 bereits als Anfang vom Ende werten will:… „es ist wie verhext“, schreibt Grass am 10. September 1973 an den „lieben Willy“: „Bald zählen wir ein Jahr nach den gewonnenen Bundestagswahlen und genauso lange währt der immer dünner werdende Kontakt“ (Grass, in diesen Briefen auch sonst nicht immer ein Meister der klaren Formulierung, will sagen: Während dieses Jahres ist auch der Kontakt immer dünner geworden). Jedenfalls war die schließliche, nur noch ziemlich lakonisch formulierte Verstimmung über die geteilten Ansichten zur Vereinigung 1989/90 wohl nicht mehr als ein allerletzter Schlusspunkt.

Willy Brandt, seit 1957 Regierender Bürgermeister in Berlin und 1961 erstmals Kanzlerkandidat gegen Adenauer, hatte auf den beiden berühmten Treffen vom Mai 1961 in Bonn und Berlin den Kontakt und Dialog mit Schriftstellern wie Hans Magnus Enzensberger, Martin Walser, Hans Werner Richter und Erich Kuby hergestellt, die zu dem Taschenbuch-Titel mit der rhetorischen Frage „Die Alternative oder Brauchen wir eine neue Regierung?“ führte (Rowohlt 1961, 2. Auflage 1964) und aus denen der Autor der „Blechtrommel“ (1959) schnell als der prominenteste und aktivste Wahlhelfer hervorging, der bereits im September 1961 den Wahlredner Brandt begleitete und ihm mit Formlierungshilfen zur Hand ging. 1961 ist auch das Jahr der Berliner Mauer und von John F. Kennedys „Ich bin ein Berliner“, vor allem aber ist es das Jahr des Strafantrags, den Brandt „wegen Beleidigung, Verleumdung und politisch übler Nachrede“ gegen den Verleger und Autor Hans Frederik stellte, der im Verein mit der Kapfinger-Presse (Passau) und mit Unterstützung von Franz Josef Strauß (damals gerne „Joseph“ geschrieben) und dann auch Adenauer eine jahrelange Verleumdungskampagne der Rechten (unter Mithilfe des MfS in Ost-Berlin) gegen „Brandt alias Frahm“ angeführt hatte. Für Grass, der der Partei anfangs eigentlich ferngestanden hatte und sich immer als „gelernten Sozialdemokraten“ bezeichnet hat (er wird erst post festum 1982 Mitglied und ist 1992 infolge seiner Ablehnung der sogenannten Asyl-Gesetze wieder ausgetreten), war diese frühe Spitzenleistung der Medienhetze und Brandts entschlossener Kampf dagegen immer eine Initialszene für sein politisches Engagement auf der Seite der SPD, das in erster Linie ein Engagement für die Person und Rolle Willy Brandts gewesen ist.

Bei allen Zweifeln und Bedenken ist Brandt, der von der NS-Diktatur wie vom Stalinismus unbelastete einsame Hoffnungsträger des zweiten deutschen Demokratieversuchs, für Grass immer ein konkurrenzloses Vorbild, fast ein Ersatzvater für den 14 Jahre Jüngeren, der als Siebzehnjähriger selbst „wie ein Idiot an den Endsieg glaubte“ und sich zur Waffen-SS einziehen ließ. „So sehr Sie in mir einen sachlichen, bis kritischen Anhänger Ihrer Politik sehen können, so unumwunden bewundere ich Sie als Vater“, heißt es mehrdeutig in dem wichtigen Brief vom 26. September 1967, und Grass meint damit zunächst Brandts Umgang mit dessen eigenen heranwachsenden Söhnen, der damals gerade im Fernsehen ein Thema gewesen war. Dass Brandts ausführliche Selbstverteidigung von 1961, mit minutiösen Widerlegungen der Angriffe und Verleumdungen an die Adresse des Berliner Landgerichts, in voller Länge abgedruckt ist, gehört zu den überraschenden und wertvollsten Leistungen dieser Edition.[2] Brandts erfolgreiche Verteidigung und die sie begleitende Mobilisierung der Einsichtigen ist ein Meilenstein in der Geschichte der Pressefreiheit noch vor der „Spiegel“-Affäre (1962) und dem US-amerikanischen „Watergate“ (1973), die bis dahin eine Fortschrittsgeschichte ist und noch nicht durch den beständigen Missbrauch für Kampagnen der bloßen Skandalisierung und anderen Klamauk so sehr ins Zwielicht geraten ist, dass man sich heute immer häufiger fragt, ob man sie überhaupt noch verteidigen soll – genauer gesagt: ob die „Presse“, also die Medien, den rechten Gebrauch von dieser Freiheit machen und deren gesetzlichen Schutz deshalb überhaupt noch verdienen.

Man findet dann in dem Briefband Äußerungen zu den meisten großen Ereignissen der 1960er- und 1970er-Jahre, zur Arbeit der „Sozialdemokratischen Wähler-Initiative“ (SWI) von 1965 bis 1972 und den vorausgehenden wie gleichzeitigen SPD-nahen Arbeitskreisen: der frühe, von Hans Werner Richter 1956 gegründete „Grünwalder Kreis“, an dem Grass noch nicht beteiligt war, und besonders der Berliner Arbeitskreis im Hause Grass, Niedstraße 13 in Berlin-Friedenau, dem seit Februar 1968 vor allem Politiker und Professoren angehörten wie Kurt Sontheimer, Erhard Eppler, Eberhard Jäckel, Günter Gaus und Knut Nevermann, Horst Ehmke, Leo Bauer und andere. An den dort konzipierten „Diskussionsforen“ war auch Golo Mann beteiligt, der in den 1960er-Jahren mit Nachdruck für die „neue Ostpolitik“ eintrat, die ihm aber bald zuviel Ost- und zu wenig Europapolitik enthielt, bis er 1974 mit der SPD brach und danach sogar Strauß unterstützte.[3]

Schließlich die Höhepunkte: 1966 die Große Koalition mit Brandt als Außenminister, die in der weiteren Perspektive eines nicht nur partei- und koalitionspolitisch verstandenen „Machtwechsels“, an der Grass immer festgehalten hat, im ganzen als Rückschlag gesehen wird: „Die Jugend unseres Landes wird sich vom Staat und seiner Verfassung abkehren“, warnt Grass am 26. November 1966 in den offenen Worten, die in seinen Briefen durchgehend üblich sind, wenige Tage vor der Bildung der Koalition unter dem von seiner NS-Vergangenheit belasteten Kanzler Kurt Georg Kiesinger; „sie wird sich nach links und rechts verrennen, sobald diese miese Ehe beschlossen wird“. Dann aber ab 1969 die Sozialliberale Koalition unter dem Kanzler Willy Brandt, die 1972 nach dem überwältigenden Wahlsieg fortgesetzt und konsolidiert wird, ehe sie schon im Jahr darauf in die Krise gerät, so dass der Rücktritt Brandts fast konsequent erscheint, aber aus anderen Gründen als der vordergründig wirksamen Guillaume-Affäre[4]. Zentral sind natürlich auch die Ereignisse um den Grundlagenvertrag mit Polen und Brandts Reise zu dessen Unterzeichnung nach Warschau im Dezember 1970 (begleitet von Grass) und die bedeutende Reise nach Israel im Juni 1973 (ebenfalls mit Grass). Die bis 1982 reichende Fortsetzung der sozialliberalen Regierung unter dem Kanzler Helmut Schmidt ist bereits kein Thema mehr. Hingegen erfährt man einiges Interessante über Urteile und politische Aktivitäten zu heute so fernen Ereignissen wie der Militärdiktatur in Griechenland, die von 1967 bis 1974 dauerte, den „Prager Frühling“ und sein Ende oder den grausamen Bürgerkrieg und Genozid der christlichen Bevölkerung in Biafra, das sich von Nigeria getrennt hatte, über Brandts Nobelpreis, den Anschlag auf die Münchner Olympiade, über den Zustand der DDR und der deutsch-deutschen Literatur; über das gescheiterte Misstrauensvotum, über die Hochschulreform, die Ölkrise und die ersten Anschläge der RAF – während die Ereignisse um die Schleyer-Entführung und „der deutsche Herbst“ 1977 keine Erwähnung finden, ebensowenig wie die chilenische Tragödie im September 1973. Hinzu kommen Grass’ eigenständige Reisen in alle Welt schon seit den 1960er-Jahren, darunter seine eigene bedeutende Israel-Reise im März 1967 (vgl. Brief Nr. 29), seine Vortragstätigkeit nicht nur während der Wahlkämpfe und viele andere Aktivitäten dieses ungeheuer betriebsamen Mannes, der ja nebenher auch noch Romane und Essays schrieb, und immer wieder seine offenen Worte zu seinen Problemen mit der Partei und andererseits mit Brandts Führungsstil. „Ein Freund rät Dir: bitte nach vorne argumentieren und nicht nach rückwärts sinnieren und klagen“, schreibt er in einer handschriftlichen Mitteilung vom 25. September 1972, kurz vor der Vertrauensfrage im Bundestag zur Herbeiführung der dann so triumphal gewonnenen Neuwahlen im November 1972 (besonders programmatisch danach der Brief vom 8. Dezember 72) – beiläufig ein Ratschlag, den man von einem Intellektuellen kaum erwarten würde, klingt er doch eher nach dem sattsam bekannten „Nach vorne schauen!“ des reflexionsfernen sogenannten Pragmatikers, der schon damals die Politik beherrschte. Aber weder ist Brandt der typische Realpolitiker noch ist Grass (und nicht nur in diesen Briefen) der typische Intellektuelle.

Zu verdanken ist die Edition des Briefwechsels der hervorragenden Leistung des Herausgebers Martin Kölbel, der als Literaturwissenschaftler über Franz Kafka geschrieben und sich bereits als Mitherausgeber der „Notizbücher“ Bertolt Brechts große Anerkennung verdient hat.[5] Die insgesamt 288 Stücke des Briefwechsels selbst füllen den Band nur zu etwa zwei Dritteln, die nötigsten Kommentare finden sich in den Fußnoten und Überlieferung und Druckvorlage jedes Textes (neben Briefen auch handgeschriebene Postkarten, Telegramme usw.) sind in einem Verzeichnis penibel nachgewiesen. Hinzu kommen 99 Zusatzdokumente, viele davon von anderen Verfassern, die häufig viel gehaltvoller sind als die Briefe und den Wert des Bandes entschieden steigern: Tagebucheintragungen, Redetexte, Sitzungsprotokolle, Briefe Dritter, Vorworte zu Büchern usw. Hier findet man zum Beispiel die aufschlussreiche Charakterskizze, die Grass für den von dem damals namhaften Journalisten Dagobert Lindlau herausgebenen Band von 1972 verfasst hat: Brandt als Sisyphos, „jemand vom Stamme Zweifel“.[6] In den brieflichen Äußerungen sind längere Charakteristiken wie auch ausführliche Erörterungen einer Frage natürlich selten zu finden, von Grass gelegentlich, von Brandt eigentlich niemals. Dem Dokumententeil folgen eine detaillierte Zeittafel von 1913 bis 1992, ein ausführliches Personenverzeichnis (mit Daten usw., also mehr als ein Register) sowie eine Liste mit Angaben zur einschlägigen Literatur von und über Brandt und Grass sowie über einzelne Themen der Epoche. Der Mangel des fehlenden Begriffsregisters wird durch die Verzeichnisse etwas gemildert. Die Menge der Dokumente und Informationen ist übersichtlich gegliedert und leicht erschließbar. Schließlich werden die Texte durch 122 Abbildungen ergänzt, zum großen Teil Fotos, darunter mehrere von den handschriftlichen Mitteilungen beider Autoren.

Am Schluss steht das fast hundertseitige Nachwort des Herausgebers, das die wichtigsten Stationen, Ereignisse und Probleme der Zeitspanne, auf die die Briefe und die anderen Dokumente sich beziehen, noch einmal ausführlich zusammenstellt und mit zusätzlichen Fakten und Überlegungen anreichert. So ist das Nachwort auch ein erweiterter Kommentar, aber aus der Lektüre der Briefe und der Zusatz-Dokumente ergeben sich auch Fragen, die im Nachwort nicht alle befriedigend thematisiert oder gar beantwortet werden. Der Briefwechsel ist extrem einseitig und wird zum großen Teil von Grass bestritten, von seinem oft lakonischen und distanzierten Gegenüber finden sich nur wenige Einlassungen, die etwas ausführlicher sind und eine halbe Druckseite überschreiten – für die jeweilige Kommunikation sind die Briefe also offenbar meist nur die Spitze des Eisbergs, und den Rest, der im mündlichen Austausch, mittels Telefon und Kommunikation über Dritte bestritten worden sein mag, kennt man nicht. Überhaupt wird in den Kommentaren zu wenig systematisch auf die Rolle der anderen Vertrauten und Gesprächspartner aufmerksam gemacht: Egon Bahr, Erhard Eppler, Horst Ehmke, dazu die vielen anderen ,Intellektuellen‘, Journalisten und Schriftsteller wie Siegfried Lenz, Klaus Harpprecht, Böll, Jens, Härtling, Lattmann, Jäckel, Sontheimer, Greinacher, Gaus oder Merseburger, und die relative Bedeutung der Rolle von Grass lässt sich durch die Undeutlichkeit dieses Umfeldes schlechter einschätzen, als es sein müsste. Auch Kölbel sucht an die landläufige Einordnung dieses Falles der politischen Einflussnahme eines Schriftstellers auf einer sehr hohen Ebene mit Hilfe der Formel „Geist und Macht“ anzuschließen, und er scheint auch die allgemeine Bewunderung dieses Falls zu teilen. Doch er versäumt es, das Spezifische gerade dieses Falles etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Die Zitierung von Enzensbergers spöttischer Problemskizze[7] bleibt ohne analytische Folgen, wie auch übliche Anspielungen und Hinweise auf die klassischen Fälle: auf Frankreich, die USA mit Roosevelt, auch Kennedy, auf Thomas und Heinrich Mann in der Weimarer Republik, auf Masaryk in Prag und Havel ebendort nach 1990, hier nicht weiter führen würden.

Steht Grass wirklich für „Geist“, und was wäre damit gemeint? Steht er nicht vielmehr für die Variante eines (Amateur-)Politikers, der weniger Rücksichten auf Parteistrukturen und Karriere nehmen muss und mit mehr Distanz und vielleicht Überblick die Möglichkeit nutzt, Einfluss auszuüben, Initiativen zu verfolgen, die dem gewöhnlichen Politiker, dem Berufspolitiker, fernliegen? Und was wäre dann noch als das spezifisch ,Geistige‘, eben nicht der Sphäre der ,Macht‘ Angehörige, zu fassen? Sollte man also nicht, ehe man mit dieser etwas geistlosen Formel alles zudeckt, zuerst versuchen, sie in empirisch zureichende Begriffe zu übersetzen, gerade wenn man an der Sache selbst – gestern wie heute – interessiert ist? Schließlich das Moralische, das Grass angeblich im Übermaß vertreten habe, wie man von hämischen Besserwissern überall lesen kann. Sieht man von den Themen NS-Vergangenheit und ihre Nachwirkungen sowie von Kritik und Aktionen gegen Militarismus, Antisemitismus und politischen Radikalismus ab, deren Anteil in den Briefen aber so groß auch nicht ist, argumentiert Grass keineswegs moralistisch, sondern meist höchst vernünftig und sachlich begründet, mustergültig im Sinne der Vorstellungen vom politischen Engagement des sich freimütig äußernden Bürgers, die er mit Brandt immer geteilt hat.

Solcherart Fragen nachzugehen, zählt nicht zu den Stärken der Kommentare und des Nachworts, und leider wird auch darauf verzichtet, normative Denkschemata etwas systematischer herauszuarbeiten, wie sie für die damalige Politik und die Rollenmodellierung der Teilnehmer am öffentlichen Diskurs typisch waren und in den Briefen gespiegelt werden: eher positiv die Rede vom „Unbequem“-Sein zum Beispiel, vom „Querdenker“ oder „Wellenbrecher“; eher abwertend bis horrifizierend (wenngleich angesichts des Auftretens und der Sprache von Grass damals wie heute besonders deplaziert) das Klischee vom „Anarchisten“. Auch der „Schnauzbart“ gehört bis heute zu den negativen Markenzeichen, vielleicht weil das anständig gestutzte Hitlerbärtchen nicht mehr so recht verwendungsfähig ist. Doch was bedeutet das für die Elemente des politischen Diskurses, der diese Briefe prägt, nicht zuletzt auch im Unterschied zur politischen Sprache heute? Auch wenn das Nachwort es hier an Systematisierungen fehlen lässt, ist der Band so gut aufbereitet, dass der interessierte Leser seine eigenen Fragen verfolgen kann.

[1] Vgl. die fast schon klassische Studie von Colin Crouch: „Postdemokratie“, 10. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2013 (edition suhrkamp 2540, zuerst ital. 2003). Crouch geht allerdings viel zu wenig auf die sozialen und kulturellen Folgen ein. Zur „neuen Politik“, die eine vollzogene „Wende“ zu postdemokratischen Verhältnissen offenbar mit lakonischer Ergebenheit bereits voraussetzt, jetzt Ingolfur Blühdorn: „Simulative Demokratie. Neue Politik nach der postdemokratischen Wende“, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2013 (edition suhrkamp 2634).

[2] Vgl. S. 22-86; im Anschluss daran auch die darauf bezogene Passauer Rede Brandts vom 10. September 1961. Diese Verteidigungsschrift war auch der Anlass für den wenig bekannten Einakter „POUM oder die Vergangenheit fliegt mit“, der 1965 entstanden und aus der Perspektive des Wahlkampfs 1961 geschrieben ist, vgl. Günter Grass: „Werkausgabe in 20 Bänden“, Band 2: „Theaterspiele“, Göttingen: Steidl 1997, 2. Auflage 2007, S. 337-350. Mit POUM ist die katalanische Arbeiterpartei gemeint (Partit Obrer d’Unificació Marxista), deren trotzkistisch-linkssozialistische Richtung der deutschen SAP nahestand, als deren Mitglied sich Brandt 1937 einige Monate im umkämpften Barcelona aufhielt. Vgl. unter anderem George Orwell: „Homage to Catalonia”, London 1938.

[3] Vgl. Golo Mann: „Briefe 1932-1992“. Herausgegeben von Tilmann Lahme und Kathrin Lüssi, 4. Auflage Göttingen: Wallstein 2007.

[4] Dazu jetzt einsichtsvoll Eckard Michels: „Guillaume, der Spion. Eine deutsch-deutsche Karriere“. Berlin: Christoph Links Verlag 2013.

[5] Vgl. Martin Kölbel: „Die Erzählrede in Franz Kafkas Das Schloss“, Frankfurt am Main: Stroemfeld 2006 (Diss. Freiburg 2005); Bertolt Brecht: „Notizbücher“. Herausgegeben von Martin Kölbel und Peter Villwock, Frankfurt am Main: Suhrkamp, Band 7 (2010), Band 1 (2012), geplant sind 13 Bände; zu Grass vgl. auch: „Ein Buch, ein Bekenntnis. Die Debatte um Günter Grass’ Beim Häuten der Zwiebel“. Herausgegeben von Martin Kölbel, Göttingen: Steidl 2007.

[6] Dokument 86, S. 985. Vgl. „Dieser Mann Brandt … Gedanken über einen Politiker, von 15 Künstlern, Wissenschaftlern und Schriftstellern“. Herausgegeben von Dagobert Lindlau. München 1972.

[7] Vgl. Hans Magnus Enzensberger: Macht und Geist. Ein deutsches Indianerspiel. In: Ders.: „Mittelmaß und Wahn. Gesammelte Zerstreuungen“, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991 (suhrkamp taschenbücher 1800), S. 207-220.

Titelbild

Willy Brandt / Günter Grass: Willy Brandt und Günter Grass. Der Briefwechsel.
Herausgegeben von Martin Kölbel.
Steidl Verlag, Göttingen 2013.
1230 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783869306100

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