Das versunkene Land

Leonard Freed fotografiert die alte Bundesrepublik

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn Sie diese Rezension lesen, ist es zu spät. Zu spät nämlich, um noch im Essener Folkwang-Museum die Retrospektive zum Werk des US-Fotografen Leonard Freed zu besuchen, die am 1. September endete. 1929 als Sohn einer jüdischen Familie geboren, arbeitete er vor allem als Fotojournalist, in späteren Jahren als Mitglied der renommierten Agentur Magnum. Um noch im Zweiten Weltkrieg eingezogen zu werden, war er zu jung, aber der Kampf gegen Japan und Deutschland prägte ihn, genauso wie die Suche nach den europäischen Wurzeln seiner Familie und der jüdischen Kultur in den USA.

Mit 23 fuhr er zum ersten Mal per Schiff nach Europa und reiste per Anhalter bis nach Deutschland. Zunächst war es natürlich die Bundesrepublik, die er fotografierte, seit den 70ern auch die DDR. Vor einer Jugendherberge in Rom lernte er seine Frau Brigitte kennen, die in Dortmund aufgewachsen war. Mit ihr reiste er später über den ganzen Kontinent, aber Deutschland wurde ein Hauptthema seiner Arbeit, zu dem er bis zu seinem Tod 2006 immer wieder zurückkehrte, und über das er mehrere Bücher veröffentlichte: 1965 „Deutsche Juden heute“, 1970 „Made in Germany“, und 1977 einen Band, der sich den beiden Hälften Berlins widmete. Eigentlich wollte er noch „Deutsche Menschen heute“ herausgeben, eine Retrospektive, die seine Fotos von der Adenauer-Ära bis zur Jahrtausendwende dokumentieren sollte, aber dazu kam es nicht mehr. Ebenso wenig wie zu einer großen Ausstellung, die im Bonner Haus der Geschichte hätte stattfinden sollen.

Wohl aber gibt es die Ausstellung in Essen, die auf „Made in Germany“ basiert. Dieser Band, den der Göttinger Steidl Verlag als Reprint wieder aufgelegt hat, dokumentiert das Westdeutschland der Wirtschaftswunderzeit, von grauer Städte Mauern der frühen fünfziger bis zum gesellschaftlichen Aufbruch der späten sechziger Jahre. Für uns ist es ein fremdes, ein fremd gewordenes Land, das aus den Bildern zurückschaut. Es hat so gar nichts von der optimistischen „Wir sind wieder wer“-Ikonografie, die deutsche Selbstdarstellungen aus der Zeit so häufig durchziehen. Hier gibt es keine bauhausartigen Neubausiedlungen, keine frisch eingeweihte VW-Fertigungsstraße, keine schuhkartonförmigen Rathäuser, keine überbordenden Warenhauseinlagen.

In kontrastreichen, manchmal grobkörnigen Bildern hält Freed die Menschen fest: Arbeiter in der Pause, Schulkinder beim Cowboyspiel, Familien beim Kirchgang, ein GI beim Lunch Break an der Berliner Mauer. Frauen in Kittelschürzen, Männer im Gabardineanzug, Hornbrillenträger, ältere Anzugträger beim Pferderennen oder im eigenen Segelboot – was Freed als Gegenwart dokumentierte, ist für damals und später Geborene ein fremdes, versunkenes Land, weil es so wenig zu tun hat mit den oft nostalgisch verklärten Widerspiegelungen, die wir sonst in Film und Fernsehen zu Gesicht bekommen. Wenn tatsächlich Industrie zu sehen ist, dann meist nicht als Renommierobjekt, sondern als bizarre Präsenz im Alltag – etwa, wenn der Dortmunder Stadtpark von einer Stahlhütte überragt wird, was heute eben so fremd wirkt, wie es die Menschen auf den Bildern als selbstverständlich hinnehmen.

Freeds Deutschland ist zutiefst uncool, und darin liegt seine Faszination. Der Titel „Made in Germany“ wird dabei doppeldeutig: Zum einen sind die Bilder natürlich „in Deutschland gemacht“. Zum anderen wird das Etikett, auf das viele Deutsche so stolz waren, mit einer ironischen Note versehen, weil das, was man damit verbindet, kaum gezeigt wird. Sein Selbstverständnis beschreibt der Fotograf so: „With my camera I climb over the perspiring human surfaces and view the cavities, the molars. […] And as man wants to know nature’s language, so I want to know this German sea.“ Er inszeniert sich als Ethnologe, als Expeditionsreisender, aber vor allem erinnern seine Worte an das berühmte Diktum „I am a camera“ in Christopher Isherwoods „Berlin Stories“, auch einem Buch, das Deutschland an einem kritischen Wendepunkt – dort sind es die Jahre um 1930 – festhalten will.

Auch wenn Freed verschiedenste Orte und Gesellschaftsschichten aufgenommen hat, besitzt das Buch einen klaren thematischen Kern. Und das ist tatsächlich die noch sehr starke Bedeutung des Krieges und des Nationalsozialismus für den Alltag, und, damit verbunden, zum anderen die Frage nach einer deutschen Identität. Wo wenig später die 68er auf die Straße gehen, zeigt er Fackelzüge von Tübinger Studenten für die Rückgabe Ostpreußens und Schlesiens, oder dokumentiert frühe Versammlungen der NPD. Subtil beobachtet er, wenn er einen jungen Langhaarigen mit dem Eisernen Kreuz seines Vaters ablichtet, oder in einem Begleittext feststellt, dass für ärmere Leute eine Amputation im Krieg den Verlust ihres Lebensunterhaltes bedeutet, für die oberen Schichten jedoch eine Auszeichnung, einen Beweis ihrer patriotischen Gesinnung. Das Vorwort wird geradezu überdeutlich, wenn Freed es mit dem Deutschlandlied – im Original und in Übersetzung – beginnen lässt, und es mit der Frage beendet, die seine Fotoreportagen umtreibt: „In twenty-five years from now France will still be France, England will remain England and what we can expect to change in Italy … but Germany, what will be of Germany in twenty-five years?“

Wie hier deutlich wird, sprechen Freeds Bilder nicht nur für sich selbst, sondern ihre Aussage besteht aus einem Zusammenspiel zwischen Foto und Kommentartext. In diesem hält Freed nur selten lapidar fest, was zu sehen ist. Vielmehr wird die Bildunterschrift zum Kontrapunkt, dokumentiert, was man nicht oder erst auf den zweiten Blick sieht – etwa wenn das Bild von einem Stau im Westerwald mit einem offiziellen Reiseführer kontrastiert wird, der die freie Fahrt auf den Autobahnen preist (ob Kraftwerks ironischer Lobgesang, wenige Jahre später entstanden, ihn als Quelle benutzt hat? Immerhin denkbar). Oder wenn ein ländliches Idyll aus dem Weserbergland um das Gewäsch der Einwohner ergänzt wird, die den Besucher allen Ernstes vor einer Dorfhexe und durchreisenden „Zigeunern“ warnen. Trotz aller Kritik bleibt Freeds Blick auf die Westdeutschen aber wach und voller Sympathie.

Steidls Neuauflage von „Made in Germany“ ist, wie gesagt, der unveränderte Reprint des Originalbandes, der 1970 bei Grossman Publishers in New York herauskam. Er erscheint damit zum ersten Mal in einem deutschen Verlag. Ergänzt wird das Buch durch einen broschierten Begleitband mit dem Titel „Re-Made: Leonard Freeds Deutschland“, der eigens zur Ausstellung entstanden ist, und der sich als Einführung zu Leben und Werk verstehen lässt. Der Historiker Paul M. Farber kommt in einem längeren Essay zu Wort, und Bilder aus „Made in Germany“ werden mit früheren und späteren Aufnahmen bis zur Jahrtausendwende kontrastiert. Und nicht zuletzt stehen hier die deutschen Übersetzungen der Bildtexte aus dem Hauptband, der damit auch für diejenigen zur lohnenden Lektüre werden kann, für die Freeds Englisch eine Hürde darstellen würde.

Titelbild

Leonard Freed: Made in Germany.
Herausgegeben vom Museum Folkwang.
Steidl Verlag, Göttingen 2013.
160 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783869306223

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