Regionalismus als moderne Weltliteratur

Yasar Kemal wird neunzig Jahre alt

Von Norbert MecklenburgRSS-Newsfeed neuer Artikel von Norbert Mecklenburg

Am 6. Oktober 2013 feiert der große alte Mann der türkischen Literatur seinen 90. Geburtstag. Kürzlich sind in der Türkei der vierte und letzte Band in der Serie seiner „Insel-Romane“ erschienen und ein sehr eindrucksvolles dickes Buch mit seinen gesammelten Reportagen. In deutscher Übersetzung, unter dem Titel „Salih der Träumer“, liegt erst jetzt ein Roman von 1976 über einen kleinen Fischer- und Schmugglerort am westlichen Schwarzen Meer vor. Im heutigen Literaturbetrieb indessen wird Yaşar Kemal gern als Auslaufmodell abgetan: Er erzähle von einer Türkei, die es so überhaupt nicht mehr gebe; er sei ein notorischer Regionalist, sein episch langsames, wiederholungsreiches Erzählen entspreche weder modernen noch postmodernen Kriterien. Das ist eine sehr oberflächliche, schiefe und ungerechte Beurteilung. Blickt man auf Leben und Gesamtwerk dieses Autors, wird man anders urteilen.

Schon der junge Yaşar Kemal, obwohl ein ostanatolisches Dorfkind, trat über seine Arbeit an anatolischer Volksdichtung in produktiven Austausch mit modernen oppositionellen, meist linken türkischen Intellektuellen und Künstlern. Zu ihnen gehörte zum Beispiel Abidin Dino, einer der bedeutendsten türkischen Maler. Zusammen mit dessen Bruder Arif übersetzte Yaşar Rimbaud und verehrte den großen türkischen Lyriker Orhan Veli. Von diesen gut gebildeten Freunden angeregt, entdeckte er vor allem die erzählende Weltliteratur von Homer und Cervantes bis zu Tolstoi, Dostojewskij und Tschechow, zu Faulkner und Steinbeck. Gleichzeitig aber entdeckte und erschloss man gemeinsam die anatolische Volksepik. Denn dieser Kreis dachte nicht, wie viele bürgerliche Intellektuelle, nationalistisch und turkozentrisch, vielmehr volks-, multi- und interkulturell und griff darum auch auf nicht- und vorislamische Kulturen zurück. Er war zwar anti-kemalistisch, nicht jedoch, wie ein Teil der heute in der Türkei herrschenden Islamisten, anti-modern orientiert.

So verband sich Yaşar Kemals ausgeprägter Regionalismus von Anfang an mit weltoffener, kritischer Modernität. Die meisten seiner Werke über Anatolien hat er in und um Istanbul geschrieben, also aus räumlicher, sozialer, sprachlicher Distanz. Sein Regionalismus ist ein Realismus von ‚Menschenlandschaften‘, also von Lebensgebieten, und diesen hat er auch auf andere Regionen als seine Herkunftslandschaft Çukurova ausgedehnt, auf Istanbul, die Schwarzmeer- und die Marmara-Region. In seinem Leben hat er sich mehr Welt aneignen können als viele ‚großstädtische‘ Autoren: durch seine eigene frühe Mittlertätigkeit als Sammler und Reporter, durch Freundschaft mit modernen Künstlern und Intellektuellen, durch deren und eigene Emigration: nach Frankreich, nach Schweden, wo er 1978-81 im Exil lebte, später als weltbekannter Autor durch internationale Kontakte. Seine erste Frau, Thilda Serrero, aus einer sephardischen Familie, von deren Zweig in Thessaloniki einige der Shoah zum Opfer fielen, war Enkelin des Leibarztes von Sultan Abdülhamid II. Sie hat als Übersetzerin, wie Güzin Dino als Kritikerin, seine Bücher im Westen heimisch gemacht.

Yaşar Kemal gehört wie Hamsun, Oskar Maria Graf, Panait Istrati, Faulkner, Marquez, Aitmatow, Mo Yan zu den herausragenden Autoren einer ‚regionalistischen Internationale‘ in der modernen Weltliteratur. Dieser Regionalismus hat nichts rückwärtsgewandt Provinzielles wie die konservative Heimatliteratur, sondern setzt sich mit den Problemen der Modernisierung und Globalisierung auseinander und gewinnt auf diese Weise universelle Geltung. Auch Yaşar Kemals anatolische Dorfromane widmen sich, so intensiv sie das vormodern-agrarische Lokale und Regionale darstellen, damit zugleich universalen Themen, menschlichen Basisbedürfnissen, -problemen und -kräften, der fortbestehenden, ja weltweit zunehmenden sozialen Ungerechtigkeit, der Entfremdung von und dem zerstörerischen Umgang mit der Natur.

Gewiss, die Distanz zwischen der fiktionalen Welt eines Großteils der Romane Yaşar Kemals und der realen Türkei ist immer größer geworden, denn die Türkei ist längst kein Agrarland mehr. Aber die Themen und Probleme bleiben die gleichen, ‚Anatolien‘ lebt in Gestalt der Binnenmigration auch in den großen Städten weiter. Wie der seines großen Kollegen und Geistesverwandten Tschingis Aitmatow ist der Regionalismus Yaşar Kemals alles andere als Folklorismus. Er geht nicht ethnologisch korrekt, sondern relativ frei mit ethnischen, religiösen, kulturellen Traditionen poetisch um. Außerdem gibt es bei ihm ein markantes Gegengewicht zu regionaler Ortsbezogenheit, den Nomadismus: Ein Leitmotiv, das sein Gesamtwerk durchzieht, von den ostanatolischen Romanen über das harte Schicksal der Bergnomaden bis zu den späten „Insel-Romanen“, istHeimatverlust durch Vertreibung, Krieg, soziale Not, also wiederum ein universelles Thema.

Das hat schon früh und treffend der große englische Literatur- und Kulturkritiker Raymond Williams hervorgehoben: Yaşar Kemals Romane interpretierte er als sensibles Medium zur Darstellung sozialen Wandels. So ist zum Beispiel „Der Wind aus der Ebene“ ein ergreifender Roman über entfremdete Arbeit, genauer: Entfremdung durch Suche nach Arbeit. Für Williams war dieser Roman nicht ein Buch über eine ferne Region, sondern spiegelte die Geschichte seiner eigenen Heimat Wales und damit einen wichtigen Aspekt der allgemeinen Geschichte wider: die lange, nicht endende Reise der Marginalisierten, Exkludierten und Armen der Welt, aber auch ihre Versuche zu Protest und Widerstand gegen dieses Schicksal. Denn wo Yaşar Kemal literarische Volkstraditionen aufgreift, geschieht das nicht nostalgisch, sondern er wählt gezielt deren rebellische Stimmen aus.

In der modernen türkischen Literatur wurde der Widerspruch zwischen kemalistischer Staatsideologie und der sozialen Wirklichkeit lange Zeit als Fremdheit zwischen der urban-bürgerlichen Herkunft der Autoren und den traditionalen anatolischen Gemeinschaften thematisiert. Diese wurden dabei gern abschätzig beschrieben oder romantisch verklärt. Denn auch die faktisch elitäre Politik gab sich populistisch. Sie propagierte ein idyllisches Bild von Anatolien und vernachlässigte das reale zugleich sträflich. Erst um die Mitte des 20. Jahrhunderts, als diese Politik ins offen Reaktionäre umschlug, erfolgte dann ein literarischer Umschwung ins handfest Sozialkritische. Während der Staat die Ideologie einer ‚klassenlosen‘ nationalen Gemeinschaft vertrat, enthüllten die Autoren die sozialen Widersprüche und Konflikte. Vor allem meldeten sich nun auch Anatolier selbst literarisch zu Wort: ‚Anatolia writes back‘. Die markanteste Stimme unter ihnen ist Yaşar Kemal geworden.

Seine literarische Erzählsprache ist die eines modernen Volksschriftstellers. Er hat seine sprachliche und poetische Urbegabung sehr bewusst auf der Linie moderner türkischer Sprachreform fortgebildet, ohne in deren ideologische Fallen zu tappen. Gezielt und kompetent hat er dabei Volkssprache und -tradition aufgegriffen, in sein ganzes Werk eingestreut und gegen eine Literaturrichtung eingesetzt, die elitär und esoterisch westlichen Mustern nacheiferte. Aber zur gleichen Zeit, als er sich aus einem traditionellen Sänger, der von Dorf zu Dorf wanderte und alte epische Dichtung mündlich vortrug, einerseits in einen Sammler, anderseits in einen Sozialreporter verwandelte, ging er auch bei großen Erzählern der Weltliteratur in die Schule, sei es Stendhal, sei es Faulkner. Dennoch bleibt bei ihm eine sehr starke Affinität zu mündlicher Erzählkunst bestehen. Dazu gehört eben auch jene auffällige, viele heutige Leser nervende Langsamkeit und Repetitivität. Sie wird jedoch – wenn auch nicht immer – durch eine Kunst poetischer Variation ausgeglichen. Und vor allem hat sie ihre genaue darstellerische Funktion, für die Form als strukturbildender ‚epischer Refrain‘, für den Inhalt, um den seelischen Innenraum der Figuren indirekt auszuleuchten. Diese Funktion haben auch die zahllosen folkloristischen Elemente wie Sprichwörter, Fluch- und Segenssprüche, Lieder, Parabeln, Märchen, Prophezeiungen, Aberglaube, Rituale, ebenso ein Großteil der bald realistischen, bald suggestiv expressionistischen bis phantastischen Naturbeschreibungen.

Viele der Romane Yaşar Kemals sind epische Inszenierungen authentischer sozialgeschichtlicher Prozesse. Sie sind Romane des oft ebenso brutalen wie rasanten sozialen Wandels vom Agrarzeitalter zur Modernisierung. Wo Herden weideten, ziehen plötzlich Traktoren ihre Kreise. Die Agas, die Großgrundbesitzer, beuten im Bündnis mit Staat und Industrie die armen Bauern gnadenlos aus. Deren Kampf um ihre Lebensformen und Menschenwürde wird oft zu einem Kampf ums nackte Leben. In einer Romanserie, die bisher leider noch nicht ins Deutsche übersetzt ist (englischer Titel: „The Lords of Akchasaz“) hat der Autor diese Realität genauer beschrieben, als es die Soziologen vermochten.

Wo aber sieht dieser Epiker die Gegenkräfte gegen das von ihm beschriebene soziale Elend? Religion spielt in seinem Werk als institutionalisierter und ideologisierter Islam kaum eine Rolle. Oft findet sich vielmehr Kritik an Menschen- und Fortschrittsfeindlichkeit religiöser Funktionäre. Dennoch gibt es tiefe Frömmigkeit vieler Figuren. Manche Interpreten sehen darin eine gewisse Nähe Yaşar Kemals zu den rebellischen und pantheistischen Strömungen und Stimmen der islamischen Mystik. An erster Stelle jedoch steht bei ihm das transreligiöse Prinzip kreatürlicher Solidarität. Er preist unermüdlich die Liebe in all ihren Formen als Grundkraft. Seine Werke sind ebenso intensiv wie die der Volksliteratur von diesem Thema erfüllt. Und diese Liebe schließt, wie die des Jungen Salih zu seiner kranken Möwe in dem eingangs genannten Roman, auch die Tiere ein, überhaupt die ganze Natur.

Natur ist ein grundlegendes Element in der epischen Welt Yaşar Kemals. Er liebt sie begeistert, und er kennt sie bis ins kleinste Detail. Die Natur umgibt die Menschen nicht nur, sondern sie sind selber Teil von ihr. Sie ist sowohl Basis- als auch Gegenwelt, aber im Zuge der Modernisierung und ihrer Destruktivkräfte wird sie zunehmend auch ihrerseits gefährdet: Durch Profit- und Konsumgier wird aus Naturentfremdung Naturzerstörung. „In meinen Büchern“ – sagt der Autor – „ist der Wandel der Beziehung zwischen Mensch und Natur ein zentrales Thema.“ Somit sei die Natur in seinen Romanen kein bloßer „Hintergrund“, sondern selber „handelnde, bewegende Kraft“. Aber sie hat auch ihre dunklen Seiten: Für das, was ihr angetan wird, kann sie sich ‚rächen‘, und zur Natur gehört wie das Leben auch der Tod. Yaşar Kemals humanistischer Vitalismus rebelliert nicht nur gegen soziale Unterdrückung, sondern auch gegen den Tod, die Sterblichkeit.

Dieser Epiker gehört zu jenen gesellschaftskritischen Autoren, die Sozialisten mehr aus Erfahrung und Empathie als aus politischer, ideologischer Parteinahme geworden und geblieben sind. Seine Sicht auf Mensch, Geschichte und Gesellschaft ließe sich in dem Satz zusammenfassen: Die Menschen sind zur Freude am irdischen Leben bestimmt, aber zur Rebellion verdammt. Sein ‚Konservatismus‘, an dem sich manche linken Ideologen gerieben haben, ist ‚Wertkonservatismus‘, der Normen für eine richtige Art von Rebellion bereitstellt. In seiner Frankfurter Friedenspreis-Rede von 1997 hat Yaşar Kemal dieses Denken bündig zusammengefasst: Es richtet sich gegen Krieg, Ausbeutung, Armut, Erniedrigung, Naturentfremdung und -zerstörung und tritt ein für Frieden, Menschenrechte und -würde, Solidarität, Geschwisterlichkeit und, nicht zu vergessen, für Anerkennung von kultureller Differenz und Vielfalt.

Die beiläufige, aber deutliche Geschichtskritik in einigen seiner Romane, zuletzt in der Insel-Serie, gilt den Verheerungen, die der Nationalismus in der modernen Türkei angerichtet hat. Auf Tradition bezieht der Autor sich darum grundsätzlich multikulturell: Bewusst legt er Spuren kurdischer, alevitischer, tscherkessischer, turkmenischer, jesidischer und anderer Minderheiten und gedenkt ihrer Opfer durch Verfolgung, Vertreibung, Vernichtung. Er war der erste namhafte türkische Autor, der es, gegen staatliche Repression, gewagt hat, ebenso diskret wie gezielt auch den Völkermord an den Armeniern in sein episches Werk einzuflechten. Aber er hat darüber den Ethnozid an der kleinen Gruppe der Jesiden oder die wechselseitige Vertreibungs-Barbarei zwischen Türken und Griechen nach dem Ersten Weltkrieg keineswegs vergessen; siehe zum Beispiel „Salman“ oder die ersten Bände der Insel-Serie. Dennoch beschwört er die leiddurchfurchten Menschenlandschaften Anatoliens immer wieder als bunten Blumengarten oder als Mosaik aus vielerlei Kulturen. Diese utopische Intention richtet sich nicht nur gegen das ältere kemalistische und das neue islamistische Modell eines homogenen Einheitsstaats, sondern auch gegen die Zerstörungskräfte der Globalisierung. Die Welt, unsere „tausendundeinfarbige Erde“, ist wie ihr episches Modell Anatolien, trotz aller Negativitäten, vom menschlich und gesellschaftlich Bösen bis zur natürlichen, kreatürlichen Sterblichkeit, dennoch schön, reich und produktiv. An ihrer universellen Energie vermögen die Menschen, wenn sie sich ihr liebevoll öffnen, teilzuhaben.

Aus dem gewaltigen Umfang von Yaşar Kemals erzählerischem Gesamtwerk ragt bis heute, auch infolge weltweiter Rezeption, die Serie der „Ince Memed“-Romane heraus. Deren erster Band hat mit dem Titel „Memed mein Falke“ den Autor auch in Deutschland vor einem halben Jahrhundert bleibend bekannt gemacht. Es handelt sich um das im Einzelnen naturalistische, im Ganzen legendenhafte epische Porträt eines anatolischen ‚Sozialrebellen‘, wie ihn als Typus des ‚edlen Räubers‘ zur gleichen Zeit auch der Historiker Eric Hobsbawm erforschte. Yaşar Kemals Ince Memed ist jedoch keine historische Figur, sondern ein literarisches Konstrukt: Er lebt und handelt in einem letztlich tragischen Widerspruch zwischen der konservativen Mentalität der meisten Bauern, deren Partei er gegen die Agas und den korrupten Staat ergreift, und seinen eigenen revolutionären Ideen. Dennoch geht dieses Werk nicht in sei es sozialistischer, sei es rückwärtsgewandter Räuberromantik auf. Es macht vielmehr die falsche Versöhnung durchschaubar, die damals die nationalistische Ideologie betrieb, um reale soziale Ungerechtigkeit in Anatolien unsichtbar zu machen.

Auf die Memed-Tetralogie, die der 25-jährige Autor begann und erst der über 60-jährige abschloss, folgte die lange Reihe weiterer anatolischer Romane. Der reportagenah sozialkritisch gestaltete Roman„Anatolischer Reis“ dokumentiert ökonomische und soziale Probleme des Reisanbaus in der Çukurova: Ein wohlmeinender Intellektueller aus der Großstadt scheitert als Landrat an vom Staat gedeckter Korruption der Provinzherrscher. Der von Raymond Williams hervorgehobene„Wind aus der Ebene“ ist mit Recht wegen thematischer Verwandtschaft mit John Steinbecks „The Grapes of Wrath“ verglichen worden. „Eisenerde, Kupferhimmel“ zeigt parabelhaft die Entstehung eines religiösen Mythos aus sozialer Lebensnot – Religion als „Seufzer der bedrängten Kreatur“ (Marx). Beide Romane bilden zusammen mit einem dritten, „Das Unsterblichkeitskraut“, die „Anatolische Trilogie“. Die „Ararat-Legende“ zeichnet sich durch eine oft wunderbar spontane Metaphorik aus, besonders bei Naturdarstellungen. Sie ist ein Schreibexperiment: Eine moderne sozialkritische und politische Parabel zentriert sich um eine tragische Liebesgeschichte, die nahtlos mit Mustern traditioneller Epik verwebt ist. Das gleichfalls verfremdend episch dargebotene „Lied der tausend Stiere“ – die Kapitel sind wie ‚Gesänge‘ gestaltet –schildert sehr komplex und kunstvoll das Ende eines alevitischen Nomadenstamms durch sozialgeschichtlichen Wandel. Sein tragischer Untergang wird zugleich Exempel für Bewahrung menschlicher Würde.

„Der Granatapfelbaum“ schließlich – um noch ein Werk aus der anatolischen Reihe zu nennen – ist eine intensive und anrührende epische Studie über die Folgen der rabiaten Agrarmodernisierung in der Çukurova nach dem Zweiten Weltkrieg: Eine Gruppe von ‚Berglern‘ versucht vergeblich, Arbeit zu finden. Ihr Elend wird zum einen mit üppiger Naturschönheit konfrontiert, zum anderen mit der menschlichen Solidarität in der Gruppe, in Gegensatz zu den herzlos gewordenen Menschen neuen Typs, die von der Kapitalisierung der Agrarwirtschaft profitieren. Dass aber auch aus den traditionellen Lebensformen Gewalt, vor allem an Frauen, hervorgehen kann, hat Yaşar Kemal eindringlich in der Ehrenmord-Erzählung „Töte die Schlange“ dargestellt.

In seinem späteren Werk hat sich der Autor wiederholt und eindringlich verschiedenen Aspekten der modernen Naturzerstörung erzählend gewidmet. Dabei tritt nach Anatolien nun auch die Großstadt Istanbul auf: Die Erzählung „Auch die Vögel sind fort“ hängt am Motiv der ausbleibenden Zugvögel, deren Fang und Verkauf viele Gassenjungen ernährt hat, die liebevolle Porträtierung von Menschen am Rande der Metropole auf. Der Autor hatte dem mit seiner engagierten Reportage über Istanbuler Straßenkinder vorgearbeitet, von der auf Deutsch leider nur ein Auszug unter dem Titel „Gut geflunkert, Zilo!“ erschienen ist. Hintergrund eines anderen Werks über Istanbul aus dem gleichen Jahr, des Romans „Zorn des Meeres“, bilden das Aussterben der Fische im Marmarameer und die daraus folgende Not der Fischer.

Dieser lange Weg des großen Erzählers Yaşar Kemal hat eine bewundernswert reiche Ernte eingebracht. Deutsche Leser werden dabei nicht nur ihm, sondern auch seinen großartigen Übersetzern dankbar sein, an erster Stelle und Jahrzehnte lang Cornelius Bischoff, seit kurzer Zeit auch Gerhard Meier. Man kann natürlich auch fragen, wo die Grenzen dieses epischen Lebenswerks liegen, was in ihm weniger gelungen ist. So fällt zum Beispiel eine gewisse Diskrepanz auf zwischen seinem eindeutigen Votum für die völlige Gleichberechtigung von Männern und Frauen einerseits, einer unbestreitbaren Männerdominanz in den meisten seiner Romane andererseits. Auch zeugt sein Werk, ganz so wie das Werk vieler anderer Autoren der ‚klassisch-modernen‘ türkischen Literatur, von wenig Aufmerksamkeit für den Faktor Islam. Dadurch enthält es kaum direkte Anregungen für die aktuellen Probleme mit einem sich politisch und kulturell immer mehr konservativ und antidemokratisch verhärtenden Islam. Wie soll das von Yaşar Kemal vertretene Prinzip kreatürlicher Solidarität in einer Welt auf Echo stoßen, in der sich die sozialen Antagonismen immer mehr zuspitzen, so dass vorerst viele, allzu viele auf das Prinzip der Ego-Firma setzen? Was also wird bleiben vom erzählerischen Lebenswerk Yaşar Kemals? Wir wissen es nicht. Dafür sind schon die Folgen des weltweiten kulturellen Umbruchs für Literatur und Lesen zu unabsehbar. Im Zeitalter von Internet, Smartphone und so weiter mag sich nicht nur die geradezu archaische Langsamkeit des Erzähltempos von Yaşar Kemals Romanen unzeitgemäß, ja unlesbar ausnehmen, sondern auch alle literarische Kunst, die mehr verlangt, als schnellen Reizen oberflächlich zu folgen. Womöglich veralten die anspruchsvollen und ehrgeizigen Romane von Orhan Pamuk sogar schneller als das Werk Yaşar Kemals, das nicht, wie sie, zur postmodernen Mode-, sondern zur humanistischen Weltliteratur gehört.