Rätsel Zeit

Das „Journal for the Philosophy of Nature“ widmet sich dem Verhältnis von physikalischer und erlebter Zeit

Von Cathrin NielsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Cathrin Nielsen

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In seinen „Unterredungen und mathematischen Demonstrationen über zwei neuere Wissenzweige, die Mechanik und die Fallgesetz betreffend“ (1638) stellt Galileo Galilei ein Experiment vor, das die Herausbildung des physikalischen Zeitkonzeptes in nuce zusammenfasst. Man richte, so Galilei, zur Ausmessung der Zeit ein Brett schräg auf, lasse in einer eingegrabenen Rinne eine Messingkugel herabrollen und verzeichne die Fallzeit für die ganze Strecke: das Ergebnis wird stets dasselbe sein. Man vierteile die Strecke, und die Fallzeit wird exakt ein Viertel betragen. Analog dazu stelle man einen Eimer voll Wasser auf, durch dessen Boden sich ein feiner Wasserstrahl in einen Becher ergießt: aus den Differenzen der Wägungen erhält man die Verhältnisse der Gewichte und die Verhältnisse der Zeiten, und zwar mit solcher Genauigkeit, dass die zahlreichen Beobachtungen niemals merklich voneinander abweichen.

Die Zeit der Physik ist die quantitativ gemessene Zeit, zu der unser qualitatives Zeiterleben, das niemals identisch ist, in dem die Zeit ‚zusammenschießt‘, ‚sich dehnt‘, in dem alles ‚seine Zeit hat‘ und ,zu seiner Zeit vergeht‘, in einem merkwürdigen Widerspruch steht. Zwar hat sich die physikalische Zeitauffassung seit der speziellen Relativitätstheorie, wonach die Zeit, ebenso wie der Raum, ein statisches Gebilde darstellt, maßgeblich gewandelt; der physikalische Parameter Zeit in seiner Indifferenz gegen unser subjektives Empfinden und die daraus entspringende scheinbare Unvermittelbarkeit zwischen der objektiven Zeit und den verschiedenen Formen des Zeiterlebens ist jedoch geblieben. Physikalisch gesehen gibt es nichts, was unserer Empfindung vom Vergehen, Stillstehen, Strömen, ja Rasen der Zeit entspricht. Wie kann sich jedoch etwas, das für das menschliche Erleben so grundlegend ist, als Irrtum erweisen?

„Erlebte und physikalische Zeit“ ist das Thema des zweiten Heftes des halbjährlich erscheinenden „Journal for the Philosophy of Nature“, philosophia naturalis, für dessen Herausgabe sich diesmal Andreas Bartels, Bernd-Olaf Küppers und C. Ulises Moulines verantwortlich zeigen. Es versammelt Beiträge von Physikern und Philosophen unterschiedlicher Provenienz zu den zentralen Problemkomplexen, die sich aus der Kluft zwischen der quantitativen und der qualitativen Zeit ergeben. Sie betreffen im Wesentlichen den der messbaren Zeit inhärenten „Prozess der Idealisierung im Abgleich von realer Welt und reiner Anschauung“ (Peter H. Richter) – angefangen bei den Berechnungen der Planetenbahnen über die kosmischen Uhren der Erdrotation, der synodischen Periode des Mondes und dem Jahresrhythmus der Sonne, über das gleichmäßige Fließen, als das Newton sich die Zeit vorstellte, bis hin zur Metrik der vierdimensionalen Raumzeit.

Ein Grundproblem ist dabei die Spannung zwischen der theoretischen Voraussetzung von der Kontinuität der Zeit, und dem Bemühen, das stetige Verfließen auch im Blick auf immer kürzere Perioden (heute nähert man sich dem Bereich der Femosekunden) nachzuweisen. Dem offenen ontologischen Status des Kontinuums und seiner schwierigen Fassbarkeit geht auch Bernulf Kanitscheider in seinem Beitrag zum Thema „Zahl und Zeit“ nach: „Wird die Raumzeit der Naturvorgänge nur aus Gründen der Bequemlichkeit als stetig betrachtet, oder ist sie nur oberflächlich glatt und ab einer winzigen Größenordnung wartet das Diskontinuum?“ Welche Konsequenzen würde dieses Moment des Diskontinuierlichen nach sich ziehen, auch und nicht zuletzt im Blick auf theoretische Entitäten? Wäre die Annahme von der Stetigkeit der Zeit, an die die Kausalität der Naturvorgänge notwendig geknüpft ist, dann nicht der empirischen Dingwelt entnommen, sondern einer „introspektiven Konstruktion in der subjektiven Zeit“? So dass die äußere Welt letztlich eine Art Übersetzung innerer Zeitmaße darstellt, die, je mehr wir uns der in der Diskretion schlummernden Diskontinuität annähern, je neu und anders aussieht? Dass es also die „amorphe eigene Psyche“ wäre, die – zählt? Welche Konsequenzen hat, nüchterner formuliert, die wechselseitige Verwobenheit von theoretischem Entwurf und Tatsache für das Theoriekonzept und seine Möglichkeiten struktureller Beschreibung, wie es Ulrich Gähde in seinem Beitrag „Theoriegeleitete Bestimmung von Objektmengen und Beobachtungsintervallen am Beispiel des Halleyschen Kometen“ diskutiert?

Anders als Dinge oder Objekte ist die Zeit sinnlich nicht wahrnehmbar; das Vergangene ist nicht mehr, das Zukünftige noch nicht, und dazwischen tut sich ein umfassbarer Moment des Umschlags von der Vergangenheit in die Zukunft auf, den wir Gegenwart nennen. Ebenso wie dieses diskontinuierliche „Jetzt“ (das wir möglicherweise selbst sind?), scheint auch das, was wir als ein unweigerliches Vergehen der Zeit erleben, keine Entsprechung innerhalb der Physik zu finden. Nach der statischen Zeittheorie stellt ihr Verfließen lediglich eine Illusion dar; Ausdrücke wie „hier“ und „dort, „früher“ und „später“, ja selbst das „jetzt“ haben eine rein indexikalische Bedeutung, sind also abhängig von dem, der sie äußert. Dennis Lehmkuhl befasst sich in seinem Aufsatz „On Time in Spacetime“ mit dem Konflikt, der sich zwischen der statischen Zeittheorie, nach der die Zeit ‚steht‘, und der für unser Zeiterleben im Grunde unabweisbaren Vorstellung von einem Vergehen beziehungsweise einer Richtung der Zeit ergibt. Statt dem „Zeitpfeil“ einseitig jede objektive Realität abzusprechen oder aber umgekehrt der Relativitätstheorie eine unangemessene Verräumlichung der Zeit vorzuwerfen, legt Lehmkuhl dar, inwiefern die klassische Vorstellung vom Fluss der Zeit auch noch in der statischen Zeittheorie gegenwärtig ist, und zeigt, dass die Struktur der Raumzeit durchaus eine Unterscheidung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und damit die „Repräsentation eines ‚Zeitpfeils‘“ erlaubt.

Dass im Zusammenhang der erlebten Zeit ein weiterer Begriff eine zentrale Rolle spielt – der „Rhythmus“ – zeigt der Beitrag von Georg Mohr, der über die Musik Aufschluss über Zeitstrukturierung und Weisen der Zeiterfahrung sucht. In seiner ebenso komplexen wie eigenständigen Anknüpfung an die Philosophiegeschichte wird deutlich, dass die Musik, insbesondere im Blick auf das innere Zeitbewusstsein, als ein „heuristisches Exemplifikationsmedium“ dienen kann und „substanzielle Rückschlüsse für philosophische Zeittheorien“ zulässt. So besteht gerade im irreversiblen Lauf der Töne und Klänge ein musikalisches Zeugnis für den Eindruck des unumkehrbaren Zeitflusses. Weiterhin kommt der Melodie die Eigenschaft zu, als zeitlicher Folgezusammenhang eine Einheit zu bilden, ohne doch Objektivität im empirischen Sinne zu beanspruchen. Und umgekehrt spannt sich die Beziehung zu den vorangehenden und den folgenden Tönen nur von einem „Jetztbewusstsein“ auf, der „Ur-Position“, von der allein aus es Integration von Bewegung und das heißt Horizonte zeitlichen Erlebens geben kann. Dies berührt nicht zuletzt die existenzielle Bedeutung dessen, was hier verhandelt wird: „Ohne Ergreifen der Gegenwart keine erlebte Zeit.“

Insgesamt überzeugt das Heft durch seine vielfältigen und zum großen Teil auch für Nicht-Physiker nachvollziehbaren Herangehensweisen an grundsätzliche Fragen, die sich wie rote Fäden durch die Beiträge ziehen. Einzig der Beitrag von Gerhard Vollmer – „Gretchenfragen an den Naturalisten“, wenig später Rede ist die Rede von einem „Katechismus des Naturalisten“, was das Ganze weitaus besser trifft – fällt hier heraus. In seiner sich immerhin über ein gutes Viertel des Heftes (50 von 180 Seiten) erstreckenden Beantwortung eines „recht bunten“ Fragenkatalogs, der von Natur der Logik, über den Urknall, die Evolution, die Entstehung von Mensch und Sprache, Willensfreiheit bis zu „Gibt es Zombies?“ reicht und durch eine säuberliche Liste von „typischen Kandidaten für Peudowissenschaften“ ergänzt wird, kommt die Zeit nicht vor. Statt dieses irgendwie deplazierten Beitrags hätte man sich eine differenzierende Erweiterung des Themas durch psychologische oder biologische Aspekte des Zeiterlebens oder Zeitkonzepte anderer Kulturen gewünscht (ganz abgesehen davon, dass, bis auf Mohrs Aufsatz, die philosophische Auseinandersetzung mit der erlebten Zeit merkwürdig außen vor bleibt).

Man muss jedoch nicht erst Vollmers Naturalismus-Katechismus studieren, um zu erkennen, dass das „Journal of the Philosophy of Nature“ insgesamt dem Motto folgt „a bird in the hand is worth more than two in the bush“ (Lehmkuhl), und diesen Vogel, den es da einzufangen gilt, recht homogen fasst (wo er wild wird oder zu entgleiten droht, taucht unweigerlich die quasi-metaphysische Rede von den „schwarzen Löchern“ auf). Es ist ganz klar eine Philosophy of Nature, die hier im Blick steht, und was ‚Natur‘ ist, folgt bis heute jener „Stilstruktur der Gesetzlichkeit“, die Galilei in seinem, den Atomuhren den Weg bahnenden Experiment zur quantitativen Zeitmessung vorführt. Auch wenn diese Begrenzung zweifellos ihre Berechtigung hat, und auch wenn die Zeitschrift ihre Interdisziplinarität ausdrücklich an der Schnittstelle zwischen Naturphilosophie, Wissenschaftstheorie, Wissenschaftsgeschichte und Technik-Philosophie verortet, bleibt doch die erlebte Zeit eher unterbelichtet. Statt sich einseitig der Frage zu widmen, was der Ursprung unseres Zeiterlebens ist und in welchem Verhältnis es zu dem steht, was die Physik Zeit nennt, hätte auch die Umkehrung der Ursprungsfrage zur Sprache kommen können: Was könnte möglicherweise der Ursprung des physikalischen Zeitbegriffs sein und in welchem Verhältnis steht er dazu, wie wir Zeit erleben? Ansätze hierzu finden sich in dem ausgewogenen Beitrag von Peter H. Richter, der auch auf das Wort Carl Friedrich von Weizsäckers hinweist, wonach sich gerade an der Stellung zu solchen Fragen wie der nach der Zeit zuletzt Haltungen offenbaren: „Der Mensch sucht in die sachliche Wahrheit der Natur einzudringen, aber in ihrem letzten, unfassbaren Hintergrund sieht er wie in einem Spiegel sich selbst“.

Titelbild

Meinard Kuhlmann (Hg.): Philosophia Naturalis. Journal for the philosophy of nature.
Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt, M. 2012.
352 Seiten, 78,00 EUR.
ISBN-13: 9783465041740

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