Auf der Suche nach dem archimedischen Punkt

Otto A. Böhmer inspiziert die Biografien der größten deutschsprachigen Dichter auf der Suche nach den inspirierenden Momenten

Von Jens PriwitzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Priwitzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was ist eine Inspiration? Ist sie unmittelbare Erleuchtung, ein Geistesblitz, der der dichterischen Produktion für das nächste Werk oder für den Rest des Lebens Starthilfe leistet? Ist Inspiration leidenschaftliche Eingebung, mächtig und voller Gedankenkraft, oder ist sie unscheinbare Arbeit an einem Stoff, ein Geschehen, das erst im Blick zurück eine Zwangsläufigkeit bekommt, die es im Verlauf gar nicht hatte? Und ist nicht vom Dichter eine ausreichend große Geduld gefordert, die Inspiration in ein literarisches Werk zu übersetzen, selbst wenn es Jahre dauert, bis man die notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten erworben hat, ihr eine ästhetisch geeignete Form zu verleihen?

Für Joseph von Eichendorf vermittelte der Aufenthalt in Heidelberg, der romantischsten aller Städte, Anfang des 19. Jahrhunderts ein Gefühl für das unendliche Wissen, die Einsicht, „daß sich das Geheimnis der Welt erschließen läßt – es liegt jenseits der bekannten Vordergründigkeiten und verlangt eine behutsame Annäherung, ein Hinhören auf den Wesensgrund der Dinge, der seine eigene Sprache spricht.“

Ganz eruptiv bricht sich hingegen bei Georg Büchner die Inspiration ihre Bahn. Gerade eben – wir schreiben das Jahr 1833 – an die Gießener Universität immatrikuliert, fühlt er den ganzen Fatalismus seiner Zeit und der Geschichte mit aller Kraft. Doch die Erkenntnis schlägt um zum Engagement. „Das Hinabsteigen in den dunklen Schacht der Seele schafft unnötige Gefahren, denen man sich lieber nicht aussetzt.“ Stattdessen konzentriert Büchner seine Kräfte und legt sich mit der Obrigkeit an.

Dichterleben als Abenteuergeschichten

Von solchen und anderen inspirierenden Momenten berichtet der Schriftsteller und Biograf Otto A. Böhmer in seinem neuen Buch. „Das Abenteuer der Inspiration“ ist das im Diogenes-Verlag erschienene Buch übertitelt. Dichterleben als Abenteuergeschichte, das klingt allerdings verheißender als die einzelnen Porträts letztendlich preisgeben – und preisgeben können. Was Inspiration sein kann und wie sie sich auswirkt, ob als heiß aufloderndes Strohfeuer oder bedächtig glimmende Kohlenglut, ist von Dichter zu Dichter verschieden, und neben Blitzschlägen der Erkenntnis mag manchem Autor auch erst viel später ein Zusammenhang gedämmert haben. So weit, so unübersichtlich also die literarische Landschaft, durch die Böhmer den Leser zu geleiten gedenkt. Doch er selbst gilt als erfahrener Reisebegleiter, biografisch versiert und textsicher allemal.

Dennoch will, trotz der Vielzahl unterschiedlicher Porträts und der großen Menge an Inspirationen, das Buch nicht wirklich zünden. Denn aufregend und inspirierend ist es, leider, nicht. Das liegt schon in Böhmers Literaturbegriff begründet, der ausschließlich am Höhenkamm der deutschsprachigen Literatur ausgerichtet ist. Nicht dass dem Autor dort die Luft ausgeht, das gewiss nicht. Nur wirkt die Auswahl der Porträtierten selbst nicht gewagt, sondern setzt auf das Verlässliche. Alle Dichter sind zweifellos „klassisch“ zu nennen: Neben den „echten“ Klassikern gehen schließlich, wahrscheinlich so das Verkaufsargument, auch Romantiker und Realisten immer. Angefangen vom Aufklärer Lessing geht die Reise munter durch bekanntes, allzu bekanntes Terrain. Herder, Goethe und Schiller natürlich, Hölderlin, Novalis und Kleist of course, auch Storm, Keller und Fontane überraschen nicht. Zeitgenössische Autoren kommen gar nicht vor. Man fragt sich im Stillen, was Böhmer beispielsweise bei Christa Wolff, Uwe Timm oder Daniel Kehlmann hätte aufspüren können. Auch unbekannte Autoren, abseitige Lebenswege und im Abwegigen aufregende Inspirationsquellen findet man bei Böhmer nicht. Das ältere Lesepublikum mag der verlässlich gute Kanon freuen, unter jungen Lesern wird man sich so nur wenige Freunde machen.

Neben der etwas trockenen Auswahl scheint insgesamt auch ein leicht kulturkonservativer Zug durch Böhmers Buch. Nicht nur, dass der Autor im Vorwort diagnostiziert, dass „die Literatur insgesamt etwas in die Jahre gekommen“ sei und damit mindestens drei Generationen innovativer Schriftsteller in Verruf bringt. Sondern die Auswahl seiner Porträtierten verrät überhaupt einen leichten Altherren-Blick. Neben 26 Männern wird nur eine Frau vorgestellt, nämlich Anette von Droste-Hülshoff.

Ein hervorragender Erzähler an den Grenzen seines Konzepts

Bei Anlage des Buches hat vermutlich Heinz Schlaffers (immer noch) provozierende Studie „Eine kurze Geschichte der deutschen Literatur“ Pate gestanden zu haben. Auch hier ließ ihr Verfasser (wenngleich polemisch überspitzt) nur die deutschsprachige Literatur von 1770 bis 1950 gelten. Weniger argumentativ, sondern mehr biografisch orientiert, wendet sich Böhmer seinen Untersuchungsobjekten zu, die alle in dem von Schlaffer gelobten Zeitraum lebten und schrieben. Angetreten mit dem Ziel, den inspirativen Moment in der Biografie aufzuspüren, resümiert Böhmer aber meistens nur das gesamte Leben der Schriftsteller und der Schriftstellerin. Knapp 15 bis 20 Seiten stehen ihm in der Sammlung dafür nur zur Verfügung. Daher muss sich der Lebensbeschreiber bei jedem mehr oder weniger beschränken. Bei Schiller, dessen Leben und Werk nun wahrlich nicht schmal ist, begnügt sich Böhmer auf grobe Schnitte, während er bei Goethe gleich nur eine Episode schildert.

Diese Selbstbeschränkung erweist sich interessanterweise in dem Moment als Stärke, wenn sie einen zentralen Moment im Leben der Schriftsteller – und der einen Schriftstellerin– plastisch vor Augen zu führen vermag. Ansonsten drohen lexikonartige Kurzdurchläufe durch Biografien wie bei Theodor Storm, die bei der Geburt beginnen, beim Tod aufhören und zwischendrin etwas von der Schreibtätigkeit berichten. Aber die eigentliche Inspiration hat sich zwischen die Zeilen verflüchtigt. Bei anderen Skizzen wie beispielsweise der zu Jeremias Gotthelf, die ganz genau die Liebe des Schriftstellers zum heimatlichen Emmental als ständige An- und Aufregung zum Schreiben umreißen kann, springt der Funke über.

So bleibt als Fazit festzuhalten, dass Böhmer zwar immer noch ein hervorragender Erzähler ist, ansonsten sein langjähriges Konzept ihn mehr behindert als inspiriert. Böhmers „Sternstunden“ der Literatur und Philosophie konnten diesen Titel noch selbst für sich in Anspruch nehmen, weil sie große Literatur im Moment ihrer Entstehung als aufregendes Abenteuer begreiflich machen konnten. Mittlerweile bedient sich Böhmer dieser Methode zu routiniert, zu abgeklärt und muss in manchen Fällen – wie bei Robert Musil beispielsweise – auch zum wiederholten Male dieselbe Szene unter die Lupe nehmen, ohne weiteres Feuer entfachen zu können.

Titelbild

Otto A. Böhmer: Das Abenteuer der Inspiration. Porträts deutscher Dichter von Lessing bis Dürrenmatt.
Diogenes Verlag, Zürich 2012.
423 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783257068313

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