Brasilianische Literatur grenzüberschreitend

Carola Saavedra – ein Portrait

Von Yvonne HendrichRSS-Newsfeed neuer Artikel von Yvonne Hendrich

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Spätestens seit João Ubaldo Ribeiros augenzwinkernd-ironischer Bestandsaufnahme der vermeintlichen deutschen und brasilianischen Eigenheiten in „Um Brasileiro em Berlim“ (1993; deutsch: „Ein Brasilianer in Berlin“, 1994) ist bekannt, was das deutschsprachige Lesepublikum von brasilianischen Autorinnen und Autoren erwartet: eine mit exotischen Stereotypen ausstaffierte Erzählprosa vor tropischer Kulisse. Kaffeebraune Schönheiten im rhythmisch-pulsierenden Treiben in Salvador da Bahia, in ihrer Existenz bedrohte Indianer am Amazonas oder – wie der Rezeptionstrend insbesondere der letzten zehn Jahre gezeigt hat – das von Drogenkriminalität, Armut und Gewalt bestimmte Dasein in den Favelas von Rio de Janeiro.

Nichts von alledem findet sich in den Werken Carola Saavedras, einer jungen vielversprechenden Autorin aus Rio de Janeiro, die bisher mit einer Anthologie von Kurzgeschichten, „Do lado de fora“ (2005, deutsch etwa: „Von draußen“), sowie den Romanen „Toda Terça“ (2007, deutsch etwa: „Jeden Dienstag“), „Flores azuis“ (2008, deutsch etwa: „Blaue Blumen“) und „Paisagem com Dromedário“(2010, dt.: „Landschaft mit Dromedar“, 2013) die Aufmerksamkeit der Literaturkritiker auf sich ziehen konnte. Sie gilt als eine der wichtigsten Vertreterinnen der neuen Schriftstellergeneration Brasiliens und als ein Beispiel für transkulturelles Schreiben.

Ausgezeichnet mit mehreren brasilianischen Literaturpreisen und Shortlist-Nominierungen, zählt sie zu der Gruppe brasilianischer Autorinnen und Autoren, die auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse mit dem Schwerpunktthema Brasilien Präsenz zeigen werden. Und dabei ist Carola Saavedra genaugenommen Chilenin, die, geboren in Santiago de Chile, mit drei Jahren mit ihren Eltern nach Brasilien kam. Nach dem Studium der Kommunikationswissenschaften in Rio de Janeiro ging sie 1998 nach Europa, verbrachte jeweils ein Jahr in Madrid und Paris. Acht Jahre lebte sie in Deutschland, wo sie ein Magisterstudium in Publizistik an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz absolvierte, bevor sie nach Brasilien zurückkehrte.

Sie selbst habe keine starke Verbindung zu einem bestimmten Ort erlebt, antwortet sie während einer Lesung am Romanischen Seminar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz im April 2013 auf die Frage einer Studierenden, als was sie sich denn eigentlich fühle. Tatsächlich sei ihr erst in Deutschland bewusst geworden, was es bedeute, vor der Projektionsfolieklischeehafter Vorstellungen, als Brasilianerin, als Lateinamerikanerin klassifiziert zu werden. Erst hier in Deutschland habe ihr die portugiesische Sprache ein Gefühl der Zugehörigkeit, eine Heimat, eine Identität gegeben. Ohne ihre eigenen Erfahrungen in Deutschland wäre sie vielleicht gar keine Schriftstellerin geworden, wäre ihr erster Roman „Toda Terça“ in dieser Form wohl kaum vorstellbar. In einem der beiden, sich gegen Ende des Romans miteinander verwebenden Erzählstränge erlebt der junge kolumbianische Student Javier in Frankfurt am Main Fremdsein und Einsamkeit, gefangen in einem latenten dialektischen Dilemma zwischen Identität und Alterität. Ständig sieht sich Javier mit einer geradezu fordernd artikulierten stereotypen Erwartungshaltung gegenüber seiner Herkunft konfrontiert. Und dabei scheint es weder für ihn noch für seine deutschen Gesprächspartner eine Rolle zu spielen, aus welchem lateinamerikanischen Land er nun tatsächlich stamme, denn im Grunde, so Carola Saavedra, existiere Brasilianer-sein, Kolumbianer-sein, Lateinamerikaner-sein eigentlich gar nicht, es sei lediglich eine Konstruktion.

Schreiben bedeutet für Carola Saavedra, an keinen konkreten Ort, keine toponymische Fixierung gebunden zu sein. Ihre Themen sind universell und keiner bestimmten kulturell-geografischen Verortung unterworfen. Im Vordergrund stehen dabei die zwischenmenschlichen Beziehungen im Spannungsfeld von Obsession und Gleichgültigkeit, von Macht und Selbstaufgabe, von Abhängigkeit und Verlust. In ihrem jüngsten Roman „Paisagem com Dromedário“lebt die Protagonistin Érika vorübergehend auf einer namentlich nicht benannten Insel, deren Beschreibung beim Leser durchaus Assoziationen mit Lanzarote wecken lässt, letztendlich sind Name und Lokalisierung jedoch vollkommen unerheblich.

Die Insel als solche, als exponierter, separierter Ort, wird für Érika zur Metapher von Rückzug und Isolation. Sie beginnt damit, ihre verschlungene Dreiecksbeziehung zu dem erfolgreichen Künstler Alex und dessen Schülerin Karen zu reflektieren, die nach Karens Tod völlig aus den Fugen geraten ist. Ungewöhnlich ist die in „Paisagem com Dromedário“ angewandte narrative Technik, die grenzüberschreitend die geschriebene mit der gesprochenen Sprache verschwimmen lässt. In einer Art Audiotagebuch überlagern sich die mit einem Tonbandgerät aufgezeichneten, an ihren imaginären Gesprächspartner Alex gerichteten, analeptisch gerafften Monologe Érikas mit den sie stetig umgebenden Geräuschen ihrer Umwelt.

Nach und nach wird sie sich einem wachsenden Gefühl der Hilflosigkeit bewusst, angesichts der Ohnmacht der Worte, angesichts der Unmöglichkeit zu lieben, der Unmöglichkeit sich selbst zu sein. Die eigene Identität, das eigene Ich, oder vielmehr das, was wir unserem Gegenüber glauben machen möchten, wird in Frage gestellt. Ebenso wie der Anspruch auf Wahrheit. Alles scheint nur Illusion und Selbstbetrug, ein Versteckspiel vor sich selbst. Aber nicht einmal die perfekte Lüge kann uns davor bewahren, irgendwann die Maske abnehmen zu müssen, um uns unseren verdrängten, verborgenen Gefühlen und Wünschen zu stellen.

Dies muss auch Laura, neben Javier die weibliche Hauptfigur in „Toda Terça“, am eigenen Leib erfahren. Wenngleich sie auf der Couch ihres Psychotherapeuten Otávio regelrecht ein Netz von erfundenen Geschichten entspinnt, hält ihr Therapeut mit unerschütterlicher Ruhe dagegen, dass die von ihr gewählten Lügen vielmehr über ihr Innerstes preisgäben als die vermeintliche Wahrheit: „Toda mentira era apenas mais uma versão da verdade“. Jede Lüge ist lediglich eine von vielen möglichen Versionen der Wahrheit, die ewige Diskrepanz zwischen dem, was gewesen ist und dem, was gewesen sein könnte.

Überhaupt ist es das Spiel mit dem Nichtgesagten, dem Unausgesprochenen, woraus sich die narrative Dynamik in Carola Saavedras Romanen ergibt. So auch in „Flores Azuis“. Die Geschichte beginnt mit einem Liebesbrief einer mysteriösen, anonym bleibenden Absenderin („A.“), adressiert an die Anschrift ihres ehemaligen Liebhabers, unter der seit kurzem der frisch geschiedene Architekt Marcos wohnt. Marcos kann sich dem Wunsch, den Brief zu lesen, nicht entziehen, und mit jedem weiteren der täglich folgenden Briefe, insgesamt neun an der Zahl, mit jedem Detail, wächst seine obsessive Faszination gegenüber der unbekannten Verfasserin. Diese Obsession beginnt eine immer zerstörerischer wirkende, sein Leben vollkommen bestimmende Kraft zu entfalten, die zur Destabilisierung seines gesamten zwischenmenschlichen Beziehungsgeflechtes führt. Sind die Briefe, die sich einzig und allein um die letzte Nacht vor der Trennung – eine endlose Trennung („uma separação interminável“) –drehen,zunächst bewusst an denjenigen gerichtet, von dem A. verlassen wurde, zeichnet sich im Laufe der Handlung immer deutlicher die Möglichkeit einer alternativen Lesart hinsichtlich des Empfängers ab. Doch hier überlässt esCarola Saavedra bewusst dem Leser, Deutungen zu finden und Konsequenzen zu ziehen.

Carola Saavedra sieht ihre bisher erschienenen Romane deshalb auch als eine Art Studie über den Schreibprozess selbst, über die fortwährende Interaktion zwischen Autor, Text und Leser. Mit ihren Büchern möchte sie den Leser fordern, ihn vor Rätsel stellen, ihm Raum zur Mitgestaltung geben, ihn zum Ko-Autor machen. Sie verfolgt hingegen keinerlei Absicht, Brasilien zu erklären oder eine vermeintliche brasilidade zu entwerfen. Oberstes Prinzip sei die Freiheit des Autors, unabhängig von den Gesetzen des Buchmarktes und fernab gängiger Brasilienklischees.

Literaturhinweise:

Carola Saavedra: Toda Terça.
Companhia das Letras, São Paulo 2007.
160 Seiten, 16,50 EUR. ISBN-13: 9788535910186 

Carola Saavedra: Flores azuis.
Companhia das Letras, São Paulo 2008.
168 Seiten, 16,50 EUR.
ISBN-13: 9788535913040 

Carola Saavedra: Paisagem com Dromedário.
Companhia das Letras, São Paulo 2010. 168 Seiten, 31,50 EUR.
ISBN-13: 9788535916386

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Carola Saavedra: Landschaft mit Dromedar. Roman.
Übersetzt aus dem Portugiesischen von Maria Hummitzsch.
Verlag C.H.Beck, München 2013.
175 Seiten, 18,95 EUR.
ISBN-13: 9783406647093

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