Leoparden saufen Opferkrüge leer

Moacyr Scliar verfolgt in seinem Roman „Kafkas Leoparden“ die Schicksale eines unscheinbaren Gleichnisses auf einem Zettel

Von Tobias GunstRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Gunst

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Oha. Da stürmen also ein paar offensichtlich wilde Leoparden in ein Gotteshaus, trinken das heilige Wasser, in Krügen verwahrt, aus, kommen immer und immer wieder, und man weiß sich keinen anderen Rat, als diesen regelmäßigen Übergriff schließlich in den rituellen Gottesdienst zu integrieren? Ist das Literatur? Bei Franz Kafka schon: „Leoparden brechen in den Tempel ein und saufen die Opferkrüge leer; das wiederholt sich immer wieder; schließlich kann man es vorausberechnen, und es wird ein Teil der Zeremonie.“

Kafkas Leoparden-Parabel ist so einfach nicht auf den Punkt zu bringen. Das rätselhafte Gleichnis aus vier Hauptsätzen, das in Kafkas Nachlass auf einem nummerierten Notizzettel gefunden wurde, beschreibt offenbar einen Vorgang, der das Ungeheuerliche zur Normalität macht, um damit umgehen zu können. Ausbrüche des Wilden werden als Geschichte domestiziert. Vielleicht aber beschreibt es auch gerade das Gegenteil dessen insofern als dieses Wilde – das Böse? – am Ende die Oberhand gewinnen wird. Tatsache ist, dass es gerade die Rätselhaftigkeit Kafkas ist, die seine Faszination ausmacht, und diese Faszination ist keinesfalls nur auf Seiten der Leser zu beobachten, sondern gerade und vor allem auch im Hinblick auf die produktive Rezeption: Schriftsteller, die sich mit Kafka auseinandersetzen, ihn fortschreiben, umschreiben, nachschreiben.

Faszinierend ist, dass der jüdische Kafka mit den jüdischen Vertriebenen und Flüchtlingen im 20. Jahrhundert wahrhaft um die Welt gefahren und nun gleichsam überall zu Hause ist. Trotzdem wundert man sich im diktatorischen Brasilien der 1960er-Jahre ein bisschen, als ein vermeintlicher Dissident namens Jaime aufgegriffen wird, der einen handschriftlichen Zettel mit eben diesem Gleichnis in deutscher Sprache bei sich trägt. Eilends wird ein Übersetzer gesucht, der die codierte Botschaft verständlich machen kann, was selbstverständlich misslingt. Auch die Unterschrift „eines gewissen Franz Kafka“ bleibt für die Polizisten rätselhaft und somit verdächtig: „Unserer Ansicht nach handelt es sich hierbei um einen Trick und in Wahrheit um eine Botschaft, möglicherweise verschlüsselt“.

Mit dem offensichtlichen Geheimdokument konfrontiert, behauptet der Beschuldigte noch immer, dass es nichts Besonderes zu sagen habe und keine bedeutende oder gar subversive Botschaft enthalte. Trotz eingehender Verhöre durch die „Abteilung für Sonderermittlungen“ inklusive intensiver Bearbeitung mittels Elektroschocks und sonstiger körperlicher Misshandlungen bleibt Jaime standhaft bei seiner Geschichte, das Papier nur bei sich gehabt zu haben, um an einer „Zusammenkunft, dem Gedankenaustausch über Literatur“ gewidmet, teilzunehmen. Der wahren Bedeutung auf den Grund zu kommen und Jaime der Lüge zu überführen scheitert: aufgrund übermäßiger Elektroschocks fällt er von einer Ohnmacht in die nächste, dann gibt es auch noch einen Stromausfall.

So beginnt der Roman „Kafkas Leoparden“ des brasilianisch-jüdischen Schriftstellers Moacyr Scliar, der 2011 verstorben ist und in Deutschland noch immer wenig bekannt ist. Anlässlich der Buchmesse erscheinen einige seiner Bücher nun auf Deutsch. Der Düsseldorfer Lilienfeld-Verlag beginnt die (Neu-)Entdeckung des Autors mit der Übersetzung Michael Keglers von „Os leopardos de Kafka“ aus dem Jahr 2000 in der Reihe „Lilienfeldiana“, die vergessene oder wenig bekannte Texte in kleinen, handlichen Ausgaben in schöner Ausstattung wieder zugänglich machen möchte. In Halbleinen gebunden und mit einem wunderbar gestalteten Umschlag  wird das Äußere dabei der schönen Geschichte Scliars gerecht und das Buch hebt sich somit schon optisch und haptisch wohltuend von der sonstigen Einheitlichkeit der  Buchgestaltung auf dem deutschen Markt ab.

Scliars Erzählung versetzt uns, nach dem düsteren Beginn, der anhand eines Verhörprotokolls rekonstruiert wird, ins Jahr 1916 nach Osteuropa, genauer nach Bessarabien, wo die jüdischen Vorfahren des Dissidenten Jaime, vor allem sein Onkel Ratinho, lebten, bevor sie nach Brasilien flüchten mussten. Ratinho, zu jener Zeit noch jung, ist begeisterter Trotzkist, vor allem deshalb, weil auch sein bester Freund Jossi Trotzkist ist. Als Jossi eines Tages von einer geheimen Reise zurückkehrt, wird er plötzlich krank, ruft seinen besten Freund an sein Sterbebett und gibt ihm einen Auftrag, der direkt von Trotzki komme: Ratinho soll nach Prag fahren und einen Mann kontaktieren, der angeblich jüdischer Schriftsteller ist, von dem er dann weitere Anweisungen erhalte. Ratinho ist aufgeregt und ängstlich zugleich: Ist er schon so weit, dass er einen so wichtigen Auftrag im Dienste der Revolution erfüllen kann? Er nimmt all seinen Mut zusammen und tut es seinem Freund zuliebe – er setzt sich in den Zug nach Prag und macht sich auf die Suche.

Scliars kleiner Roman erzählt von dieser Suche, er erzählt vom Auftrag und von seltsamen Begegnungen, zu denen Kafkas Leoparden genauso gehören wie Kafka selbst. Es ist ein schöner Roman, der vielleicht nicht zu den besten Scliars gehört, aber einen sehr guten Einstieg in das Werk des Brasilianers bietet. Es gelingt ihm, einen subtilen und hintergründigen jüdischen Witz mit der sehr ernsten Thematik, die zwischen der Problematik der brasilianischen Militärdiktatur in den sechziger Jahren und der Judenverfolgung im Europa am Vorabend des Zweiten Weltkrieges changiert, zu verbinden und in einer Geschichte zu verweben, die bei aller Rätselhaftigkeit auch spannend ist.

Michael Kegler stellt seiner – wie immer vorbildlichen – Übersetzung noch ein kenntnisreiches Nachwort an die Seite, das den kleinen Text in Leben und Werk Scliars einordnet. Scliar muss – und wollte – , zusammen mit Clarice Lispector, tatsächlich als der brasilianische Schriftsteller gelten, der eine spezifisch jüdische Thematik in die brasilianische Literatur einführte und die jüdisch-brasilianische Literatur, die inzwischen eine reiche Tradition ausgebildet hat, zuerst begründete. Immer geht es in seinen Romanen daher um die Fragen der An- und Einpassung in eine fremde Gesellschaft, um Fremdheitserfahrungen und das Aufeinanderprallen von kulturellen Gegensätzen unterschiedlichster Provenienz, die nicht selten ironisch oder fantastisch übersteigert verhandelt werden.

In Kafkas Gleichnis nun, so zitiert Kegler Scliar, spiegelt sich für den Autor jenes „seinerzeit herrschende Unbehagen in der Kultur“, eine spezifisch jüdische, aber nicht nur jüdische Erfahrung im Europa der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, dem er in „Kafkas Leoparden“ genauso wie in seinem Gesamtwerk auf die Spur zu kommen versucht. Und offenbar geht es ja auch in dem Gleichnis nicht nur darum, das Ungeheure zur Normalität zu machen, sondern auch das vermeintlich Problematische zu integrieren und zum Teil des Selbstverständnisses zu machen.

Scliars Roman löst das Gleichnis nicht auf, aber er entfaltet in seinem erzählerischen Panorama zahlreiche Ausdeutungen, die den Text Kafkas direkt an die Erfahrungen der Juden in der aufziehenden Moderne knüpfen. Damit bildet der Text einen großartigen Einstieg in die inzwischen in vielerlei Hinsicht unbedingt lesenswerte und eminent wichtige jüdische Literaturtradition in Brasilien. Es steht zu hoffen, dass „Kafkas Leoparden“ nur den Auftakt zu dieser Neuentdeckung bildet: Ratinhos Geschichte, die jenes „kleinen, bescheidenen und listigen“ (Kegler) Helden, ist jedenfalls ein wunderbarer Anfang.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Moacyr Scliar: Kafkas Leoparden.
Übersetzt aus dem brasilianischen Portugiesisch von Michael Kegler.
Lilienfeld Verlag, Düsseldorf 2013.
130 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783940357335

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