Roman ohne Grenzen

„Das größere Wunder“ von Thomas Glavinic führt zum Höhepunkt eines besonderen Lebens

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Thomas Glavinic, 1972 in Graz geboren, veröffentlichte mit 26 seinen Debüt-Roman und lebt als Schriftsteller in Wien. Nach „Die Arbeit der Nacht“ (2006) und „Das Leben der Wünsche“ (2009) ist mit „Das größere Wunder“ nun sein dritter Roman erschienen, in dem sich alles um den Protagonisten Jonas dreht. Seine literarisch geäußerte Sehnsucht nach dem Deutschen Buchpreis fand auch diesmal, wie 2009, nach der Longlist ihre neuerliche Enttäuschung. Immerhin: „Das bin doch ich“ schaffte es 2007 auf die Shortlist.

Den Rahmen in „Das größere Wunder“ bildet der Aufstieg des Protagonisten Jonas auf den Mount Everst, der ihn physisch wie psychisch an seine Grenzen bringt. Neben seinen Leiden, Gedanken, dem mühsamen Akklimatisierungsprozess und den Schattenseiten des Massenhochgebirgstourismus wird in jedem zweiten Kapitel Jonas Lebensgeschichte aufgerollt. Während der Expedition selbst hat er nur selten die Kraft sich zu erinnern, wenn dies geschieht, dreht es sich immer um seine große, weit entfernte Liebe, Marie.

Den Vater früh verloren und den Launen der ebenso trinkenden wie rumhurenden Rabenmutter ausgesetzt, gehört Jonas ganze Liebe und Fürsorge seinem Zwillingsbruder Mike, der durch einen Zwischenfall bei der Geburt geistig behindert ist. Entscheidend für Jonas‘ Leben ist aber der am selben Tag geborene Werner, genauer gesagt dessen Großvater Picco, der die Zwillinge in seine Obhut nimmt. Als steinreicher Mann mit mafiosem Habitus ermöglicht er den Jungen eine Jugend ohne Grenzen.

Der Ausspruch „Hier geht alles!“ beseitigt alle Zweifel des Zehnjährigen. Bald wird er mit Werner nur noch von ausgesuchten Privatlehrern unterrichtet, sie haben Personal, das sie bei allen Dingen unterstützt, und bekommen durch die totale Freiheit, alles selbst zu entscheiden, disziplinäre Defizite. Mit zwölf schenkt Picco ihnen ein Schloss mit sieben verschlossenen Räumen, so genannten Zeitkapseln, zu denen sie irgendwann irgendwie den Schlüssel bekommen. Mit 13 beginnen die geheimnisvollen Reisen der beiden, geplant und begleitet, als Lebenslehre gedacht. Jonas lernt das Verabschieden, das Loslassen, das Beobachten. Er entdeckt im Reisen eine Form von Kommunikation mit sich selbst und der Welt in ihrer Gesamtheit, bekommt „Sehnsucht nach dem Un-Sinn“ und geht dieser mit seinem Freund Werner sehr ausführlich nach.

Was normalen Menschen als lebensmüde erscheint, ist für Jonas Neugier. Er lernt, „dass das Warum nicht stärker ist als das bloße Warum?“, und hat den ständigen Drang, etwas hinter sich zu bringen, sich oder etwas zu überwinden. Als die Jungen Vera kennen lernen – sie sind nicht einmal 16 –, ist die Kindheit vorbei. Und Jonas lotet mehr denn je seine Grenzen aus, will herausfinden, wer er ist und genau das werden. Picco spricht gar von der Verpflichtung, ein Leben zu führen, „das noch niemand zuvor gelebt hat“.

Bei Piccos Tod ist Jonas 18 und allein, auch seine Brüder hat er durch Schicksalsschläge verloren. Er schließt sich zwei Jahre in eine Wohnung in Rom ein und beginnt dann eine rasende Reise, kreuz und quer durch die Welt. Der geerbte Reichtum ermöglicht auf der Suche nach etwas, das größer ist als er selbst, die verrücktesten Eskapaden und Projekte: ein Flug von Rom nach Buenos Aires, nur um sich eine Toilette anzuschauen, 48 Stunden ohne Pause durch Amsterdam spazieren, Sex in der Koje auf Roald Amundsens Fram, sich für eine Million ein Baumhaus im Nichts bauen lassen. Er spielt mit seinem Leben, klaut, lebt einen Monat in Tschernobyl, verkauft indische Zeitungen in einem kleinen serbischen Dorf und wechselt ein Jahr lang mit keinem ein Wort.

In Tokio, Oslo, Jerusalem und Hamburg lernt er besondere Menschen kennen, die ihm bei den absurdesten Wünschen helfen, und beginnt sich für die Sonnenfinsternis zu begeistern. Er spürt immer wieder, dass irgendwo auf der Welt seine große Liebe wartet und findet sie eines Tages – natürlich halsbrecherisch.

Als Jonas‘ Lebensgeschichte erzählt ist, mündet sie in die Himalaya-Expedition und lässt den Leser mit Jonas die weiteren Etappen Richtung Gipfel stapfen.Das Zusammenspiel der verhusteten, fiebrigen Einöde Nepals und dem sich überschlagenden, verrückten Leben des ewigen, ungebremsten Kindes, funktioniert. Getrennt wäre ersteres ein langweiliger Bergroman mit zugegeben sehr realitätsnahen, kritischen, interkulturellen Schilderungen. Letzteres wäre allein für sich ein zu rasanter, philosophisch angehauchter Schelmenroman. Die Symbiose wirkt, wenn der Leser immer wieder vom Berg hinab in das Leben des Protagonisten schauen darf.

Während der Kapitel der peniblen Vorbereitung des Körpers auf den extremen Aufstieg, die Fehden, Wehwehchen, das Teetrinken und Nichtstun, sind einem die Streiche und Abenteuer eine willkommene Abwechslung. Glavinic ist ein großer Erzähler, er streut pausenlos neue Fährten und Geheimnisse ein, wirft Fragen auf, die nicht immer beantwortet werden. Aber Piccos allgegenwärtigen Leitsatz „Antworten werden überschätzt“ hat sich auch der Autor zu Herzen genommen. Einen Autofahrertrick, den Jonas Zach, sein allgegenwärtiger Gehilfe, verrät, überträgt er ins Leben: Schneller fahren als alle anderen, macht den Blick in den Rückspiegel überflüssig.

„Das größere Wunder“ ist ein Roman, der emotional fesselt. Erst Jonas‘ Weg durch die Todeszone, die unausweichlichen körperlichen Qualen, der „Höhepunkt der Schmerzpyramide“ lässt keine Nebengeschichten und Gedanken zu, weder beim Protagonisten noch beim Leser, der sich hier leicht in einen Höhenrausch lesen kann. Glavinic ist es erneut gelungen, eine wunderbar absurde Geschichte, einen Liebesroman an das Leben so zu erzählen, wie es in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nur wenige vermögen.

Titelbild

Thomas Glavinic: Das größere Wunder. Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2013.
523 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783446243323

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