Der Tod in Ferrara

In der Erzählung „Die Brille mit dem Goldrand“ schildert Giorgio Bassani das Schicksal eines homosexuellen Arztes und einer jüdischen Familie im Italien der Zwischenkriegszeit

Von Behrang SamsamiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Behrang Samsami

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Was geschah mit Athos Fadigati, nachdem die Sprechstundenhilfe die Glastür hinter dem letzten Patienten geschlossen hatte? Daß es unklar blieb, wie er seine Abende – oder zumindest die Tatsache, daß er sie nicht auf ganz übliche Weise – verbrachte, trug dazu bei, die Neugier der andern zu reizen. Ja, es gab an Fadigati irgend etwas, das nicht ganz verständlich war. Aber auch das war an ihm sympathisch und nahm für ihn ein.“

Athos Fadigati ist ein vielgeachteter Mann im Ferrara der 1920er-Jahre. Der Hals-, Nasen- und Ohrenarzt, der ursprünglich aus Venedig stammt, hat sich seit seinem Umzug in die norditalienische Stadt, kurz nach dem Ersten Weltkrieg, die Wertschätzung seiner Umgebung erworben: „Man hatte Gefallen gefunden an seiner höflichen, zurückhaltenden Art, an seiner offenbaren Uneigennützigkeit und seiner maßvoll-mildtätigen Einstellung gegenüber seinen ärmeren Patienten.“

Der neue Bürger der Stadt, der bald auch Chef der HNO-Abteilung des neuen Hauptkrankenhauses wird, kann sich über eine gut gehende Privatpraxis freuen. Die Kranken besuchen sie aber nicht nur, um sich von dem kultivierten Arzt behandeln zu lassen. Sie kommen auch, weil sie sich in der geschmackvoll eingerichteten Wohnung des passionierten Wagnerliebhabers wohl fühlen: „Eine Umgebung, in der die Zeit – die verdammte Zeit, die immer das große Problem der italienischen Provinz gewesen ist – verging, daß es ein Vergnügen war.“

So geachtet Fadigati auch ist, das Single-Dasein des über Vierzigjährigen lässt seine Umwelt aufhorchen und über seine sexuelle „Andersartigkeit“ spekulieren. Der Schriftsteller Giorgio Bassani (1916-2000), der aus einer bürgerlichen jüdischen Familie Ferraras stammt, schildert das Schicksal des Arztes in der erstmals 1958 veröffentlichten Erzählung „Die Brille mit dem Goldrand“. Knapp dreißig Jahre später wurde der Stoff unter der Regie von Giuliano Montaldo und mit Philippe Noiret als Fadigati verfilmt. Die vorliegende Textausgabe, übersetzt von Herbert Schlüter (1906-2004), ist eine Neuauflage der durchgesehenen Fassung von 2007.

Schritt für Schritt schlüsselt der Ich-Erzähler, ein Alter Ego des Autors, auf, dass Fadigatis Homosexualität so lange akzeptiert wird, so lange er die Konventionen nicht bricht. „Seine Zurückhaltung, die Mühe, die er sich offenbar bisher gegeben hatte und sich auch weiterhin gab, seine Neigungen zu verbergen und keinen Anstoß zu erregen“, schützen ihn.

„Wissen hieß soviel wie verstehen, hieß: nicht mehr neugierig sein und die Dinge auf sich beruhen lassen“, kommentiert der Ich-Erzähler das Verhalten der Bürger Ferraras. Der HNO-Arzt mit dem Vornamen Athos – man denke an die gleichnamige orthodoxe Mönchsrepublik – führe „wie Fredric March in dem Film Dr. Jekyll ein Doppelleben“. Zugleich fragt der Ich-Erzähler provokant: „Aber wer führte es nicht?“

Alles ändert sich, als Fadigati beginnt, sein Leben als Homosexueller in die Öffentlichkeit zu tragen. Er macht die Bekanntschaft von Studenten, die täglich von Ferrara nach Bologna fahren, um die hiesige Universität zu besuchen. Unter ihnen ist auch der Ich-Erzähler, der Philosophie studiert und den Mediziner noch aus seiner Kindheit kennt. Er bemerkt, wie der ältere Herr die Nähe der Kommilitonen, vor allem die junger, gut gebauter Männer, sucht. Bald begleitet der Arzt die Gruppe täglich mit der Bahn. Die immer heftigeren Anspielungen und Demütigungen der jungen Leute lässt er sich nicht nur gefallen, sondern scheint sie geradezu zu genießen.

Fadigatis Geschichte spielt im Italien der Zwischenkriegszeit. Trotz des Sieges auf Seiten der Alliierten im Ersten Weltkrieg erlebt das damalige Königreich Italien stürmische Zeiten. Der Ich-Erzähler deutet die Kämpfe zwischen Sozialisten und Faschisten an. Die Faschistische Partei wird als großes Sammelbecken dargestellt – „für alle, die noch keinen Platz gefunden hatten“. Dem Arzt, der sich selbst einmal als „,von Natur unpolitisch“ erklärt hatte, wird die Mitgliedschaft vom Segretario Federale, dem nationalsozialistischen Gauleiter entsprechend, zugetragen.

Andere treten von sich aus ein: „Romantisch, patriotisch und politisch naiv und unerfahren wie so viele Juden seiner Generation, war auch mein Vater, als er 1919 aus dem Kriege zurückkam, der Faschistischen Partei beigetreten. Er war also ein Faschist ,der ersten Stunde’ gewesen und war es im Grunde auch geblieben, trotz seiner Rechtschaffenheit und seines Sinnes für Maß. Doch seitdem Mussolini nach den ursprünglichen Streitigkeiten sich mit Hitler zu einigen begann, war er nervös geworden. Er dachte nur noch an einen möglichen Ausbruch von Antisemitismus auch in Italien; und gelegentlich ließ er sich – und litt zugleich darunter – manch bittres Wort gegen das Regime entschlüpfen.“

Bassani verknüpft in „Die Brille mit der Goldrand“ die Geschichte zweier verschiedener Schicksale. Das Verhalten der Menschen gegenüber dem homosexuellen Fadigati und der Familie des Ich-Erzählers wirkt wie ein Gradmesser der Toleranz im Italien der 1920er- und 1930er-Jahre. Für den Arzt wie die Familie ändert sich die Situation nach der Annäherung zwischen dem faschistischen Italien und Nazideutschland seit 1935/36. Auch in anderen Werken hat sich Bassani mit diesen, ihn prägenden Jahren befasst. Am Bekanntesten ist wahrscheinlich sein preisgekrönter Roman „Die Gärten der Finzi-Contini“ (1962). Im Mittelpunkt steht die (ebenfalls tragische) Geschichte der gleichnamigen, wohlhabenden jüdischen Familie aus Ferrara bis hinein in den Zweiten Weltkrieg.

Offensichtlich wird die Überlagerung beider Konflikte in „Die Brille mit dem Goldrand“ während des Sommeraufenthalts des Ich-Erzählers. Seine Familie verbringt ihn in Riccione an der adriatischen Küste, wo sie vielen anderen bekannten Gesichtern aus ihrer Heimatstadt begegnen. Unter diesen ist auch die etwa 40-jährige Signora Lavezzoli, die Frau eines Zivilrechtlers, Universitätsprofessors und ehemaligen Abgeordneten. „Damals beeinflußte sie maßgeblich die öffentliche Meinung Ferraras.“

Signora Lavezzoli steht als Gegenfigur für den Opportunismus, der die Moral über Bord wirft, wenn es eigenen Interessen nützt. So rühmt sie Mussolini und rechtfertigt die Ermordung des österreichischen Kanzlers Engelbert Dollfuß im Jahr 1934 durch die Nazis: „Das sind die politischen Notwendigkeiten, leider! Lassen wir die persönlichen Sympathien oder Antipathien beiseite – Tatsache ist, daß unter bestimmten Umständen ein Regierungschef, ein Staatsmann, der diesen Namen verdient, fähig sein muß, sich zum Wohl seines Volkes über das Feingefühl gewöhnlicher Menschen – kleiner Leute wie wir – hinwegzusetzen.“

Den Ich-Erzähler und seine Angehörigen brüskiert Lavezzoli, indem sie einen Artikel über die „jüdische Frage“ bejahend zitiert, die in der von den Jesuiten herausgegebenen Zeitschrift „La Civiltà Cattolica“ erschienen ist. Darin werde versucht, die Verfolgungen der Juden als Zeichen göttlichen Zorns zu erklären. Und es ist wieder Signora Lavezzoli, die den zeitgleichen Aufenthalt von Fadigati mit einem jungen, athletisch gebauten Mann namens Eraldo Deliliers, einem Kommilitonen des Ich-Erzählers, in Riccione skandalisiert.

Der HNO-Arzt hatte Deliliers während der Bahnfahrten nach Bologna kennen und lieben gelernt. Doch das beruht nicht auf Gegenseitigkeit. Zwar kauft der ältere Mann seinem Liebhaber einen nagelneuen Alfa Romeo vom Typ Mille Miglia und bezahlt den Urlaub an der Küste. Doch der Junge lässt sich nur aushalten und selten mit Fadigati blicken. Der Arzt liegt am Strand und liest Homer, bis sich die Gelegenheit findet, mehr und mehr Zeit mit dem Ich-Erzähler und seiner Familie zu verbringen.

Diese Szenen wirken wie eine Anspielung auf Thomas Manns Novelle „Tod in Venedig“. Fadigati weiß um die Gefahr, die der Aufenthalt an der Küste für ihn bedeuten kann. Wohl aber aus Angst, Deliliers und damit den einzigen geliebten Menschen zu verlieren – auch wenn ihn dieser demütigt und bloßstellt – nimmt er es in Kauf, seinen Ruf zu verlieren.

Bassani lässt den Ich-Erzähler zwanzig Jahre später, Mitte der 1950er, auf die oben geschilderten Ereignisse zurückblicken. Man merkt die Bitterkeit, mit der der älter gewordene Ich-Erzähler die Zwischenkriegszeit zeichnet. Mit dem Wissen, was im Zweiten Weltkrieg auch mit den italienischen Juden passiert ist, erinnert er an die falschen Versprechungen der Faschisten ihnen gegenüber. Am Beispiel seiner Familie zeigt er auch, wie sich die Eltern in die fatale Hoffnung flüchten, die Rassengesetze, wie sie in Nazideutschland eingeführt wurden, würden ihnen erspart bleiben.

Doch nicht nur aus zeithistorischer Sicht ist „Die Brille mit dem Goldrand“ beeindruckend. Die Erzählung ist ein sehr literarischer Text, geschrieben in einer klaren und ruhigen Sprache. Präzise und überzeugend zeichnet Bassani seine Figuren, die sich der Leser gut vorstellen kann – auch vielleicht, weil er sie aus anderen Romanen des Autors kennt. Der Ich-Erzähler der „Brille“ ist auch der des Romans „Hinter die Tür“ (1964), in dem Bassani den Wechsel von der Kindheit in die Adoleszenz beschreibt. Athos Fadigati findet darin ebenso Erwähnung wie Otello Forti, ein Freund des Ich-Erzählers aus „Hinter der Tür“, in „Die Brille mit dem Goldrand“.

Was aber die Lektüre des letzten Textes auch und vor allem zu einem großen Gewinn macht, ist die offene Art, mit der der Ich-Erzähler nicht nur das Verhalten seiner Umgebung, sondern auch sein eigenes kritisch hinterfragt. Es gelingt, die Konflikte in und zwischen den Figuren der Erzählung genauso anschaulich zu machen wie die unterschiedlichen Versuche, mit der Enge und Intoleranz der Gesellschaft umzugehen. Dabei stellt Ferrara den Hintergrund dar, vor dem die verschiedenen Schicksale in den Kontext des zunehmenden Antisemitismus im faschistischen Italien gestellt werden. Bassani fängt die beklemmende Stimmung jener Zeit nüchtern, aber umso eindringlicher ein.

Titelbild

Giorgio Bassani: Die Brille mit dem Goldrand. Erzählung.
Übersetzt aus dem Italienischen von Herbert Schlüter.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2013.
112 Seiten, 8,90 EUR.
ISBN-13: 9783803127006

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