Sonde in den Bewusstseinsstand

Walter Kempowskis „Befragungsbücher“ in einem Band

Von Alexandra PontzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Pontzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schon als Kind wollte Walter Kempowski (1929-2007) „Archiv“ werden. Nichts kennzeichnet seinen Impuls und seine Methode als Schriftsteller besser als dieses Stichwort (siehe literaturkritik.de 10/2008). Das gilt selbstredend auch für die beiden von ihm selbst so benannten „Befragungsbücher“, die er in den 1970er-Jahren veröffentlichte: „Haben Sie Hitler gesehen?“ (1973) und „Haben Sie davon gewusst?“ (1979). Ihr thematischer Zusammenhang mit der „Deutschen Chronik“, die beginnend mit „Tadellöser und Wolf“ ab 1971 erschien, liegt auf der Hand. Laut Kempowski sollen sie denn auch dem Leser seiner Romane „eine allgemeinere, ja chorische Begleitung und Erklärung an die Hand geben“.

Der vorliegende Band vereint beide Bücher, wobei „Haben Sie Hitler gesehen?“ auf einer vom Autor selbst um ein Drittel erweiterten Fassung von 1999 beruht. Laut Klappentext war dieses erste Befragungsbuch „auch international“ ein Bestseller, was die spätere Erweiterung erklären mag. Hinzu kam das, auch jetzt wiederabgedruckte, überaus instruktive Nachwort von Sebastian Haffner, das das Buch auch für Unterrichts- und Studienzwecke geeignet machte. Vom verlegerischen Standpunkt ist es dann noch als glückliche Fügung anzusehen, dass der jüngsten Neuausgabe überdies ein Vorwort von Joachim Gauck vorangestellt ist; es trägt das Datum „Januar 2012“, stammt also aus der Zeit vor seiner Wahl zum Bundespräsidenten im März jenes Jahres.

Von den, geschätzt, rund 800 „Deutsche[n] Antworten“ (Untertitel) entfallen circa 300 auf die Frage „Haben Sie davon gewusst?“. Anscheinend oder scheinbar, das bleibt offen, wissen die Gefragten auf Anhieb, was mit dem „Davon“ gemeint ist, denn sie äußern sich ohne Umschweife zu ihrem seinerzeitigen Wissen respektive Nichtwissen über die nationalsozialistischen Konzentrationslager – viele zitieren den Spottausdruck „Konzertlager“ –, und den Mord an den Juden.

Alle nach der Chronologie der Hitlerjahre angeordneten Antworten konfrontieren den Leser mit Erinnerungspartikeln von Personen, die durch Angaben zu Geburtsjahr und Beruf annähernd charakterisiert und in ihrer übergroßen Mehrheit wohl zur Kategorie der Mitläufer aus der Mittelschicht zu zählen sind; ihre Auswahl erfolgte nicht nach Gesichtspunkten der Demoskopie, sondern oblag dem Zufall beziehungsweise dem Belieben des Autors. Sie sprechen aus dem Nachhinein und offensichtlich spontan, ohne längere Überlegung. So kommt es, dass in den Äußerungen Unwillkürliches, viel Selbstbeschreibung und Selbstreflexion, mitschwingt. Nicht was die Befragten erinnern – das ist zumeist banal und tausendfach bekannt –, sondern wie sie darüber im Abstand der Jahre denken und reden, ist das Entscheidende und macht den Erkenntnisgewinn aus.

Hier liege das Verdienst des fragenden Kempowski, so Haffner. Er spricht von dessen „listiger Indirektheit“, denn er frage nicht danach, was die zumeist in ihren Fünfzigern Stehenden heute, das heißt in den 1970er-Jahren, von Hitler halten und wie sie ihre heutige Haltung mit ihrer früheren vereinbaren, sondern er stelle eine „scheinbar harmlose und unverfängliche Sachfrage“. Die Antworten, die er so erhalten habe, erschöpften sich nicht im ausweichenden Ungefähr, nicht in Ja oder Nein, vielmehr ergingen sie sich in Unter- und Zwischentönen in ihrer „ganzen unkorrigierten Unschuld und Unbedachtheit“. Dem ist uneingeschränkt zuzustimmen.

Haffner wie später auch Gauck sinnen dem Ertrag nach, den sie für sich aus der Lektüre gewonnen haben. Haffner sieht darin einen Beitrag zur Beantwortung der Grundfrage, was in der „Hitlergeneration“ vorging, die sich erst dem Diktator in die Arme warf und ihn dann „hinterher“ schweigend ad acta legte. Geboren 1907, Emigrant 1938 und Hitlergegner von Anfang an (siehe literaturkritik.de 7-2008), weiß Haffner plausible Gründe anzugeben für die „Kollektivblindheit, das Hitlerfieber“ der 1930er-Jahre; und für das nachträgliche „Beschweigen“ (Hermann Lübbe) hat er auch Verständnis. Er findet es „gesund“, wenn ein Befragter von der eigenen Hitlerbegeisterung inzwischen wie von einer überstandenen Krankheit spricht: „Mir ist heute noch rätselhaft, wie ein Mann einen so mitreißen konnte.“ Für Haffner ist die Frage nach Hitler in den 1970er-  Jahren längst eine „Generationsfrage“.

Joachim Gauck erzählt, für ihn habe sich durch die Lektüre, deren Zeitpunkt er nicht angibt, der Blick auf die Elterngeneration, die er wie seinesgleichen allgemein a priori für schuldig hielt, verändert. „Da zeigt sich Menschliches auch im Opportunistischen und sogar im Bösen.“ Kempowski habe mit Hunderten von „Originaltönen“ festgehalten, „dass die Wirklichkeit vielschichtiger war als mein, als unser damaliges Denkkonstrukt über sie“.

In seiner Notiz von 1979 hat der Autor eine Spur zur Lesart seiner „Befragungsbücher“ als „Sonde“ zur Erkundung des „gegenwärtigen Bewusstseinsstand[es] unseres Volkes“ zwar selbst gelegt, sein ursprüngliches, ihm eigenes Anliegen als „Archiv“ aber nicht verschwiegen: „Andererseits dachte ich mir, wenn diese Bilder, die unsere Mitmenschen noch immer mit sich herumtragen, diese schattenhaften Eindrücke, nicht aufgeschrieben und aufgehoben werden, dann ist das Leiden all der vielen Opfer noch sinnloser, als es ohnehin schon war.“ So stellt sich am Ende die Frage, ob nicht dieselbe „Unschuld“, die Haffner den auf Kempowskis Fragen Antwortenden zuschreibt, nicht auch auf die Fragen und Kempowski selbst zutrifft.

Titelbild

Walter Kempowski: Haben Sie Hitler gesehen? Haben Sie davon gewusst?
Mit einem Vorwort von Joachim Gauck.
Knaus Verlag, München 2012.
348 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783813504811

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