Ironische Hanswurstiaden oder hyperbolische Pamphlete?

Der letzte, aber nicht abschließende, von Andreas Urs Sommer bearbeitete Teilband des großen Nietzsche-Kommentars zu dessen nicht mehr veröffentlichten späten Schriften

Von Andreas R. KloseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas R. Klose

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Grunde könnte man es knapp machen und suggestiv fragen: Kann ein wissenschaftliches Großprojekt wie ein mehrbändiger Nietzsche-Kommentar, der von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften herausgegeben, von angesehenen Nietzsche-Experten verfasst und von einem Verlag wie de Gruyter veröffentlicht wird, überhaupt ein Misserfolg sein?

Andreas Urs Sommer ist durch seinen schon 2000 erschienenen Kommentar zu Nietzsches „Der Antichrist“ in besonderer Weise berufen, sich im Rahmen des auf insgesamt sieben Bände angelegten Nietzsches-Kommentars (inklusive Registerband) den späten Schriften Nietzsches zuzuwenden: Der zweite Teilband des sechsten Bandes behandelt die von Nietzsche nicht mehr veröffentlichten Schriften seines letzten ‚wachen‘ Jahres. Was Sommer über die „Dionysos-Dithyramben“ bemerkt, könnte cum grano salis auch über die anderen späten Schriften Nietzsches gesagt werden: Sie werden entweder „als Beleg für die Nähe Nietzsches zum Wahnsinn oder als Beleg für sein atemberaubendes kompositorisches Geschick noch in den letzten bewussten Tagen herangezogen […]. Sie gelten wahlweise als autobiographische Informationsquellen oder als hochartifizielle Kunstprodukte.“ Eine verharmlosende oder Pathologisches herausarbeitende Deutung von Nietzsches letzten Schriften verfehle nach Sommer aber die „in Nietzsches Augen welt- und moralerschütternden Probleme, die diese Schriften aufwerfen und zu bewältigen beabsichtigen.“ (Andererseits drücke sich die „Gebrochenheit und Zerrissenheit des gequälten Ichs“ in den „Dionysos-Dithyramben“ „auch in auffallend häufigen Paradoxien und in Oxymora aus, die nicht nur manieristische Kunstmittel sind.“)

Gelegentlich begegnet man Lesern, die Kommentare oder kommentierte Ausgaben von Nietzsches Schriften als eine Art Bevormundung betrachten: Als führten sie auf eine falschen Weg, als hielten sie den Leser vom Selbstdenken ab. Eine solche Auffassung ist zwar dezidiert, aber auch unwissenschaftlich. Denn ein Kommentar schafft nach Sommer durch „Kontextualisierung“ gerade erst Distanz zu Nietzsches „denkerischem Extremismus“: Die Spätschriften üben durchaus Reiz, Faszinations- und Versuchungskraft aus und weisen eine Steigerung der katastrophischen Grundtendenz auf, „die Nietzsche selbst als eine Tendenz zu radikaler Verneinung diagnostiziert und mit einem Programm des ‚Bejahens‘ auszugleichen versucht, bis zum Vernichtungsrausch.“ Für den späten Nietzsche waren Egalitarismus und Demokratie „die Feinde schlechthin“. Und Sommers, wiederum auf die „Dionysos-Dithyramben“ bezogenes Wort der „Intensivierungsstrategie“ gilt auch für die anderen Texte des Jahres 1888: Nietzsche sah sich zunehmend „in der Rolle des politischen Agitators“, und auch „Ecce homo“ erfüllte einen „propagandistisch-protreptischen Zweck“.

Sommers Kommentar will die Quellen von Nietzsches Denken zutage fördern, Spuren von Nietzsches Lektüren und intellektuelle Bezugnahmen nachweisen, Inkonsistenzen aufzeigen und die Gedankengenese enträtseln. Dies alles gelingt natürlich hervorragend im historisch-philologischen Zusammenhang. Eine deutende Gesamtinterpretation aber gibt Sommer nicht. Der Motivaspekt der Gedankengenese, das Warum von Nietzsches Denken wird nicht in den Vordergrund gestellt. Mit anderen Worten: Nietzsches Gedankenexzesse bleiben eher ‚unenträtselt‘.

Der Kommentar ist übersichtlich gegliedert: Jeder der vier Schriften ist ein Überblickskommentar zugeordnet, der ungefähr zwanzig Seiten umfasst und mit seinen Ausführungen zu Entstehung, Quellen, Konzeption und Wirkung sehr informativ ist. Anschließend folgt der Stellenkommentar, der sich nach Seiten- und Zeilenzahl auf die von Giorgio Colli und Mazzino Montinari herausgegebene, weit verbreitete und auch von Wissenschaftlern benutzte und als handliche Taschenbuchausgabe erhältliche „Kritische Studienausgabe“ in 15 Bänden (KSA) bezieht. Der Stellenkommentar zu „Der Antichrist“ umfasst rund 300 Seiten und ist damit mehr als dreimal so umfangreich wie Nietzsches Schrift, aber noch nicht mal halb so lang wie Sommers, aus seiner Dissertation entstandener Einzelkommentar. Alle fremdsprachlichen Zitate, und derer sind zahlreiche, wurden übersetzt. Bei Zitaten aus Nietzsches Nachlass wurden, soweit möglich, die neuesten Lesarten der neunten Abteilung der „Kritischen Gesamtausgabe der Werke“ (KGW) berücksichtigt.

Das Literaturverzeichnis trennt die von Nietzsche benutzten und herangezogenen Werke von der später erschienenen Forschungsliteratur. Nicht genug herauszustellen ist das 31seitige Sach- und Begriffsregister, welches die oft auftauchenden Begriffe „Leben“, „Liebe“ oder „Mensch“ ebenso enthält wie die von Nietzsche selten gebrauchten Worte „Räthselthier“, „Selbstthierquäler“ oder „Ursachen-Sinn“ (beispielsweise aber nicht das von Nietzsche ebenfalls benutzte Wort „Vielsamkeit“).

Der Nietzsche-Kommentar ist keineswegs hermetisch, sondern allgemein verständlich geschrieben. Sommer gebraucht gar Worte wie „tumb“ oder Wendungen wie „vom Kaliber des Christentums“, und er quält die Benutzer nicht mit modischen oder inhaltsleeren – oder so wirkenden – Formulierungen, wie sie in einer unlängst erschienenen, literaturwissenschaftlich inspirierten Studie zu Nietzsches Spätwerk gleich Preziosen eingestreut sind.

Hin und wieder stellt sich die Frage, ob derart umfangreiche Zitate – beispielsweise aus dem 14. Band der KSA, dem Kommentarband also – wirklich erforderlich sind, wo sich der vorliegende Nietzsche-Kommentar doch ausdrücklich auf die KSA bezieht? Stattdessen hätte man sich weitergehende Interpretationen von Andreas Urs Sommer gewünscht.

Das – im allgemeinen Sinne – Kritische des Kommentars besteht in Sommers selbstbewusst vorgetragenen Überlegungen zu argumentativen Schwächen oder gedanklichen Irrwegen in den Texten des späten Nietzsche. Sommer bezeichnet Nietzsche als „vermeintlich so solitäre[n] Denker“: Er sei zwar bewusst bemüht gewesen, sich und sein Denken außerhalb der philosophischen Tradition zu stellen, aber beim „näheren Hinsehen besteht freilich Nietzsches Originalität häufig weniger in seinen Ideen als solchen, sondern in deren Zuspitzung.“ Mitunter aber scheinen Sommers philosophische Widerlegungen und Entgegnungen an dem Dichterischen, Polemischen oder Rhetorischen einer betreffenden Passage vorbeizugehen. Mehrfach weist Sommer auf widersprüchliche Strategien Nietzsches als Autor hin. So erfülle der Gebrauch der genealogischen Verfahrensweise in„Der Antichrist“ im Vergleich zu „Ecce homo“ entgegen gesetzte Absichten: Während die Betrachtung der Geschichte des Christentums dazu diene, „es als verwerflich zu entlarven“, soll die Darstellung der Geschichte „des umwertenden Ichs“ in „Ecce homo“ einen gegenteiligen, und zwar einen rechtfertigenden Effekt haben. Überhaupt wird Nietzsche die „situative Anpassung des polemischen Instrumentariums“ und der gewaltsame Umgang mit den Quellen wiederholt zum Vorwurf gemacht. (Bei alledem kann Sommer ‚nebenbei‘ noch schildern, wie ein Text Nietzsches der Vernichtung durch seine Schwester entging.) Aber auch der Inhalt wird beurteilt: Aus dem „Antichristen“ könne „kaum die positive Utopie einer neuen Religion“ gewonnen werden, zumal Nietzsches Schlüsselkategorie des Lebens „sehr offen“ bleibe. Auch auf antisemitische Ressentiments wird hingewiesen. Doch macht sich der Kommentator in diesem Zusammenhang große Mühe, das Offensichtliche – den negativen Affekt – nachzuweisen.

Eine „Größen- und Allmachtsphantasie“ sei charakteristisch für Nietzsches späte Texte: Seine „stellenweise größenwahnsinnig anmutende Unbescheidenheit ist die Inversion der christlich geforderten Demut“. Jedoch wollte Nietzsches „Antichrist“ nach Sommer in der Welt „etwas ganz Entscheidendes, etwas absolut Umwälzendes“ erreichen. Und da Sommer zugesteht, dass sich Nietzsche „durchaus als Schicksal der Moderne erwiesen“ hat, könnte der Einwand geltend gemacht werden, dass sich Nietzsche nur zu gut selbst erkannte. Die Unbescheidenheit bliebe zwar: Aber nicht alle Leser nehmen an ihr Anstoß. Verübeln wir denn großen Künstlern ihre überbordende Eitelkeit?

Die Neugier der Leser „nach einer letzten und endgültigen Identifikation Ariadnes“ bleibt sinnvollerweise unbefriedigt („Wer weiss ausser mir, was Ariadne ist!“); aber unbeantwortet bleibt auch eine wie in der in der Überschrift gestellte Frage: Der Nietzsche-Kommentar will, trotz kritischer Bemerkungen, nicht die Richtung weisen, in die der Leser gehen soll, sondern ‚nur‘ das Rüstzeug für den Weg, gleichsam die hermeneutischen (Flügel)Schuhe zur Verfügung stellen. Sommer ist nachdrücklich zuzustimmen, wenn er Nietzsche eine „multizentrische Persönlichkeit“ zuschreibt, weshalb man ihn „nicht so leicht auf eine in sich stimmige Haltung festlegen kann.“ Andere und durchaus deutungsfreudigere Kommentare verlieren also keineswegs ihre Berechtigung.

Gründlichkeit und Umfang des „historischen und kritischen“ Nietzsche-Kommentars sind beeindruckend, selbst wenn Kommentare zu einzelnen Werken Nietzsches ihn darin sogar noch übertreffen werden oder bisweilen schon übertroffen haben. Es bleibt zu hoffen, dass der vollendete Kommentar in einer preiswerten Gesamtausgabe erscheint, damit er von vielen interessierten Nietzsche-Lesern erworben werden kann und nicht allein in den Regalen großer Bibliotheken zu finden ist.

Titelbild

Andreas Urs Sommer: Nietzsche-Kommentar. Der Antichrist, Ecce homo, Dionysos-Dithyramben, Nietzsche contra Wagner.
De Gruyter, Berlin 2013.
921 Seiten, 69,95 EUR.
ISBN-13: 9783110292770

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