Zieht Russland aus?

Der Exilant Piotr Silaev nähert sich in „Exodus“ der russischen Hoffnungslosigkeit von der Warte eines radikalen Außenseiters

Von Alexandra SauterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Sauter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer „Russland“ liest, denkt „Menschenrechte“. Starke Wörter ziehen mitunter einen Schatten nach sich, der manchmal größer werden kann als das eigentliche Wort. Dass Russland die Menschenrechte ignoriert, kann heute nicht einmal derjenige überhören, übersehen oder überlesen, dem Politik einerlei ist. In Vergessenheit geraten Glasnost, Perestrojka und kulturelle Errungenschaften eines besonderen Landes – weder Europa noch Asien ganz zugehörig, mit einer Weite, die einen allein beim Blick auf den Globus in Bann nimmt.

Wo die Staatsgewalt mit grober Gleichgültigkeit umtriebige Andersdenkende verhaftet, vor ein Gericht stellt und oft auf fragwürdige Weise schuldig spricht, suchen kritische Stimmen ihren Weg: Dissidenten schreiben Blogs und senden oft notgedrungen aus dem Ausland ihre Kritik zurück in die Heimat. Piotr Silaev, alias DJ Stalingrad, ist einer jener Exilanten. Als Mitglied einer antifaschistischen Gruppierung wird er mit einem internationalen Haftbefehl gesucht, er lebt in Spanien. 2011 erschien seine Schrift „Exodus“ in Russland im Samisdat und in diesem Sommer in deutscher Übersetzung. „Exodus“ nimmt einen mit hinein in die Welt eines militanten jungen Mannes.

„‚Schlagt sie alle tot!‘, schreit Kolja im Alkoholwahn, und ein paar Muskelpakete fangen an, systematisch alle rauszutragen, die sich auf der Tanzfläche befinden. Eine Stunde vorher haben wir schon alle Wichser eingepudert, die vor dem Klub auf unsere Ankunft warteten, dann alle ihre Freunde, die Gäste aus Moskau, alle Penner, die uns unter die Augen kamen. Totale Säuberung, viele Opfer. Und nun giert die ganze Stadt nach unserem Blut, alle warten auf das Ende des Konzerts. Mir haben sie den Kopf eingeschlagen, Haare und Jacke sind voll Blut, ich bin fasziniert. Es ist mal wieder großartig. ‚Ich liebe diese Auftritte in Rjasan!‘, sagt Fedja.“

Allein oder in der Gruppe macht sich der Ich-Erzähler auf zu Konzerten, Fußballspielen und anderen Gelegenheiten zum Kämpfen. Er nimmt teil am „Krieg“, wie er es nennt, der in Russland und anderen Städten der ehemaligen Sowjetunion tobt. Hände werden durchstochen, Schädel aufgerissen, mittels Eisenstangen und Messern, manche Verletzung ist tödlich. Die Polizei, oft unterstützt durch die russische Sondereinheit OMON, handelt, sobald die Kämpfer schwach und blutend darnieder liegen. Silaevs Held liebt diese Kämpfe: „Ich spüre gerne Schmerz“, gesteht er, „auch wenn es unangenehm ist, das zuzugeben.“ Ein Masochist muss der sein, der sich in selbstzerstörerische Schlachten begibt wie jene, die „Exodus“ auf wenigen Seiten zahlreich schildert – das versteht sich ohne Worte. Die Scham, die er bei diesem Geständnis zu spüren behauptet, verwundert – benennt er in seiner Lebensschau doch intime menschliche Regungen anderen Ausmaßes.

Seines Leidens möchte der Erzähler sich im Rückblick auf dem Papier entledigen, so formuliert er es einleitend. Doch kann man schreibend ablegen, was man schreibend nicht erfasst, weil man seine Empfindungen und Erkenntnisse allein in Pauschalitäten zusammenfasst? Oder anders: Was geschieht in ihm, wenn laute Musik, Geschrei, Arme ihn umfangen, er das Blut der anderen schmeckt und die eigenen Verletzungen erblickt, bevor er den Schmerz spürt? Und überhaupt: Wieso macht man so etwas mit? „Hass“, „Blut“, „Krieg“ und eine Auswahl gängiger vulgärer Wörter sind die Begriffe, mit denen der Erzähler seiner Seele und Motivation Ausdruck verleiht.

Zugleich verfolgt er eine weitere Strategie: Seinen und den Weg der Freunde Fedja, Kolja und anderer möchte er in einem größerem Ganzen verorten. Die austauschbaren Kampfschilderungen unterbricht er mit Überlegungen zum Sinn des Lebens und der Welt. Er beschreibt Lebensläufe wie den des Anarcho-Punkrockers Kevin Michael Jesus Allin, offenbar ein Idol der Szene. Auch die eigene Kindheit handelt er kurz ab: arm, brutal, geschlagen von der Mutter. Reicht all das als Erklärung für eine Weltsicht, die er in folgende Worte kleidet? „Das Leben ist eine Pokerrunde und du hast ein totales Scheißblatt. In dieser Situation ist es richtig, vabanque zu spielen, alles zu setzen. Es bleibt dir immer ein letzter Chip, den du bis zum Schluss nicht verlieren wirst: Dein Leben, und das setzt du wieder und wieder, und die Gegner passen und schmeißen die Karten hin. Das ist ein sicherer Weg, um bis zu einem bestimmten Punkt einen ordentlichen Batzen zu gewinnen. Doch einmal werden sie dich beim Bluffen erwischen und umlegen. Das ist unausweichlich.“ Silaevs Ich-Erzähler setzt Gewalt mit Gewalt gleich, hier wie in all seinen Bildern, und ist auf diese Weise weit entfernt von jener „höheren Wahrheit“, die er an anderer Stelle für sich in Anspruch nimmt. Ebenso plump inszeniert der Text den Sinneswandel. „Schwermut“ blinkt wiederholt wie ein Warnlicht darin auf. Doch was verbirgt sich hinter jener Selbstdiagnose? Sehnsucht nach Geborgenheit? Die Ahnung, dass der eigene Pessimismus übersteigert ist?

„Exodus“ wollte vermutlich – folgt man den Signalen – eine psychologische Studie sein mit großer Aussagekraft. Ein Außenseiter erinnert seinen Weg in die Gewalt hinein und aus ihr heraus, auch im Nachhinein noch zornig auf die Angepassten, das System und das irdische Unrecht in Gänze. Sein  Land ist gespalten, korrupt oder arm. Unzensiert offenbart er ein faschistoides Weltbild und dahinter sein größtes Leiden, das Selbstmitleid. Dass dieser Lebensweg nicht schlüssig wird, liegt weder am Inhalt, noch an der Unreife des Erzählers. All das ist literarisch grob ausgeführt. Jede Szene, die aufschlussreich werden könnte, endet plakativ. Auch der Vergleich mit dem biblischen Urmythos, dem Auszug der Israeliten aus Ägypten und die Suche nach dem gelobten Land – er wird im Text aufgegriffen – bleibt leere Formel. Zieht Russland aus?

Was bis zum Ende des Hauptteils literarisch verunglückt ist, wird durch einen ausführlichen Anhang zum Widerspruch in sich. In „Backstage“ liefert DJ Stalingrad Namen der tatsächlichen Orte, Personen und Informationen zu einzelnen der zuvor beschriebenen Szenen – vieles war schon vorher mehr oder minder klar. Wir erfahren, dass das Ganze irgendwie doch die Geschichte des Autors ist. Die Brutalität der Antifaschisten ist Silaev zufolge eine Reaktion auf eine breite neonationalistische Bewegung in der ehemaligen Sowjetunion. Die unterdrückten Menschen, die ihm dabei am Herzen liegen, hält er von uns fern: „Der Sowjetische Mensch – es ist schwierig, das jemandem zu erklären, der nicht in einer postkommunistischen Gesellschaft geboren ist.“

„Exodus“ scheitert an der Unentschiedenheit zwischen literarischem Psychogramm und autobiografischer Rechtfertigung. Und an der mangelnden Einsicht, dass mehr als ein duldsames Blatt Papier nötig ist, um zu schreiben. Geschuldet mag das Scheitern auch der Atemlosigkeit der Flucht sein, aus der heraus der Text offenbar entstanden ist. Doch auch das wäre eine Rechtfertigung.

Die geknechtete und entrechtete russische Gesellschaft – sie bleibt ein Rätsel. Dabei hätte diese Außenseitergeschichte eine Ahnung dessen vermitteln können, was Rundfunk, Fernsehen und Presse meist unterlassen, trotz zuverlässiger Berichte über Schauprozesse gegen Bürgermeisterkandidaten und Punkbands: Woran man glaubt, wenn man sich auf nichts verlassen kann.

Titelbild

Piotr Silaev: Exodus.
Übersetzt aus dem Russischen von Friederike Meltendorf.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2013.
131 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783882210712

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