Nach dem Verlust des Glücks

Terézia Mora erzählt in „Das Ungeheuer“ von Schmerz, Zerrissenheit und Trauer

Von Gunter IrmlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gunter Irmler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bewegend erzählt Terézia Mora in „Das Ungeheuer“ vom jähen Verlust des Glücks und von einer großen melancholischen Reise. Im scheinbar unangreifbaren Paradies lebten der Informatiker Darius Kopp und seine Frau Flora noch vor dem Jahrtausendwechsel – mit „entsprechender Vollausstattung an Lifestyle und Technik“, wie Darius sich erinnert. Er verkaufte damals für eine amerikanische Firma Geräte für drahtlose Netzwerkkommunikation, doch mit dem Platzen der New-Economy-Blase 2000 verloren beide ihre Jobs und gerieten ins Schlingern. Nun erfährt er wie aus heiterem Himmel, dass sich seine Frau umgebracht hat. Wie soll sein Leben weitergehen? „Mit dir war ich glücklich. Das war mein Leben. Wie kannst du es wagen, nicht leben zu wollen, wo ich dir doch zu Füßen liege?“ Darius Kopp droht aus der Spur zu geraten.

Dass Terézia Mora, geboren 1971 in Ungarn, die Manie der Start-up-Economy, ihre Innenwelt und ihren Niedergang überzeugend literarisch in Szene zu setzen weiß, hat sie in ihrem hochgelobten letzten Roman „Der einzige Mann auf dem Kontinent“, der 2009 erschien, bewiesen. Die in Berlin lebende Autorin erhielt zahlreiche Preise, unter anderem den Ingeborg-Bachmann-Preis. Schon dieser letzte Roman zeigte, wie die großen Illusionen und Träume des liebenswürdigen Mittvierzigers Darius Kopp in einem lächerlichen Businesscenter zerfallen. Wie er im Strudel der Wirtschaftskrise hintreibt und nur im Stillen aufbegehrt. Diese unheroische Geschichte führt die Schriftstellerin nun in ihrem neuen Buch fort, das auch als gänzlich eigenständiger Roman zu lesen ist. Mit eleganter Poesie, elegisch, leicht und humorvoll zugleich erzählt sie darin von Schmerz, Zerrissenheit und Trauer – und von der Nachtseite einer allzu glatten Geschäftswelt.

Jetzt verlässt Darius die Wohnung nicht mehr, ernährt sich vom Pizzadienst, hängt apathisch vor dem Fernseher ab und trinkt. Wie kann er sich vom Trauma dieser Verluste befreien? „Wie man Vollzeit trauern kann. Dass zu trauern nicht ein sich Gehenlassen, gar ein Nichtstun ist, sondern, im Gegenteil: ein Akt. Aktiv. Eine Aktivität“, meint Darius. Und eines Tags bricht er im Auto auf zu einer großen Reise nach Osteuropa, weil er einen Friedhofsplatz für Flora finden will – in ihrer ungarischen Heimat. Mit der Asche seiner Frau im Kofferraum fährt er los.

Eine Odyssee durch Ungarn und Albanien beginnt, über Armenien bis nach Georgien. Er trifft illustre Reisebegleiter, findet offene Herzen und reist zu Floras früheren Wohnorten in Ungarn. Als er auf ihre geheimen Tagebücher stößt, liest er die Wahrheit über ihr Leben. Ihre vielen Affären vor ihrer gemeinsamen Zeit. Ihre gefährdete Existenz während ihrer Depression, die sich über viele Jahre hinzog. Nicht halb so gut kannte er sie, wie er dachte. Und doch oder gerade wegen Floras Parallelleben ist der Roman auch eine große Liebesgeschichte. Die unterbreitet uns die Autorin auf einer ungewöhnlich zweigeteilten Buchseite: Auf der oberen Seitenhälfte verfolgen wir Darius‘ Abenteuer dieser Road-Novel, auf der unteren parallel dazu Bruchstücke aus Floras Leben und Leiden in ihren Tagebüchern.

Mit unbändiger Erzähllust springt Terézia Moras Text zwischen der Innen- und Außenperspektive Darius‘ hin und her und fesselt mit suggestiver Kraft. Die teils nüchterne, teils einfühlsam melancholische Schilderung bricht die Autorin immer wieder mit Heiterkeit und ironischen Seitenhieben auf. In diesem großen Roman erleben wir eine Seelenlandschaft des Schmerzes, erfahren von der Sprachlosigkeit und der Gefahr des Scheiterns am Abgrund. Und das Glück bleibt uns nur auf unbestimmte Zeit verliehen.

Titelbild

Terézia Mora: Das Ungeheuer. Roman.
Luchterhand Literaturverlag, München 2013.
688 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783630873657

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