Das Buchmessen-Gastland Brasilien

Ein Versuch über Land und Literatur

Von Tobias GunstRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Gunst

2010 verkündete Heródoto Barbeiro, einer der bekanntesten Journalisten und TV-Moderatoren Brasiliens und ehemaliger Jura-Professor, in der Talkshow Roda Viva, die zu den bekanntesten Talkshows des Landes gehört, dass aktuell der „große Moment des Buches in Brasilien“ sei. Tatsächlich: in Brasilien wird mehr gelesen denn je. Die Buchhandlungen in den Vorstädten boomen, die sogenannte ,neue Mittelschicht‘ (20 Millionen, schätzen Experten, sind seit 2003 aus der Armut in einigermaßen sichere Verhältnisse aufgestiegen), die es im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs aus der Armut geschafft hat, hat das Medium Buch für sich entdeckt. Kein Vergleich mit Europa: gedruckte Bücher verkaufen sich sehr gut, es sind Klassiker der Weltliteratur und zahllose Übersetzungen aus dem Amerikanischen, die vor allem ihre Leser finden. Brasilianische Autoren sind weniger beliebt, aber gekauft werden auch sie. Es ist diese Seite Brasiliens, auf die man bei der Buchmesse besonderen Wert legt: auf einen Buchmarkt, der 2011 ein Gesamtvolumen von 2,4 Milliarden US-Dollar aufweist. Passend zur europäischen Vorstellung vom ,Boomland‘ Brasilien: sechstgrößte Wirtschaftsnation der Welt, dynamische Landwirtschaft, Industrie, Ressourcen.

Gleichzeitig jedoch erreichten uns noch vor wenigen Wochen Bilder aus Brasilien, die demonstrierende Bürger aller Altersklassen und Volksschichten zeigten. Im Zuge des Confed-Cup, der Generalprobe für die WM 2014, nutzten die Brasilianer die Öffentlichkeit und demonstrierten gegen Korruption, Bildungspolitik, schwindende Ausgaben im öffentlichen Nahverkehr und im Gesundheitswesen bei gleichzeitiger Kostenexplosion der Investitionen für die Weltmeisterschaft. Ein oft bemühter Mythos der Fifa drohte zu kippen: die EM und WM bedeute für die ausrichtenden Länder einen wirtschaftlichen Aufschwung sondergleichen – Brasilien belegt: das Gegenteil ist der Fall. „Pedimos saúde e educação, copa não“ (Wir verlangen Gesundheit und Bildung, keine WM) stand auf Schildern der Demonstrierenden zu lesen.

Die Masse der Menschen, die auf die Straße gingen, verblüfft den Europäer: mit den Maßstäben unserer Demonstrationen sind diese Dimensionen nicht einzufangen. Längst sind die Bilder aus den Medien verschwunden, die Gründe dafür sind nicht nur im Aufkommen größerer Krisenherde zu suchen: Brasilien als größte lateinamerikanische Volkswirtschaft, als „Land der Zukunft“, möchte ,gute‘ Presse, keine Bilder von einem aufbegehrenden Volk, die um die Welt gehen. Die vor allem in den späten 1990er- und frühen 2000er-Jahren durch Dokumentationen und Spielfilme ausgelöste Rezeptionswelle Brasiliens als großen Drogensumpf, der in Gewalt und Korruption versinkt, hatte hier ausreichend Schaden angerichtet. Auch den diversen multinationalen Konzernen, die gemeinsam mit der Fifa die WM ausrichten, liegt wenig an den Schreckensnachrichten: alle haben ein wirtschaftliches Interesse daran, dass 2014 möglichst viele Fans die Reise nach Brasilien auf sich nehmen. Dass sich im August die Volksvertreter in Brasilia mit großer Mehrheit dagegen aussprachen, dem Abgeordneten Natan Donadon, der zuvor zu 13 Jahren Haft wegen Bestechung und Bandenbildung – Silvio Berlusconi ist ein Waisenjunge im Vergleich – verurteilt worden war, das Mandat zu entziehen, passt nicht gut ins Bild, ist aber nur ein kleines Teil im großen Puzzle.

In Europa kommt deshalb kaum noch an, dass die Proteste andauern, geführt mit unverminderter Heftigkeit. Gerade am 7. September fanden wieder landesweite Proteste statt, in 140 brasilianischen Städten. Kurz zuvor hatte der Landtag ein landesweites Vermummungsverbot erlassen, während ansonsten politisch wenig passiert: notwendige Reformen der Präsidentin werden vom Abgeordnetenhaus blockiert, die Forderungen der Protestler sind daher dieselben wie im Juni. In Rio und São Paulo haben die Demos längst eine neue Eskalationsstufe erreicht: die einzelnen Proteste sind kleiner, aber dafür ungleich härter: täglich kommt es in den Metropolen zu Krawallen und Ausschreitungen. Dabei gehen nicht alle vom Volk aus. Längst hat sich die Demonstration zu einem Machtmittel entwickelt, verschiedene politische Gruppierungen bezahlen Demonstranten, schleusen gezielt Krawallmacher in friedliche Kundgebungen ein. Tatsache ist bei alldem: in Brasilien bricht sich gerade eine gewaltige Unzufriedenheit Bahn und soziale Spannungen, die jahrzehntelang schwelten, finden ihren Ausdruck. Das Wachstum ist längst ins Stocken geraten, Währungsverfall, hohe Arbeitslosigkeit – blinde Flecken der brasilianischen Gesellschaft geraten ins Licht der Öffentlichkeit, politische und gesellschaftliche Außenseiter verschaffen sich Gehör.

Der Schriftsteller Luiz Ruffato, Gastredner Brasiliens bei der Buchmesse, fragte sich daher kürzlich: „Was ist denn da los in Brasilien?“ Die Antwort ist neben der Historie auch immer in der Literatur zu finden, was vor allem damit zusammenhängt, dass die brasilianische Literatur, vielleicht stärker als in sonstigen Literaturen, deutlich stärker als in den europäischen jedenfalls, die gesellschaftliche Entwicklung aufgenommen und verarbeitet, kommentiert und kritisiert, jedenfalls widergespiegelt hat. Die brasilianische Literatur war immer eine littérature engagée, ohne jedoch einer formalen Innovationslosigkeit und einem ästhetischen Konservatismus anheim zu fallen.

Grundlagen und Ausgangspunkte der modernen brasilianischen Literatur

Als paradigmatisch für diese Literatur muss „Grande Sertão“ von João Guimarães Rosa gelten, jenes 1956 erschienene Romanepos, das den Nullpunkt der modernen brasilianischen Literatur markiert und bis heute unerreichtes Vorbild junger brasilianischer Autoren ist: ein abgehalfterter Jagunço – im brasilianischen Portugiesisch steht das für einen Söldner, meist von reichen Farmbesitzern zur Sicherung der Bestände angeheuert – sitzt auf seinem Alterssitz irgendwo im Sertão, der großen unendlichen Steppe im Binnenland Brasiliens, und erzählt einem stummen Zuhörer seine Lebensgeschichte auf rund 500 Seiten. Der Roman ist ein episches Denkmal für diese einzigartige Landschaft im Herzen Brasiliens, für seine Bewohner, ihre Sitten und Gebräuche, ihren Umgang mit der rauen Natur, die das Überleben zur Herausforderung macht. Die Dürrezeit in der Region beträgt 10 bis 11 Monate im Jahr, noch heute ist das Gebiet schlecht erschlossen, in gewissen Teilen herrschten bis vor wenigen Jahren noch feudale Strukturen und lokale Farmbesitzer mit Hilfe ihrer jagunços. Rosa hat aber nicht nur thematisch dem Sertão ein Denkmal gesetzt, sondern auch stilistisch, formal und sprachlich. Der episodenhafte, mit Gesängen, Gedichten, alten Legenden und Heldengeschichten durchsetzte Roman nimmt die zentralen Mythen und die animistische Weltsicht der Sertão-Bewohner auf und legt sie der Erzählung als tiefere Struktur zugrunde: der Handlungsebene wird so eine mythische Ebene gegenübergestellt, auf der die Elemente der Natur zu Handlungsträgern und beseelten Figuren werden. Beide Ebenen werden komplex ineinander verwoben, so dass sich anhand der geografischen und örtlichen Angaben jederzeit der Raum, aber keine Chronologie mehr rekonstruieren lässt. Hinzu kommt die Dezentrierung des Erzählens: obwohl aus der Perspektive des jagunço erzählt, werden eine Vielzahl von Stimmen in dem Roman hörbar, er ist eine kollektive Erinnerung, in der durch das Brennglas des jagunço die ganze Region zu Wort kommt. Schließlich bildet der Roman eine eigene Sprache aus, die die besondere dialektale Färbung des brasilianischen Portugiesisch, wie es im Sertão oft gesprochen wird, in Literatur überführt. Er hat die Eigenheiten der Syntax übernommen, den Wortschatz und die Neologismen, aber auch die Einflüsse der indigenen Sprache und ist damit eine gewaltige Sprachmischung, ein Sprachkunstwerk im besten Wortsinne, das in Übersetzungen kaum einzufangen ist, dessen Lektüre auf Portugiesisch aber für den nicht-Muttersprachler nahezu unmöglich ist: „Ich möchte die Zunge, die man vor Babel sprach“, schrieb Rosa einst an seinen deutschen Übersetzer Curt Meyer-Clason.

„Literatur muß Leben sein“, sagt der Schriftsteller an anderer Stelle. Und er steht mit seinem Werk in der Tradition einer Literatur, die sich zuerst als Reportage und als Gegendiskurs zur herrschenden offiziellen Geschichtsschreibung gesehen hatte, nämlich Euclides da Cunhas 1902 veröffentlichtem monumentalem KriegsberichtOs Sertões“ (deutsch „Krieg im Sertão“). Cunhas hat darin in epischer Breite den 1897 blutig niedergeschlagenen Canudos-Aufstand beschrieben und sich damit ganz dezidiert gegen die offizielle Version der Regierung, der nach die barbarischen Bewohner des Sertão gegen die Regierung aufbegehrt und der Zivilisation die Zerstörung hätten bringen wollen, gestellt, um im Gegenzug den heldenhaften Kampf der Sertões gegen die haushoch überlegenen Militärs zu beschreiben und dem Hinterland gegenüber der Zentralregierung zu seinem Recht zu verhelfen. Cunhas Werk zählt, obwohl ein Tatsachenbericht und Kriegsreport, noch heute zu den bedeutendsten Werken der brasilianischen Literatur überhaupt und es ist das früheste Zeugnis für die zentrale Stoßrichtung brasilianischer Literatur, Gegendiskurs zu sein und den marginalisierten Außenseitern zu ihrem Recht zu verhelfen.

Der Rückbezug Rosas auf Cunha und seine produktive Rezeption ist damit zum einen die Wiederaufnahme dieser Tradition eines literarischen Gegendiskurses zur öffentlichen Meinung, die auch in der sogenannten „Republik von 46“ (die Zeit zwischen 1946 und 1964) noch immer stark von den Mechanismen des Estado Novo (1930-1945) beeinflusst und somit letztlich eine Fortführung der Diktatur war. Zum anderen aber steht Rosa ganz deutlich in der Tradition des brasilianischen Realismus, der mit Graciliano Ramos (1892 – 1953) aber auch bei Rachel de Queiroz in der ersten Jahrhunderthälfte seine populärste Ausprägung erfahren und sich die Darstellung des Lebens des einfachen Volkes, der Bauern und Viehirten, zum Ziel gesetzt hatte. Ein sozialkritischer Impetus, der diese Literatur wie beim jungen Jorge Amado oft ideologisch überlastete und damit ästhetisch lähmte, wird bei Rosa aber nun mit einer elaborierten Form und einer kunstvollen Sprache versehen. Er verbindet die Einflüsse des Realismus mit denen des frühen brasilianischen Modernismus der 1920er-Jahre, Mario de Andrades „Macunaíma, o héroi sem nenhum caráter“ (1928, „Macunaima, der Held ohne jeden Charakter“) europäisch-avantgardistische Erzählweisen mit populär-mythischen brasilianischen Einflüssen verbindende hybride Monumental-Roman schimmert an vielen Stellen des Textes durch.

Regionalistische Literatur

Die Wirkung Rosas auf die brasilianische Literatur bis in die 1980er-Jahre ist daher kaum hoch genug einzuschätzen. Sein Roman bildet den neuerlichen Auftakt zu einer ganzen Reihe von Sertão- oder Hinterland-Literatur, die den Nordosten Brasiliens als Herz des Landes begreift und dem industrialisierten Süden und seiner Modernität ein Bild der Ursprünglichkeit entgegenstellt. Am prägnantesten und eindrucksvollsten gestalten João Ubaldo Ribeiro („Sargento Getúlio“, 1971; „Viva o povo Brasileiro“, 1984, deutsch: „Brasilien, Brasilien“) und Ariano Suassuna („Romance da pedra do reino. Romance armorial-popular brasileiro“, 1971, deutsch: „Der Stein des Reiches oder die Geschichte des Fürsten vom Blut des Geh-und-kehr-zurück“) diese Region in den Folgejahren literarisch, gerade auch deshalb, weil sie dem brasilianischen Roman auch formal neue Ausdrucksmöglichkeiten eröffnen möchten. Ribeiros wütender, grausamer, vor Lebendigkeit strotzender innerer Monolog des „Sargento Getúlio“ ist in seiner eindrucksvollen Wucht dann auch weit über Brasilien hinaus bekannt geworden. Der Roman wirkt wie ein morbides Porträt einer Parallelgesellschaft im dürren Steppenland des Sertão, die auch in der Folge eine große Faszination ausübt und immer wieder literarisch ausgestaltet wird. Im Verlauf der 1960er- und 1970er-Jahre erstarkt also innerhalb der brasilianischen Literatur von Neuem eine starke regionalistische Strömung, die schon aus der brasilianischen Spätromantik bekannt ist. Das Leben in den nördlichen Provinzen des Landes steht im Zentrum. Es wird erzählt von ,einfachen Menschen’ und ihrem Ringen mit der Natur, der Erkundung und Bewahrung von Traditionen und dem Bröckeln alter, scheinbar überkommener, aber latent weiterwirkender Gesellschaftsordnungen, aber auch vom Einbrechen mythischer und religiöser Elemente in die Alltagswelt.

Das Fortwirken des Regionalismus in der brasilianischen Literatur seit mittlerweile über einhundert Jahren mag damit zusammenhängen, dass sich an und in ihm immer und immer wieder die Grundopposition der brasilianischen Kultur entzündet, die Ambivalenz zwischen westlicher Modernität und Traditionalismus, zwischen Zentrum und Peripherie. Eine auch international sehr erfolgreiche Spielart dieser Literatur schreibt Jorge Amado, der sich hauptsächlich dem Leben in Bahia, der stark afro-brasilianisch geprägten Region im Norden des Landes, widmet. Seine Romane wirken daher oft karnevalistisch und exotistisch, kommen volkstümelnd daher und sind in weiten Teilen der Unterhaltungsliteratur zuzurechnen, in einigen Fällen aber auch weit darüber hinaus, indem sie den kulturellen Mischling und die brasilianische Mischkultur als Ganzes ins Zentrum stellen. Wie wirkmächtig dieser Regionalismus auch heute noch ist, zeigt Brasiliens Beststeller-Autor Paulo Coelho, der sich in seiner Setzkasten-Literatur vor allem der spirituell-mythologischen Versatzstücke der afrobrasilianischen Kulte und ihrer Legenden und Gleichnisse bedient, die in einer moralisierenden, platt konstruierten, meist um Liebe, Verlust, Trauer und Sinnsuche kreisenden Erzählform untergebracht und als Weisheiten-Literatur international verkauft werden. Dabei haben diese Symbole jedoch völlig den Bezug zu ihren religiösen und spirituellen Ursprüngen verloren, genauso zur brasilianischen Literaturtradition: als Autor schreibt Coelho ausschließlich für einen globalen Markt auf sofortige Übersetzung ausgelegte, sämtlicher kultureller Verankerungen entkleidete Sentenzen-Romane. Das jüngste Beispiel für diese Praxis ist der in den Wirren des ersten Kreuzzugs im religiösen Nebel von Jerusalem spielende, arg menschelnd daherkommende historische Roman „Manuscrito encontrado em Accra“ (2012, deutsch: „Die Schriften von Accra“).

Literatur in der Diktatur: Konformismus und Chiffrierung

Die neuerliche Popularisierung der regionalen Themen ist als Reaktion auf den in Vargas zweiter Amtszeit begonnenen, aber dann vor allem durch den Militärstaat seit 1964 massiv vorangetriebenen und um jeden Preis durchgesetzten wirtschaftlichen Aufstieg Brasiliens zu verstehen, der mit einer starken Zentralisierungstendenz einherging. Der Süden wurde zum wirtschaftlichen Zentrum des Landes, Brasilien zum führenden Produzenten von Automobilen auf dem Weltmarkt, der Sender „Globo“ zum drittgrößten TV-Sender der Welt, der vor allem Lateinamerika mit billig produzierten Telenovelas überschwemmte. Brasilien war vom Entwicklungs- zum Schwellenland geworden, hatte sich dafür aber einem radikalen Kapitalismus unterworfen, der seine Schattenseiten hatte: Repression durch die Militärjunta, der neuerliche Versuch der weitgehenden Gleichschaltung der öffentlichen Meinung und im Hintergrund eine zunehmende Landflucht in die Metropolen und die daraus resultierende soziale Misere. Anfang der 1960er-Jahre, kurz bevor das Militär die Macht übernommen hatte, war die soziale Bewegung in Brasilien laut geworden: zahlreiche Streiks und die Solidarisierung der Gewerkschaften untereinander hatten den Druck auf die Regierung wachsen lassen, Proteste auch von den Kirchen und Arbeiterbewegungen machten auf die unhaltbaren sozialen Zustände, vor allem die wachsende Armut und die rasant sich ausbreitenden Slums in den Großstädten aufmerksam. Um instabile Zustände wie vor 1964, in den Augen der Militärs maßgeblich durch linke Kräfte und ihre harsche Sozialkritik ausgelöst, zu verhindern, war den neuen Machthabern daran gelegen, kritische Stimmen unhörbar zu machen und politische Gegner auszuschalten. Die „Operação Limpeza“ (Operation Säuberung) ersetzte ab 1965 unbequeme Politiker und Beamte durch Regimetreue, neu gegründete Polizeibehörden kümmerten sich um Zensur und eine weitgehende Gleichschaltung der öffentlichen Meinung durch Beeinflussung und Überwachung von Presse, Medien und Wissenschaft. Der schon im Juni 1964 gegründete Geheimdienst „Servicio Nacional de Informações“ (SNI) verfolgte vermeintliche Feinde im Innern. Ab März 1969 stand sogar jegliche Kritik an der Regierung offiziell unter Strafe.

Direktes Aufbegehren wurde damit auch in der Kunst gefährlich, Schätzungen gehen von bis zu 10.000 Intellektuellen aus, die das Land zumindest zeitweise verlassen mussten. Der offene sozialkritische Impetus neorealistischer Stoßrichtung wurde daher in der Literatur abgelöst von formal ambitionierteren, abstrakteren Reflexionen über das Funktionieren von Macht und Unterdrückung, aber auch von Ausgrenzung und Marginalisierung allgemein. Vorbildhaft muss hierfür noch immer „Zero. Romance pré-historico“ (1974, deutsch: „Null“) von Ignácio de Loyola Brandão (geboren 1936) stehen, der neben Guimarães Rosa und Ribeiro zu den großen Klassikern der brasilianischen modernen Literatur zählt und die engagierte Literatur virtuos mit der Großstadtliteratur verknüpft. Brandão schickt seinen Protagonisten José durch die Hölle von São Paulo, verzweifelt auf der Suche nach Arbeit und einem Sinn in seinem Leben, doch was er findet ist eine Kerkerzelle und die Folter durch Militärs. 1971 vollendet, musste der Roman 1974 zunächst in Italien erscheinen und fiel nach der brasilianischen Veröffentlichung 1975 prompt der Zensur zum Opfer. Brandãos epischer Großstadtroman bildet mit seinem sprachlichen und kompositionellen Chaos, der Vulgarität und Direktheit, der zeitweise verwirrenden Plotkonstruktion, nicht nur die Undurchschaubarkeit der Metropole, sondern auch die politische Unsicherheit der frühen 1970er-Jahre ab. Der Roman ist in seiner wütenden Wucht ein eindrucksvolles Werk der literarischen Verarbeitung der brasilianischen Militärdiktatur und es spricht für sich, dass Text und Autor erst jetzt die Anerkennung erfuhren, die sie verdienten. „O Globo“ kürte „Zero“ erst kürzlich zu den besten Romanen des 20. Jahrhunderts, Brandão erhielt 2000 und 2008 den renommierten Premio Jabúti, den wichtigsten Literaturpreis Brasiliens.

Die sofortige Zensur im Fall Brandão hatte gezeigt, dass direktes Schreiben in Zeiten der Diktatur problematisch sein konnte. Gerade aufgrund der stärkeren Kontrolle durch die Militärregierung transformierte sich eine direkte littérature engagée hin zu Romanen überfrachtet mit Allegorien oder Symbolik, wie dem sehr erfolgreichen „Sombra dos reis barbudos“ (1972, deutsch: „Schatten der bärtigen Könige“) von José Veiga (1915-1999), der einen Heranwachsenden erkennen lässt, dass sein Dorf von einer geheimnisvollen Organisation übernommen wurde und sich nun in Passivität seinem Schicksal ergeben hat. Gleichzeitig ließ sich eine Renaissance der populäreren Genres wie dem Krimi beobachten oder auch der Versuch eines an den neuen elektronischen Medien geschulten Schreibens (Edilberto Coutinho), diese Literatur rutschte damit jedoch oftmals in die konformistische Beliebigkeit ab.

Dabei wurde gerade in komplexeren, auch ästhetisch anspruchsvollen Texten wie Ribeiros monumentalem Klassiker „Viva o povo Brasileiro“ oder Márcio Souzas „O Brasileiro voador“ (1986, deutsch: „Der fliegende Brasilianer“) die rasante technische und wirtschaftliche Entwicklung kritisch kommentiert und in ihrer für regionale Besonderheiten und die kulturelle Vielfalt bedrohlichen Vereinheitlichungstendenz bloßgestellt. Postmodernistisch gebrochen thematisiert der Schriftsteller und Professor für französische Literatur Silviano Santiago in seinem Roman „Em Liberdade“ (1981, deutsch: „In Freiheit“) die Gefängnishaft von Graciliano Ramos während der pseudofaschistischen Vargas-Diktatur, verwebt dabei biografisches Material und Erinnerungen, Quellen und fiktive Tagebucheinträge, um so einerseits die Diktatur Vargas in ihrer Gewalt und Repression vorstellen zu können, gleichzeitig aber auch einen chiffrierten Kommentar zur 1981 noch herrschenden Militärdiktatur abgeben zu können.

Brasilianische Autorinnen

Ebenso doppelbödig, aber in seiner ästhetischen Qualität und auch seiner Wirkung eindrucksvoller ist „As Meninas“ (1973, deutsch: „Mädchen am blauen Fenster“) von Lygia Fagundes Telles (geboren 1923), der zunächst ein psychologisches Portrait dreier Frauen mitten in der brasilianischen Großstadt Sao Paulo zu sein scheint, dahinter aber die ganze morbide Wirklichkeit der korrupten und dekadenten Verhältnisse der Diktatur sichtbar macht. In realistischer Erzählhaltung verbindet der Roman damit eine Auslotung der Rolle der Frau im modernen Brasilien mit einer radikalen Kritik an den politischen Verhältnissen. Auch wenn Telles diese Meisterschaft in ihrem späteren Werk nicht mehr erreichte, erhielt sie 2005 den Premio Camões, die wichtigste Auszeichnung der portugiesischsprachigen Literaturwelt. Dass sie – genauso wie die anderen großen Autorinnen Brasiliens Rachel de Queiróz (1910-2003) und Clarice Lispector (1925-1977), weitere Namen ließen sich nennen – außerhalb Brasiliens kaum wahrgenommen wird, ist nur zu bedauern und scheint sich auch zur Buchmesse nicht zu ändern. Auch jüngere Autorinnen bekommen noch immer kaum die Aufmerksamkeit, die sie verdient hätten. Neben der anspruchsvollen Literatur von Carola Saavedra sind es Schriftstellerinnen wie Adriana Lisboa (geboren 1970), Veronica Stigger (geboren 1973) oder Beatriz Bracher (geboren 1961), die die Literaturlandschaft Brasiliens maßgeblich prägen. Im Zentrum steht bei allen weniger die Rolle der Frau, sondern die Auslotung menschlichen Zusammenlebens und zwischenmenschlicher Beziehungen. Lisboas mehrfach preisgekrönter Roman „Sinfonia em branco“ (2001, deutsch: „Der Sommer der Schmetterlinge“) ist eine komplex erzählte Geschichte zweier Schwestern, die trotz aller Unterschiede durch ein in ihrer Vergangenheit liegendes Geschehen zusammengehalten werden. Der Roman überzeugt dabei vielleicht weniger durch seinen Plot, als durch seine Sprache, die gleichzeitig poetisch und präzise ist und meisterhaft psychologische Zustände und zwischenmenschliche Situationen zu erfassen vermag. In eine ähnliche Richtung gehen die Texte von Veronica Stigger, die 2003 mit der Kurzgeschichtensammlung „O trágico e outras comédias“ („Die Tragödie und andere Komödien“) eine beeindruckend kühle und distanzierte Auslotung kleinerer und größerer menschlicher Katastrophen vorlegte. Die sprachliche Distanziertheit, mit der sie das Schicksal ihrer Figuren fast kalt begleitet, sorgt für gleichsam komische wie tragische Momente. In der kurzen Erzählung „Câncer no cu“ („Krebs im Arsch“) tötet ein Mann seine Katze, weil er den Krebs nicht besiegen kann, in der Erzählung „Os anões“ („Die Zwerge“), erschienen 2010 in einer gleichnamigen Kurzgeschichtensammlung, treten wütende Kunden in einem Geschäft ein paar Kleinwüchsige tot. Die Geschichten sind so grotesk wie dramatisch und führen in ihrer Knappheit eindrucksvoll und ganz und gar unpathetisch Mechanismen gesellschaftlicher Ausgrenzung vor.

Dem klassischen Familienroman hat sich Beatriz Bracher mit dem 2007 erschienenen „Antonio“ angenommen, hat dieses etwas abgegriffene Genre aber durch eine radikale stimmliche Zersplitterung neu belebt. In dem Gewirr der Stimmen der Familienmitglieder werden weder alle Geheimnisse gelüftet noch alle Erzählstränge aufgelöst, vielmehr bleiben am Ende so viele Fragen offen, wie Figuren in dem sich über drei Generationen erstreckenden Roman auftreten. Der deutsche Leser wird in Kürze die Möglichkeit haben, den großartigen Roman selbst kennenzulernen: anlässlich der Buchmesse wird er im Hamburger Verlag Assoziation A erscheinen.

Zusätzlich nehmen sich einige Verlage auch Neuauflagen der Klassiker der weiblichen brasilianischen Literatur vor. Von Queiróz erscheint eine Neuauflage der „Drei Marias“, der Schöffling-Verlag sorgt für die Möglichkeit einer Neuentdeckung Clarice Lispectors. Ihr Debütroman „Perto do coração selvagem“ (1943, deutsch: „Nahe dem wilden Herzen“), eine radikale Introspektion des individuellen Bewusstseins der Protagonistin Joana, die in ihrer literarischen Virtuosität Kennzeichnend für den brasilianischen modernismo ist, wird in Neuauflage erscheinen. Begleitet wird die Neuentdeckung Lispectors durch eine Biografie von Benjamin Moser und die erstmalige Übersetzung ihres zweiten Romans „O Lustre“ (1946, deutsch: „Der Lüster“). Das Zurücktreten der außerliterarischen Wirklichkeit zugunsten einer Psychologisierung und einer Erkundung der Möglichkeiten des Schreibens selbst ist in den frühen Texten schon sichtbar, final Bahn bricht es sich in Lispectors bis heute bestem Text, der vielleicht am treffendsten neutral als Erzählung zu bezeichnende „A Hora da estrela“ (1977): die Geschichte von Rodrigo wird in Ich-Perspektive erzählt und scheint zunächst als narrative Adressaten außerhalb des Textes stehende Figuren plötzlich in die Geschichte hineinzuziehen, inklusive der Autorin selbst, bis die eigentliche Geschichte von einer anderen überlagert wird und sich untrennbar mit ihr verschlungen hat. Clarice Lispector existiert nur mehr als Papier-Autorin, die nicht wirklicher präsentiert wird als der fiktive Ich-Erzähler. Die in „Nahe dem wilden Herzen“ aus der radikalen Introspektion erwachsene Literatur wird in ihrem letzten Text also zurückgeführt auf das Bewusstsein der Autorin selbst. Kurz nach Veröffentlichung des Textes 1977 verstarb Lispector an Krebs.

Jüdisch-brasilianische Literatur

Clarice Lispector ist nicht nur eine der wichtigsten Autorinnen Brasiliens des 20. Jahrhunderts, sie ist zudem eine jüdische Exilantin, die mit ihren Texten nicht nur das klassische Rollenverständnis und die Gesellschaftsmuster im Hinblick auf die Geschlechter, sondern auch auf die Situation der Juden in Brasilien in Frage stellte. Lispector muss damit zusammen mit dem etwas jüngeren, kürzlich verstorbenen Moacyr Scliar (1937-2011) als Begründerin einer jüdisch-brasilianischen Literatur gelten, die sich inzwischen zu einem der zentralen Stränge der Gegenwartsliteratur in Brasilien entwickelt hat. Wo Lispector ihr Judentum nur versteckt thematisiert, macht Scliar die Erfahrung des jüdischen Immigranten in Brasilien zum Kern seines Werks.

Theoretisch hat Scliar seine jüdischen Wurzeln und seine Migrationserfahrung in „A condição judaica“ (1985) verarbeitet. In seiner Literatur genauso wie in seinem Denken geht es ihm darum, die tiefe Verwurzelung der Juden in der europäischen Kultur sichtbar zu machen und gleichzeitig danach zu fragen, wieso diese europäische Kultur die Juden so zwanghaft ausschließen wollte. Sein Werk ist gekennzeichnet durch die Verbindung fantastischer, der Tradition des lateinamerikanischen magischen Realismus entnommener Elemente mit der jüdisch-europäischen Literatur- und Kulturtradition. Scliar selbst ist 1937 in Porto Alegre in Südbrasilien geboren, Sohn jüdischer Einwanderer aus Bessarabien im Gebiet des heutigen Moldawien. Er wurde Arzt, lebte aber weiterhin im jüdischen Viertel „Bom Fim“, das im Zentrum seines zweiten Romans „A guerra no bom fim“ (1972) steht. Der dortige Protagonist Joel wird begleitet, wie er im jüdischen Viertel aufwächst, immer wieder konfrontiert mit Nachrichten vom Weltkrieg. Es geht um die Integration Joels in eine Gesellschaft, die ihm fremd ist, in die er aber genauso hineinwachsen muss wie seine Familie und seine jüdischen Freunde. Dieser Problematik ist Scliar in seinem Gesamtwerk treu geblieben: etwa 80 Werke umfassen seine Veröffentlichungen, darunter Romane, Essays, Erzählungen und Jugendbücher. Er zählt auch zwei Jahre nach seinem Tod noch zu den beliebtesten Schriftstellern Brasiliens. Außerhalb Brasiliens ist er vor allem mit seinem 1980 erschienenen Roman „O centauro no jardim“ (deutsch: „Der Zentaur im Garten“, 1985) bekannt geworden, der die Geschichte russisch-jüdischer Einwanderer in Brasilien erzählt, die versuchen, ein Stück Urwald urbar zu machen. Dieser Blick auf die harte brasilianische Wirklichkeit wird konterkariert durch ein fantastisches Element: die jüdischen Eltern bekommen einen Sohn, Guedali, der als Zwitterwesen auf die Welt kommt – halb Mensch, halb Pferd. Aufgrund dieses absonderlichen Äußeren muss der Junge vor den Blicken der Umwelt verborgen werden und wird eingesperrt, kann aber fliehen und beginnt eine abenteuerliche Reise durch den brasilianischen Süden. Die Geschichte, durchgehend aus der Perspektive des Zentauren erzählt, verhandelt zentrale Fragen von Fremdheitserfahrungen anhand des Voyeurismus auf der einen, der Ablehnung auf der anderen Seite. Guedali wird in einem Zirkus ausgestellt und mit staunenden Blicken bedacht, gleichzeitig ist er jedoch Opfer von Ausgrenzung und Isolation. Nicht nur die Menschen lehnen das Zwitterwesen ab, auch die Beziehungen zu anderen Zentauren, denen er begegnet, bieten Konfliktpotential. So zeigt sich letztlich, dass die Suche nach kultureller Identität in einem fremden Land keineswegs mit dem Rückzug auf die eigene Herkunft zu lösen ist. Guedali muss sich selbst, die fremde Lebenswirklichkeit und seine eigene Fremdheit akzeptieren, um glücklich werden zu können. Immer wieder schimmert in dieser fantastischen Geschichte auch die politische Realität durch: Repression und Ausgrenzung der Militärdiktatur sowie die Unterdrückung freier Meinungsäußerung werden metaphorisch und ironisiert, aber auch symbolisch verdichtet in die Erzählung eingewoben. Ähnlich hintergründig wie im Zentauren-Roman treten die Gräuel der Militärdiktatur in „Os leopardos de Kafka“ (2000) in die Handlung ein, kaum sichtbar spielen sie nur am Rande eine Rolle, sind aber letztlich zentral für das Verständnis. Hier stellt er Ironie, das Spiel mit intertextuellen Verweisen und die zahlreichen kulturellen Anspielungen einer tiefen Ernsthaftigkeit des Textes gegenüber und es ist diese Ambivalenz von Witz und Tragik, die kennzeichnend für Scliars Literatur ist.

Die jüdische Erfahrung im 20. Jahrhundert ist eine tragische, aber man kann damit nur umgehen, wenn man zumindest auf einem Auge bereit ist zu lachen. Anders sind die zutiefst ernsten, zeitweise tragischen Schicksale kaum zu tragen, die Scliar verarbeitet. Im bisher unübersetzten Roman „Os voluntários“ (1982) verfolgt er das Schicksal einiger Verstreuter aus einer Geschäftsstraße mit dem titelgebenden Namen „Voluntários“ im Zentrum von Porto Alegre, wobei vor allem der jüdische Benjamin in den Fokus gerückt wird, der unbedingt einmal nach Jerusalem möchte, aus verschiedensten Gründen jedoch scheitert. Mit voller Wucht prallt die politische Realität auf die leicht skurrile Lebenswelt der „Voluntários“, als der palästinensische Flüchtling Samir in der Straße auftaucht und Benjamins geschäftlicher Konkurrent wird. Entgegen aller Erwartung können die beiden ausgesöhnt werden, als plötzlich Knochenkrebs bei Benjamin diagnostiziert wird. Verzweifelt versuchen die Freunde, den Jungen auf dem Schiff nach Jerusalem zu bringen, wovon sie sich eine Wunderheilung erhoffen. Es kommt anders: eine tragische Katastrophe führt dazu, dass das Schiff kurz nach dem Ablegen explodiert und fast alle ihr Leben verlieren. Die Grenze zur Tragik ist hier überschritten, trotzdem gelingt es Scliar, immer eine gewisse melancholisch gefärbte Ironie zu bewahren und zudem einfühlsam und mit viel Sympathie für seine Außenseiterfiguren zu erzählen. In Benjamin hat er, genauso wie in Ratinho aus den „Leoparden“ und Joel im „Bom Fim“, eine Figur geschaffen, die aufgrund ihrer jüdischen Herkunft zwischen der alltäglichen Lebenswelt und der Tradition schwankt und letztlich zum Außenseiter wird, dabei aber durch die Erzählung ihrer vermeintlich jüdischen Besonderheit enthoben und in die Gruppe vieler anderer Außenseiter-Figuren integriert wird. So gelingt es Scliar, bei gleichzeitiger Bewahrung der jüdischen Tradition und der spezifischen kulturellen Differenz, eine Außenseiter-Literatur zu schaffen, die über das spezifisch Jüdische hinausgeht: wie Guedali sind seine Figuren allesamt Marginalisierte, bilden aber eben in ihrem Außenseitertum eine Gemeinschaft, die abseits großer brasilianischer Politik, aber immer vor ihrem Hintergrund, ihr multikulturelles Leben gestaltet. Scliar ist 2011 einem Hirnschlag erlegen, aber hinterlassen hat er eine Literatur, die maßgeblich anhand ihrer sympathischen Protagonistinnen und Protagonisten noch heute zu der meistgelesenen in Brasilien gehört. Es gelingt ihm, anhand des jüdischen Einwandererschicksals all jene marginais sichtbar zu machen, die von der Politik gern ausgegrenzt werden. Im Oktober wird im Lilienfeld-Verlag endlich der Roman Scliars wieder zugänglich gemacht, der all dies vielleicht am eindrucksvollsten und schönsten literarisch gestaltet: in „Die Ein-Mann-Armee“ („O excército de um homem só“, 1973) errichtet der Jude Mayer Guinzburg kurzerhand eine eigene Republik in Porto Alegre, die dem korrupten und verderbten Kapitalismus eine ideale Gesellschaftsordnung entgegenstellen soll. Er wird unterstützt von seinen Genossinnen und Genossen – Ziege, Schwein und Henne. Die Wirklichkeit steht hinter der Vision zurück, was Mayer nicht daran hindert, an seinem Traum zu arbeiten. In dem wunderbaren, in Brasilien sehr bekannten Roman bringt es Scliar zur Meisterschaft: er verbindet beißende Gesellschafts- und Ideologiekritik mit seiner typischen melancholischen Ironie und tiefer Ernsthaftigkeit und verhandelt anhand des mittleren Helden Mayer Alteritäts- und Fremdheitserfahrung, daraus resultierende gesellschaftliche Exklusion sowie der Frage nach der jüdischen Tradition. Das sind letztlich Fragen der An- und Einpassung in eine fremde Gesellschaft, um Fremdheitserfahrungen und das Aufeinanderprallen von kulturellen Gegensätzen unterschiedlichster Provenienz, die nicht selten ironisch oder fantastisch übersteigert verhandelt werden.

Die Tradition des jüdischen Erzählens in Brasilien wird auch von einer jüngeren Generation fortgeführt. Während jedoch bei Unterhaltungsschriftstellern wie Ronaldo Wrobel (geboren 1968), dessen Roman „Traduzindo Hannah“ (2011) gerade auf Deutsch erschienen ist, das Judentum mit einzelnen Versatzstücken zum exotischen Dekor reduziert wird, bleibt es für viele Autoren nach wie vor jene besondere „condição“, von der Scliar gesprochen hatte und der sie sich schreibend zu nähern suchen. In einem eindrucksvollen Roman ist das kürzlich Michel Laub (geboren 1973) gelungen, der in „Diário de Queda“ (2011, Tagebuch des Sturzes) anhand von Tagebuchaufzeichnungen seines Großvaters, eines Auschwitz-Überlebenden, die Problematik von Erinnerung und Tradierung über drei Generationen in einer Familie literarisch ausgestaltet. Nur schreibend konnte der Großvater die Erfahrungen verarbeiten, nur schreibend kann der Ich-Erzähler des Romans sich den Erinnerungen nähern und das Unbegreifliche zugleich greifbar machen und es als Teil der Familiengeschichte akzeptieren. Diese Akzeptanz, aber auch das Nicht-Vergessen, stehen im Zentrum des packenden, aufwühlenden Textes, der sicher zu den wichtigsten Romanen der letzten Jahre in Brasilien gezählt werden muss, vielleicht auch zu den wichtigsten jüdischen Exilromanen der Gegenwart.

Die Erinnerung an die eigene jüdische Herkunft steht auch im Zentrum des literarischen Schaffens von Luis Krausz (geboren 1961), der eigentlich Professor für Hebräische und Jüdische Literatur in São Paulo ist und zudem ein exzellenter Kenner der deutschsprachigen jüdischen Literatur – er hat ein Buch über Joseph Roth geschrieben und unter anderem Elfreide Jelineks Klavierspielerin ins Portugiesische übersetzt. Bisher hat er nur einen, vielleicht am besten als ,Erinnerungsroman’ zu bezeichnenden Text vorgelegt: „Desterro. Memórias em ruínas“ (2011, deutsch: „Verbannung. Erinnerung in Trümmern“) erzählt allerdings weniger eine Geschichte, als dass er anhand von Relikten der Vergangenheit in Europa in kleinen Episoden und Erinnerungssplittern verschiedene Schicksale von jüdischen Einwanderern in São Paulo versammelt. Wie ein Flaneur streift der wohl mit Krausz zu identifizierende Ich-Erzähler Mitte der 1980er-Jahre durch die gigantische Stadt und sieht die Häuser wohlhabender jüdischer Familien, erinnert sich an ihr Schicksal in Europa, rekonstruiert Einzelfälle anhand von inzwischen in verstaubten Kellern gefundenen Erinnerungsstücken, Relikten eines Lebens in einem anderen Teil der Welt. Er beschreibt aber auch, wie die hauptsächlich großbürgerlichen, wohlhabenden Familien im brasilianischen Exil mitnichten ihr jüdisches Erbe, sondern vor allem ihre zutiefst an der deutschen Kultur orientierte Tradition in die neue Heimat importierten. Die osteuropäischen Wurzeln und die jiddische Sprache hatten sie längst abgelegt und fühlten sich daher viel weniger als aufgrund ihres Glaubens Vertriebene, sondern aus ihrer eigentlichen, auch kulturellen Heimat Verbannte („desterrar“ im Portugiesischen – wörtlich also etwa ,enterden’ oder ,entheimaten’). Krausz erkundet damit das Problem der völlig assimilierten Juden, die zur wohlhabenden Oberschicht gehört hatten und erst Diskriminierung, dann Deportation oder Vertreibung erfahren hatten, ihre deutsche kulturelle Prägung aber trotzdem nicht ablegen konnten und wollten. Die Zerrissenheit zwischen jüdischen Wurzeln, deutscher Tradition und neuer brasilianischer Heimat wird in „Desterro“ ansichtig, auch durch die Verweigerung der Erzählung einer kohärenten Geschichte. Es sind Splitter, die aufeinandertreffen und den Text konstituieren und das Schlendern durch die Stadt, die flüchtigen Begegnungen und das plötzliche Auftauchen alter Bürgerhäuser, die jüdischen Immigranten gehören, formal spiegeln. Die jüdische Exilproblematik wird somit ergänzt durch die Thematisierung des städtebaulichen Fortschritts: der Flaneur muss erkennen, dass mit dem Tod der jüdischen Exilanten auch ihre Bürgerhäuser in São Paulo werden verschwinden müssen. Grundstücke sind in der Megacity längst viel zu kostbar geworden, als dass Familien der Mittelschicht sich den Besitz prachtvoller mehrstöckiger Villen leisten könnten. „Einst vornehme Häuser sind verfallen oder in Armenhütten verwandelt, Stadtviertel dem Zerfallen ausgeliefert“, heißt es an einer Stelle. Mit den verfallenden Häusern verblasst auch langsam die Erinnerung und fällt in sich zusammen: memórias em ruínas. „Ich suchte in den Hügeln von übereinander liegenden Möbeln meine eigene Wirbelsäule“, schreibt Krausz und fängt damit die Problematik jüdischer Identität im Exil wie in einem Brennglas ein. Die Überlieferung zerfällt; wird die Erinnerung an die eigene Herkunft nicht festgehalten, dann verliert man sich selbst in dem sich mit enormer Geschwindigkeit entwickelnden Land.

Internationalismus: überregionale Themen und formale Ambitionen

Krausz` Roman reißt damit die inner-brasilianischen Veränderungen, vor allem in den Städten, Ende der 1980er- und Anfang der 1990er-Jahre an. São Paulo war seit den 1960er-Jahren um das Dreifache gewachsen, Rio hatte doppelt so viele Einwohner – die Städte hatten sich radikal verändert, sowohl vom Stadtbild wie den Menschen, die dort lebten. Das Ende der Militärdiktatur hatte keinen radikalen politischen Wechsel, sondern einen schleichenden Übergang zur Demokratie bedeutet, der von personeller und institutioneller Kontinuität begleitet wurde. Diese Transition lebte maßgeblich davon, dass die Gräuel der Diktatur zunächst nicht offen thematisiert wurden. Ohnehin waren andere Probleme dringlicher: die Diktatur hatte ein wirtschaftlich und sozial zerrüttetes Land hinterlassen, die 1990er-Jahre waren daher von Inflation (Inflationsraten von zeitweise 2000%) und Sozialabbau geprägt. Die Folge war, dass die Pauperisierung in den Großstädten und die Gewalt zu vorherrschenden Themen in Gesellschaft, aber auch in Kunst und Literatur wurden. Favela-Geschichten verkauften sich und bestimmten das Bild Brasiliens im Ausland zusammen mit dem noch immer gegenwärtigen brasilianischen Karneval über Jahre: das Brasilien zwischen ausgelassener Feier und kaltblütigem Mord gerann zum Klischee. Der schon erwähnte João Ubaldo Ribeiro ironisierte dieses klischeeüberladene Bild schon 1994 in seinem Buch „Um brasileiro em Berlin“ (deutsch: „Ein Brasilianer in Berlin“, in neuer Auflage 2012 bei Suhrkamp erschienen) und die jüngere Schriftstellergeneration setzt sich inzwischen ganz bewusst davon ab und schreibt gegen solche Stereotype an, die an der Wirklichkeit vorbeigehen. Vor diesem Hintergrund entwickelt sich eine Richtung der brasilianischen Gegenwartsliteratur, die dezidiert dem Regionalismus entgegengesetzt ist und sich als internationalistische Strömung bezeichnen lässt. Sie ist zum einen geprägt durch überregionale, nicht spezifisch brasilianische Themen und zum anderen durch eine an der internationalen Literatur geschulte Formensprache.

In den 1990er-Jahren vollzog sich, parallel zu den skizzierten Entwicklungen, auch eine Öffnung Brasiliens, der Anschluss an die USA und Europa wurde auch kulturell gesucht. Gerade die Verlagsbranche war jetzt verstärkt amerikanisch dominiert: viele der großen Verlage in Brasilien waren und sind Ableger amerikanischer oder multinationaler Verlagshäuser. In der Literatur schlug sich diese Situation im Aufkommen von Romanen nieder, die sich von rein brasilianischen Themen abwendete und die regionalistischen Besonderheiten nur noch als exotistische Versatzstücke aufnahm. Paulo Coelho löste Jorge Amado als erfolgreichster Schriftsteller des Landes ab, kennzeichnend für seine Texte ist jedoch, wie oben erwähnt, gerade ihr fehlender Bezug zu Brasilien. Spirituell und esoterisch daherkommend, nutzen sie Elemente der indianischen Mythen genauso wie Traditionen der afro-brasilianischen Kultur und sind so ein leicht konsumierbarer Cocktail für den Weltmarkt, der sich in den USA und Europa genauso verkaufen lässt wie in asiatischen Großstädten.

Literarisch etwas ambitionierter tritt Bernardo Carvalho (geboren 1960) auf, der sich mit seinen Romanen vielleicht am ehesten in eine europäische Literaturtradition einordnen lässt, formal genauso wie thematisch. Das mag mit seiner Profession zusammenhängen: Carvalho ist einerseits Übersetzer aus dem Englischen und Französischen – er hat unter anderem Ian McEwan, Bruce Chatwin und Georges Perec übersetzt – und hat als Journalist für die Zeitung „Folha de Sāo Paulo“ in Paris und New York gearbeitet. Seine Romane sind gekennzeichnet durch eine gute Lesbarkeit: nicht zu lang, mit einem temporeichen Plot in dem es in der Regel um die Aufdeckung eines Geheimnisses oder eine Entdeckung geht, versehen immer mit etwas Lokalkolorit auf der einen, einem Hauch Internationalismus auf der anderen Seite. Die Texte vermischen gern Fakt und Fiktion und versuchen, ein Vexierspiel zu inszenieren, das an die durchschnittlicheren postmodernen Romane der amerikanischen 1980er-Jahre erinnert. Bekannt wurde Carvalho in Brasilien vor allem durch seinen zuerst 2002 erschienenen Roman „Nove Noites“ (deutsch: „Neun Nächte“), der die wichtigsten Literaturpreise Brasiliens erhielt. Carvalhos Roman erzählt die Geschichte von Buell Quain, einem amerikanischen Anthropologen, der sich 1939, nach einem längeren Forschungsaufenthalt bei den Krahô-Indianern, irgendwo im Amazonas-Dschungel grausam das Leben nimmt – eine historische Tatsache übrigens. 62 Jahre später stößt ein brasilianischer Journalist, der Ich-Erzähler des Romans, auf den Fall und beginnt, anfangs interessiert, später geradezu besessen, den Spuren des Anthropologen nachzuspüren um seinem rätselhaften Selbstmord auf den Grund zu gehen. Die langsame Aufdeckung führt den Leser allerdings weniger in die Dunkelheit des amazonischen Urwaldes, als vielmehr in die Düsternisse der Seele des Erforschten wie des Forschenden. In dem durchaus spannenden Roman verliert sich der Journalist schließlich vollends in Quains Leben, nur um darin sein eigenes wiederzufinden. Die Geschichte verknüpft die USA und Brasilien, streut durch die Episoden bei den Krahô auch etwas Exotik ein, verbleibt aber letztlich substanzlos und blutleer. „Nove Noites“ möchte rätselhaft und elaboriert sein, wirkt schließlich aber bloß konstruiert und etwas platt, was vor allem damit zusammenhängt, dass es Carvalho nirgends gelingt, sich von seinen erzählerischen Einflüssen frei zu machen. Auch in seinem Folgeroman „Mongólia“ (2003, deutsch 2007) variiert Carvalho sein Rezept nur minimal: ein brasilianischer Fotograf verschwindet in der tiefsten Mongolei, ein ehemaliger Diplomat, der „Westler“, macht sich auf die Suche und damit auf eine Reise durch die tiefen Asiens, die der Erzähler anhand von Tagebuchaufzeichnungen rekonstruiert, die dann, gespickt mit Kommentaren und Erläuterungen, den Roman ergeben. Eine komplexe Erzählstruktur, die der von „Nove Noites“ ähnelt, die aber letztlich ebenso ins Nichts oder in die Unbestimmtheit führt – die Spurensuche kreist um ein leeres Zentrum, am Ende steht keine Einsicht außer der, dass wir wiederum einer vielfach perspektivisch gebrochenen Reflektion über die Grenzen und Möglichkeiten der Selbst- und Fremderkenntnis im Schreiben zugesehen haben.

Carvalho hat, gerade im Vorfeld der Veröffentlichung seines letzten Romans „O Filho da Māe“ (2009, deutsch: „Der Sohn der Mutter“), vermehrt darauf hingewiesen, dass er eine Literatur der outsider schreiben wolle, steht jedoch mit seinen Romanen stellvertretend für einen Strang der brasilianischen Gegenwartsliteratur, der den Anschluss an den internationalen Buchmarkt sucht – und findet – aber das mit einer Rezeptliteratur, die weit davon entfernt ist, eine eigene Stilistik oder eigene Themen gefunden zu haben, sondern im Gegenteil gängige Themen reproduziert. Carvalho bedient sich aus dem Baukasten US-amerikanischer Erzählliteratur der 1980er- und 1990er-Jahre und präsentiert sich so einerseits in Brasilien als internationaler und belesener Autor, außerhalb des Landes als fabulierender, Vexierspiele mit den Lesern treibender brasilianischer Autor, der gewisse exotische Klischees bedient und thematische Trends aufgreift. In „O Filho da Mãe“ verlegt er die Handlung nach Sankt Petersburg und lässt, diesmal in heterodiegetischer Erzählperspektive, das heißt in dritter Person, zwei junge Männer aus Tschetschenien und einer Stadt Nahe der chinesischen Grenze im Niemandsland, in einem Strudel von Gewalt, Fremdenhass und Rassismus (der die schwelenden Konflikte der Ethnien und Nationalitäten in Osteuropa abbilden soll) entgegen aller Hoffnung die Liebe finden. Wiederum präsentiert der Roman dabei, sich der linearen Erzählung verweigernd, ein aktuelles Thema und spielt mit der Instabilität von Identität und Heimatempfinden. In Brasilien ist er, wie erwartet, positiv aufgenommen worden und war für den „Prêmio São Paulo de Literatura“ wiederum unter den Finalisten. Eine Übersetzung des Romans wird, pünktlich zur Buchmesse, im Luchterhand Verlag erscheinen.

Formal ebenso ambitioniert, aber ästhetisch und thematisch wesentlich überzeugender sind die Romane und Erzählungen von Carola Saavedra (geboren 1973), die ebenfalls um die Themen der Identität, kulturellen Verortung und der Selbstfindung und dem Selbstverlust kreisen, sich dabei aber ganz dezidiert von exotischer Staffage und räumlichen Dekor im Sinne möglichst internationaler Schauplätze befreien und sich als formal komplexe Erkundungen des Subjekts im 21. Jahrhundert verstehen. Saavedras Literatur löst sich damit von jedweder Ausstellung der vermeintlichen brasilidade, verkommt aber gleichwohl nicht zu einer kommerzialisierten, dem Weltmarkt auf den Leib geschriebenen substanzlosen Unterhaltungsliteratur. Ihr primäres Interesse ist die Auslotung menschlicher Verfasstheit und zwischenmenschlicher Beziehungen im globalisierten 21. Jahrhundert und die ästhetische Verarbeitung der post-postmodernen Subjektkonstitution.

Das Schreiben selbst rückt Julián Fuks (geboren 1981) in seinem jüngst erschienenen Roman „Procura do romance“ (2012, deutsch: „Suchen des Romans“) in den Mittelpunkt. Der Sohn argentinischer Einwanderer konfrontiert den Leser in einer dichten und rhythmischen Prosa, die das Portugiesische immer wieder mit Spanisch durchsetzt, mit dem Ringen des Protagonisten Sebastián um seine Erinnerung, eine vermeintliche Schuld und deren Verarbeitung in einer Erzählung. Es geht auch um die Erfahrungen der lateinamerikanischen Diktaturen, aber im Zentrum stehen die Frage des Schreibens selbst und die Auslotung der Möglichkeiten einer Welterfahrung und -erfassung mittels der Literatur. Die intertextuelle Dichte des Romans, aber auch die komplexe Sprache machen ihn zu einem der interessantesten Texte, die in den letzten Jahren in Brasilien erschienen sind und auch er lässt einem wie auch immer gearteten Brasilianismus keinen Raum, sondern stellt sich sowohl von seinem ästhetischen Anspruch wie seiner inhaltlichen Ausprägung in eine dezidiert internationale literarische Tradition. Sich die Welt durch Zitate zu erschließen, die mediale Erfahrung als allgegenwärtig und alldurchdringend zu erleben – eines der Kernthemen der bisherigen Romane und Essays von Joao Paulo Cuenca (geboren 1978), der ebenfalls zu den besten jungen brasilianischen Schriftstellern gezählt wird und dessen Werk auch außerhalb Brasiliens große Beachtung erfährt. Mit dem Roman „Corpo Presente“ (2003, deutsch: „Gegenwärtiger Körper“) gab er sein Debüt in Form eines inneren Monologs, der verzweifelt versucht, die auseinanderfallende und gleichzeitig so komplex gewordene moderne Welt irgendwie zu erfassen, jedoch notwendig scheitern muss und mit ihm der jugendliche Idealismus seines Protagonisten. Die Erzählung zerfällt dabei in Fragmente und überzeugt vor allem durch ihre Sprache, die gleichzeitig präzise und reduziert und doch manchmal übersprudelnd ist. Im Folgeroman „O Dia Mastroianni“ (2007, deutsch: „Mastroianni. Ein Tag“) lässt er zwei Freunde orientierungslos durch eine Großstadt taumeln, einerseits auf der Suche nach sich selbst, andererseits von der Populärkultur so sehr vereinnahmt, dass für Individualismus kein Platz mehr bleibt. Cuencas Texte sind damit auch immer als Kritik an der Internationalisierung und Globalisierung zu lesen, die alles gleich macht und die Unterschiede einzuebnen sucht, den Einzelnen am liebsten fernsteuern und durchleuchten möchte – ambitioniert ausgestaltet hat er dieses Thema zuletzt in „O único final feliz para uma história de amor é um acidente“ (2010, deutsch: Das einzig glückliche Ende einer Liebesgeschichte ist ein Unfall“). Cuenca verbindet dabei die Frage nach der Stellung des Einzelnen in der immer etwas fremd und ungeordnet wirkenden modernen Welt mit der Großstadterfahrung, die für ihn diese gewisse Kälte, aber auch die mediale Dauerbefeuerung und gleichzeitige Allüberwachung paradigmatisch repräsentiert. In seinem bald erscheinenden Roman „Antes da queda“ („Vor dem Fall“) will er, so sagt er, die Stadt Rio ins Zentrum stellen und von ihrem unvermeidlichen Kollaps erzählen.

Großstadtliteratur: Eine Sprache für die Ausgegrenzten finden

Denn spätestens der neuerliche wirtschaftliche Aufschwung der 1990er-Jahre, aber vor allem die nochmals deutlich angezogene Industrialisierung, haben die Metropolen im Land explodieren lassen. Im Ballungsraum São Paulo leben inzwischen 22 Millionen Menschen, in Rio etwa 11 Millionen auf engstem Raum. Insgesamt lebt weniger als ein Fünftel der brasilianischen Bevölkerung noch auf dem Land. Auch wenn sich die höchst prekäre soziale Situation in den Großstädten inzwischen etwas verbessert hat und Kriminalität und Armut eingedämmt werden konnten, bleibt das Phänomen der Megacity in jeglicher Hinsicht – politisch, wirtschaftlich, sozial und kulturell – für die brasilianische Gegenwart kennzeichnend. São Paulo und Rio sind nach wie vor die Zentren des Landes und an beiden Städten lässt sich noch immer exemplarisch das zentrale Problem Brasiliens beobachten: Der rasche Aufstieg des Landes vom Entwicklungs- zum Schwellenland und schließlich zu einer der größten Volkswirtschaften der Erde war weder sozial, noch politisch oder strukturell abgefedert.

Die beiden Megacities lenken den Blick auf die gewaltige Ambivalenz, die das Land bis heute nicht überwunden hat und die sich letztlich auch im Gefälle von industrialisiertem Süden und agrarisch geprägtem Norden spiegeln, nämlich das Nebeneinander von Reichtum, hochmodernen Gebäuden, großen Firmen und Luxusartikeln und verfallenen Straßenzügen, Wellblechhütten, Dreck und den allgegenwärtigen marginais, den Ausgegrenzten, die noch immer ein Viertel der Bevölkerung Brasiliens darstellen und auf deren Kosten der Fortschritt zum Teil erkauft wurde. Damit wirken vor allem die beiden Metropolen wie ein Vergrößerungsglas, in dem die Probleme und Möglichkeiten Brasiliens in verdichteter Form sichtbar werden – und damit auch für die Literatur darstellbar.

Luiz Ruffato (geboren 1961) ist das bisher am überzeugendsten gelungen. Der Sohn italienischer Einwanderer hat mit „Eles eram muitos cavalos“ (deutsch: „Es waren viele Pferde“) 2001 den vielleicht wichtigsten brasilianischen Roman des bisherigen 21. Jahrhunderts geschrieben. Es gelingt ihm darin, die Metropole São Paulo in all ihrer Ambivalenz und Gegensätzlichkeit einzufangen, die Ausgegrenzten sichtbar und ihre Geschichten zu Literatur zu machen. „Es waren viele Pferde“ findet eine Sprache für den unsagbaren Moloch, den São Paulo darstellt und der Text findet sein Thema in den Geschichten derer, die es nicht in die weichgespülten Vorabendprogramme der „Globo“-Sender schaffen. Indem sich der Roman linearem, geordnetem Erzählen ebenso verweigert wie einem Plot, fordert er die immer gleichen Schematismen der Narrationen der Unterhaltungsmedien heraus, stellt sich dagegen und bietet eine Gegenversion an. Das ist sperrig und manchmal unbequem, steht damit aber in der Tradition der brasilianischen engagierten Literatur.

Seit dieser literarischen Erschließung des urbanen Raums dient die Großstadt zahlreichen brasilianischen GegenwartsautorInnen als Spiegel gesellschaftlicher Fragen: Wo Cuenca und Fuks ihre Protagonisten die Frage nach Identitätsfindung vor dem Hintergrund des Großstadtlebens aushandeln lassen, sieht Luis Krausz die Metropole als ein Trümmerfeld der Erinnerung, das nur noch schlaglichtartig die Vergangenheit aufscheinen lässt und stetigem Wandel unterworfen ist. Dieses Thema greift die Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin Luciana Hidalgo auf und schickt, ganz in französischer Literaturtradition stehend, in ihrem Roman „O passeador“ (2011, deutsch: „Der Spaziergänger“) den brasilianischen Schriftsteller Lima Barreto (1881-1922) als Flaneur durch das Rio des frühen zwanzigsten Jahrhunderts und versucht sich somit den Anfängen der Großstadt zu nähern. Historisch mag das interessant sein, literarisch allerdings misslingt ihr die Mischung aus historischen Fakten und Fiktion: weder Barreto noch die Stadt kommen dem Leser wirklich näher. Temporeich, spannungsgeladen und voller groteskem Witz gestaltet dagegen Ana Paula Maia (geboren 1977) ihre Heimatstadt Rio in ihrem kürzlich ins Deutsche übersetzten Roman „A guerra dos bastardos“ (2007, deutsch: „Krieg der Bastarde“), der eine ganze Kaskade von Aussätzigen ins Feld führt, die rauben, morden, sich schlagen und prostituieren und versuchen, ein bisschen Geld zu machen. Dass dieses Spiel mit Stereotypen der Favelas, Gangsterbanden und den dunklen Ecken des Molochs Rio, das natürlich dauerhaft von „faulem Gestank“ überzogen ist, nicht zum Klischee gerinnt, ist der Ernsthaftigkeit und Sympathie zu verdanken, mit der Maia ihre Figuren zeichnet und zudem ihrer Fähigkeit, die Schnelligkeit und Unübersichtlichkeit der Großstadt in einen spannenden Plot zu integrieren. Nicht zuletzt zeigt sich die besondere Stellung der beiden brasilianischen Millionenstädte als Spiegel der Gesellschaft in Beatriz Brachers 2014 auch auf Deutsch erscheinendem Roman „Não falei“ (2004, deutsch: „Ich habe nicht gesprochen“), in dem für einen alternden Professor gerade das Verlassen von São Paulo zur Möglichkeit wird, die eigene, individuelle, aber auch die politische Vergangenheit – die Militärdiktatur – aufarbeiten zu können.

Die Metropole als Zeitstrahl, der die Entwicklung des Landes wie seiner Bewohner abbildet und an deren städtebaulichen Ansichten und Veränderungen die politische, aber auch soziale Entwicklung des Landes sichtbar wird, das ist es, was vor allem die Literatur – vielleicht stärker als die anderen Medien Brasiliens – an den Großstädten so fasziniert und was ihr das Material liefert, thematisch genauso wie formal. Ruffatos „Es waren viele Pferde“ ist, so zeigt sich rund 12 Jahre nach seinem Erscheinen, wegweisend gewesen für die brasilianische Gegenwartsliteratur indem er ihr mit dem radikalen, episodischen und fragmentarischen Erzählen eine neue Form erschlossen und zudem eine Sprache gefunden hat, die dem modernen Brasilien gerecht wird.

Perspektiven: Vergangenheitsbewältigung und Geschichte der Marginalisierten

Waren auch die Großstadtromane nicht nur eine Auslotung der Gegenwart, sondern immer schon gleichzeitig eine Erkundung der Vergangenheit gewesen, so ist es wohl dieses Anliegen, was die unmittelbare Literatur Brasiliens am besten auf den Punkt bringt. Fast alle ernstzunehmenden Romane der letzten fünf Jahre beschäftigen sich mit der Auslotung der subjektiven, familiären oder auch politischen Vergangenheit. Chico Lopes hat mit dem formal anspruchsvollen Roman „O estranho no corredor“ (2011, deutsch „Das Fremde im Korridor“) eine radikale Introspektion vorgelegt, die atmosphärisch beklemmend die Aufarbeitung der persönlichen Vergangenheit des Protagonisten zeigt. Brachers bereits vorgestellter Roman „Antonio“ erkundet eine Familiengeschichte, in eine ähnliche Richtung stößt Andrea del Fuegos (geboren 1975) als „Geschwister des Wassers“ im Hanser-Verlag erschienener Roman „Os Malaquias“ (2010), der die Geschichte einer Familie im Nordosten erzählt. Wiederum stilbildend für die literarische Gestaltung der eigenen Herkunft war Luiz Ruffato mit seinem fünfbändigen Romanzyklus „Inferno próvisorio“ (200-2011, deutsch: „Vorläufige Hölle“): er verfolgt darin durch das 20. Jahrhundert hindurch die Schicksale einiger italienischer Einwandererfamilien. Während „Mamma son tanto felice“ (2005, deutsch: „Mama, es geht mir gut“) noch in den 1940er- und 1950er-Jahren spielt und vor allem im engen und aufs Land beschränkten Mikrokosmos der hauptsächlich als Landarbeiter sich verdingenden Einwanderer stattfindet, verfolgen die Folgebände die Zeitläufte der Familien. Ihre Kinder und Kindeskinder schlagen sich durch die Diktatur („O Mundo Inimigo“, 2005, deutsch: „Die feindliche Welt“) mit ihrer radikalen Industrialisierung und erleben ihre langsame Auflösung („Vista Parcial da Noite“, 2006, deutsch: „Ausschnitte der Nacht“), schließlich die Transitionszeit („O Livro das Impossibilidades“, 2008, deutsch: „Das Buch der Unmöglichkeiten“), bis sie in der Gegenwart des 21. Jahrhunderts ankommen („Domingos sem Deus“, 2011, deutsch: „Sonntage ohne Gott“). Das gewaltige historische Panorama vermag so eine andere Geschichte Brasiliens zu öffnen, nämlich die Geschichte der Immigranten und ihre langsame Integration in die brasilianische Gesellschaft. Ruffato selbst kommt aus einer Einwandererfamilie aus Minais Gerais und in „Vorläufige Hölle“ erzählt er zumindest zum Teil auch seine eigene Geschichte, der er aber wiederum, wie schon in „Es waren viele Pferde“, eine lineare Erzählweise verweigert. Es sind Episoden und Fragmente, kurze Momentaufnahmen unterschiedlicher Familien, die er zusammenfügt, die Ordnung erschließt sich für den Leser erst am Schluss. Der deutsche Leser hat mit „Mama, es geht mir gut“ nun die Möglichkeit, in der Übersetzung Michael Keglers den ersten Band des Zyklus kennenzulernen. Schon von der ersten Seite an ist es die Sprachmacht, die an Ruffatos Roman fasziniert: „Eine Hölle verdorrt mich von innen heraus, weiter nichts“, heißt es dort, und noch bevor man weiß, wer da spricht, sieht man sich hineingeworfen in eine raue, rurale Welt, die in Brasilien oder irgendwo sein könnte – der Kosmos ist beschränkt auf das Feld, die Familie, die Dorfkneipe, ein paar Gläser Zuckerrohrschnaps. Die Enge der Einwandererfamilie wird so für den Leser erfahrbar: die große neue Welt entpuppt sich als kleine Kammer, die dazu führt, dass man sich zunächst an sich selbst aufreibt, zerreibt. So wie die Familie in das Land schließlich hineinwächst, wächst auch Brasilien mehr und mehr in die Erzählung hinein, bis man sich schließlich im letzten Band angekommen fühlt: ein großartiges Romanprojekt, was eindrucksvoll Familiengeschichte und Einwandererschicksal miteinander verbindet und wiederum den Randständigen – den marginais – eine Stimme verleiht. Genau das ist auch das Anliegen von dem jüngst mit dem Premio Jabutí ausgezeichneten Roman „Nihonjin“ (2011) des Sohnes japanischer Einwanderer, Oscar Nakasato (geb. 1963). Die ansonsten in Brasilien wenig beachtete Einwanderer-Gruppe der Japaner – obgleich es gerade in São Paulo zahlreiche gibt – rückt mit dem Geschwisterpaar Haruo und Sumie ins Zentrum der Erzählung, die allerdings weit weniger kraftvoll daherkommt als Ruffatos Roman und zuweilen dem Kitsch anheimfällt. Trotzdem ist auch er eine dringliche Erkundung der Historie des Landes, die eben maßgeblich durch die Geschichten der Einwanderer und ihren Beitrag zur brasilianischen Kultur geprägt ist, die eine Mischkultur im besten Wortsinne ist. Noch immer wenig berücksichtigt wird dabei das Erbe der indigenen Bevölkerung, das der Dichter und Romancier Paulo Scott (geboren 1966) in seinem im letzten Jahr mit zahlreichen Literaturpreisen bedachten „Habitante irreal“ (2011, deutsch: „Unwirkliche Bewohner“) versucht literarisch zu gestalten. Ein junger Jurastudent trifft auf ein indianisches Mädchen und damit auf eine ihm fremde Welt, die er so zaghaft tastend wie verwirrt betritt und kaum zu erfassen vermag. In der Figur des engagierten Weißen, der sich nur langsam der Ursprungskultur seines Heimatlandes nähert, spiegelt sich auch die behäbige brasilianische Gesellschaft, deren Oberschicht noch immer in der Hauptsache von Weißen besetzt wird und sich um die Indigenen und ihre Belange zu wenig kümmert. Paulo Scotts Roman ist ein wichtiger Beitrag zur Diskussion um Randgruppen und Minderheiten in Brasilien, den der deutsche Leser in einer sorgfältigen Übersetzung von Marianne Gareis im Wagenbach-Verlag kennenlernen darf. Er ist, genauso wie die anderen Romane der letzten Jahre ein Versuch, die bislang Exkludierten und marginais in ihrem spezifischen Beitrag zur brasilianischen Kultur und damit einen blinden Fleck des Brasiliens der Gegenwart sichtbar zu machen.

All diese Familiengeschichten und Einwandererromane sind gleichzeitig auch immer tastende Näherungen an das andere große Ausgeschlossene, was Brasilien bis heute belastet: die noch nicht einmal in Ansätzen aufgearbeitete Militärdiktatur. Ganz anders als in Chile oder Argentinien werden die Gräuel der brasilianischen Diktatur bis heute kaum offen diskutiert und das, obwohl sie mit ihrem Repressions- und Folterapparat für die anderen lateinamerikanischen Diktaturen zum ‚Vorbild’ wurde. Brasiliens Weg aus der Diktatur in die Demokratie, die Transition, der schleichende Übergang also, war erkauft worden mit dem Verschweigen der Historie zwischen 1964 und 1985. Die ‚Verschwundenen’ gab es in Brasilien genauso wie in Argentinien und ihr Schicksal ist bis heute ungeklärt, anders als andere Diktaturen führte das brasilianische Regime nie Akten über seine Opfer. Bis 2011 wurde der Jahrestag des Putsches, der 31. März 1964, in dem Land feierlich als „Revolução“ begangen. Durch das Amnestiegesetz von 1979 wurden zwar politische Dissidenten entlastet, gleichzeitig jedoch hatte es den Folterern und Mördern Straffreiheit garantiert – und anders als in anderen lateinamerikanischen Ländern ist dieses Amnestiegesetz bis heute in Kraft. Die Militärs haben nach wie vor Einfluss auf die brasilianische Gesellschaft und Politik. Erst im vergangenen Jahr, im Mai 2012 wurde vom Kongress endlich die Einsetzung einer 2011 von der Regierung unter Präsidentin Dilma Rousseff geforderten ‚Nationalen Wahrheitskommission’ gebilligt, die die Verbrechen der Diktatur aufarbeiten soll und zahllose Fälle von Folter, Mord und Verschwinden-Lassen zu bearbeiten hat.

Es war bezeichnenderweise ein 2011 erschienener Roman, der den Druck auf die Politik noch einmal erhöht hatte: die bislang expliziteste und schockierendste, vielleicht beste literarische Thematisierung der brasilianischen Militärdiktatur. Der Sohn jüdischer Einwanderer Bernardo Kucinski (geboren 1937) verarbeitet in „K“, der dieser Tage auch auf Deutsch erscheint, das Schicksal seiner Schwester, die Opfer der Diktatur wurde und seit 1974 als „desaparecida“ – verschwunden – gilt. In dem Roman ist es der jüdische Einwanderer K, der plötzlich feststellen muss, dass seine Tochter verschwunden ist und sich nunmehr auf die Suche macht. Kucinski erzählt diese Suche jedoch nicht linear, sondern in 29 in sich abgeschlossenen Kapiteln, Stationen einer Odyssee: „Und so begann der alte Mann seine Odyssee, stärker vom Schmerz geplagt und erschöpfter mit jedem vergehenden Tag. Vielleicht würde jemand von seinen alten Freunden jemanden kennen, der jemanden bei der Polizei, der Armee, dem Geheimdienst kannte, irgendjemanden in diesem System, das Menschen verschluckte ohne eine Spur zu hinterlassen.“

K begegnet einem gesichtslosen System, in dem jeder etwas zu wissen scheint, aber in Wahrheit niemand etwas weiß, einem System ohne Namen, ohne einen Anfang oder ein Ende. Einzelne Kapitel lassen Handlanger dieses Systems zu Wort kommen, die offenbar wissen, was mit der Tochter passiert ist, doch es bleibt offen, ob diese Episoden nicht nur Imaginationen des Protagonisten sind. An jeder Stelle des Romans scheint dabei sein Hypotext, seine intertextuelle Folie auf, vor der er komponiert wurde: Franz Kafkas „Process“, in dem Josef K. herumirrt um herauszufinden, was der Grund für seine plötzliche Verhaftung ist und schließlich versucht, überhaupt das Gericht zu finden, vor dem er sich rechtfertigen muss. Es ist ein surreales, mystisches bürokratisches System, dem Josef K. begegnet und genauso ergeht es K in seiner Suche nach seiner Tochter. Kucinski ist es meisterhaft gelungen, die unnachahmliche kafkaese Atmosphäre aus dem „Process“ zu aktualisieren und sie als Hintergrund seines hochaktuellen und hochpolitischen Romans fruchtbar zu machen. Im Kampf gegen die Diktatur wird Kafkas absurder Roman plötzlich beklemmend real und wirklich. „K“ wird damit zu einer bedrückenden, aufwühlenden literarischen Verarbeitung der Diktatur und er hat in Brasilien eine zentrale, aber verschwiegene Tatsache in Sprache überführt: „sie sind verschwunden worden“ – „eles foram desaparecidos“. Aus dem Zustand wird endlich eine Handlung und damit gibt es auch Täter.

Kucinski, politischer Aktivist, Funktionär unter Präsident Lula und Journalist, hat in einem Interview gesagt, er habe den Roman geschrieben, um das Kapitel seines Lebens abzuschließen, doch er habe gemerkt, dass es eine Sache sei, die niemals ende: „é uma coisa que não acaba nunca“. Für Brasilien sind die Verschwundenen und die Verbrechen der Militärdiktatur absolute Gegenwart. Gerade hat der Soziologe Fábio Araújo von der Universität Rio de Janeiro nachgewiesen, dass zentrale Praktiken des Verschwinden-Lassens in Brasilien in den 1990er-Jahren noch immer Anwendung fanden, vielleicht sogar immer noch finden. Noch immer jedenfalls besitzt das Militär Einfluss und eine mächtige Stimme: In einer Sitzung der Nationalen Wahrheitskommission konnte der ehemalige Chef der Sondereinheit DOI-CODI Alberto Ustra im Mai 2013 den grünen Abgeordneten und ehemaligen Aktivisten Natalini, den er einstmals selbst gefoltert hatte, als Terroristen und Aufrührer beschimpfen, ohne, dass ihm eine Welle der Empörung entgegenschlug. Gleichwohl zeigt dieses Beispiel, dass endlich eine Diskussion darüber geführt wird und dass einstmals Verschwiegene ans Licht geholt und thematisiert, dass der blinde Fleck der Militärdiktatur in den Blick genommen wird.

Wenn Brasilien also in diesem Jahr Gastland der Buchmesse ist, dann ist das nicht nur die Möglichkeit, den Reichtum seiner Literatur und des Buchmarktes zu feiern, sondern es ist auch die Möglichkeit, eine Literatur kennenzulernen, der es bei aller formalen und thematischen Diversität immer ein Anliegen war, jene blinden Flecken des Landes und der brasilianischen Gesellschaft kenntlich zu machen. Sei es durch eine Aufwertung des wirtschaftlich vergessenen Nordostens, durch eine offene Anklage von Rassismus oder die versteckte Thematisierung von Repression und Unterdrückung, durch die Sichtbarmachung von Einwanderergeschichten und dem Schicksal der marginais, oder durch die Benennung der verschwiegenen Verbrechen der Militärdiktatur. Immer hat die brasilianische Literatur im Wortsinne zur Sprache gebracht, was vorher ungehört war. Es steckt also durchaus mehr als nur etwas Wirtschaftliches darin, wenn die Brasilianer gegenwärtig vom ‚Moment des Buches’ sprechen. Die brasilianische Gegenwartsliteratur auf den Begriff bringen zu wollen, ist nahezu unmöglich – aber fest steht, dass gerade sie in jeder Hinsicht die brasilianische Gegenwart erst sichtbar und verstehbar macht.

Besprochene Bücher / Literaturhinweise:

Bernardo Carvalho: Neun Nächte. Roman.
Übersetzt aus dem Portugiesischen von Karin von Schweder-Schreiner.
Luchterhand Literaturverlag, München 2006.
205 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-10: 3630871895

Bernardo Carvalho: Mongolia. Roman.
Übersetzt aus dem Brasilianischen Portugiesisch von Karin Schweder-Schreiner.
Luchterhand Literaturverlag, München 2007.
220 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783630871738

Bernardo Carvalho: In Sao Paulo geht die Sonne unter. Roman.
Übersetzt aus dem Portugiesischen von Karin von Schweder-Schreiner.
Luchterhand Literaturverlag, München 2009.
182 Seiten, 17,95 EUR.
ISBN-13: 9783630872803

Bernardo Carvalho: O Filho da Māe.
Companhia das Letras, São Paulo 2009.
208 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 978-8535913965

João Paulo Cuenca: Corpo presente.
Planeta do Brasil, São Paulo 2002.
142 S., ca. 13 EUR.
ISBN-13: 9788574796390

Julián Fuks: Procura do Romance.
Record, São Paulo 2011.
144 S., ca. 11,50 EUR.
ISBN-13: 9788501094742

Luciana Hidalgo: O Passeador.
Editora Rocco, Rio de Janeiro 2011.
192 Seiten, ca. 8,50 EUR.
ISBN-13: 9788532527158

Luis Krausz: Desterro. Memórias em ruínas.
Tordesilhas, São Paulo 2011.
164 S., ca. 9,70 EUR.
ISBN-13: 978-85-644-0608-7

Bernardo Kucinski: K.
Expressão Popular, São Paulo 2011.
184 Seiten, ca. 6 EUR.
ISBN-13: 9788577431892

Michel Laub: Diário da queda.
Companhia das Letras, São Paulo 2011.
152 S., ca. 11,70 EUR.
ISBN-13: 978-85-359-1817-5

Chico Lopes: O estranho no corredor.
Editora 34, São Paulo 2011.
128 Seiten, ca. 10,50 EUR.
ISBN-13: 978-85-7326-477-7

Adriana Lisboa: Sinfonia em branco.
Editora Rocco, Rio de Janeiro 2001.
222 Seiten, ca. 9,43 EUR.
ISBN: 9788532512437

Clarice Lispector: Nahe dem wilden Herzen. Roman.
Übersetzt aus dem brasilianischen Portugiesisch von Ray-Güde Merin, überarbeitet von Corinna Santa Cruz.
Schöffling&Co Verlag, Frankfurt 2013.
320 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783895616204

Clarice Lispector: Der Lüster. Roman.
Übersetzt aus dem brasilianischen Portugiesisch von Luis Ruby.
Schöffling&Co Verlag, Frankfurt 2013.
420 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783895616211

Clarice Lispector: A Hora de Estrela.
Editora Rocco, Rio de Janeiro 1998.
87 Seiten, ca. 6,80 EUR.
ISBN: 9788532508126

Ana Paula Maia: Krieg der Bastarde. Roman.
Übersetzt aus dem brasilianischen Portugiesisch von Wanda Jakob.
A1 Verlag, München 2013.
221 Seiten, 18,80 EUR.
ISBN-13: 9783940666420

Benjamin Moser: Clarice Lispector. Eine Biographie.
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Bernd Rullkötter.
Schöffling&Co Verlag, Frankfurt 2013.
564 Seiten, 36,95 EUR.
ISBN-13: 9783895616228

Oscar Nakasato: Nihonjin.
Benvira Editora, São Paulo 2011.
176 Seiten, ca. 7 EUR.
ISBN-13: 9788502131088

Luiz Ruffato: Mama, es geht mir gut. Vorläufige Hölle. Band 1.
Übersetzt aus dem Portugiesischen von Michael Kegler.
Assoziation A, Berlin 2013.
160 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783862414215

Moacyr Scliar: A guerra no Bom Fim.
L&PM Editores 2004.
122 Seiten, ca. 4,50 EUR.
ISBN-13: 9788525413215

Moacyr Scliar: O centauro no jardim.
Companhia das Letras, São Paulo 2004.
240 Seiten, ca. 13,70 EUR.
ISBN-13: 9788535904598

Moacyr Scliar: Os voluntários.
L&PM Editores 2001.
200 Seiten, ca. 5,70 EUR.
ISBN-13: 9788525410665

Moacyr Scliar: Die Ein-Mann-Armee. Roman.
Übersetzt aus dem Brasilianischen Portugiesisch von Karin Schweder-Schreiner.
Lilienfeld Verlag, Stuttgart 2013.
Ca. 200 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783940357366

Paulo Scott: Unwirkliche Bewohner. Roman.
Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Marianne Gareis.
Wagenbach Verlag, Berlin 2013.
256 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN 978-3-8031-3250-5

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz