Interdisziplinäre Annäherungen an eine Grundbefindlichkeit des Menschen

Über das von Lars Koch herausgegebene „Handbuch Angst“

Von Annamarie SchimmerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Annamarie Schimmer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jeder Mensch hat Angst. Sie lässt einen erstarren, sie löst Fluchtimpulse aus, sie schnürt einem die Kehle zu und führt zu Orientierungslosigkeit. Angst wird als ein elementares Gefühl, als eine Grundbefindlichkeit bezeichnet. Zudem ist sie nicht nur etwas, was den Menschen vom Tier unterscheidet – hierbei wird eine Unterscheidung der Begriffe Angst und Furcht notwendig –, sondern sogar etwas, was den Menschen überhaupt wesenhaft ausmacht.

Eine überblickshafte Annäherung an dieses Phänomen bietet nun der von Lars Koch herausgegebene Sammelband „Angst. Ein interdisziplinäres Handbuch“, das aus dem DFG-Netzwerk „Spielformen der Angst“ hervorgeht. Das Handbuch hat nicht den Anspruch, das Phänomen Angst allumfassend darzustellen, sondern möchte „einen wesentlichen Beitrag zu ihrer nachhaltigen Etablierung als Element von Kultur- und Gegenwartsanalyse leisten“.

Im ersten Kapitel bietet es einen Überblick über die Theorien von Angst in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen. Während einige davon, wie zum Beispiel die Psychologie, die Philosophie und die Biologie, auf eine lange Tradition der Angstforschung zurückgreifen können, stellt die Beschäftigung mit Angst bei anderen Disziplinen ein Novum und damit ein Forschungsdesiderat dar. Während bislang Untersuchungen von Angst-Semantiken zumeist diachron betrachtet wurden, plädiert der Herausgeber für eine ebenso „synchrone Ausdifferenzierung von Angst-Diskursen“. Daraus resultiert der Aufbau des Handbuchs, indem verschiedene Spezialdiskurse der Angst unterschieden „und deren interdiskursive Diffusion in Form kollektiv geteilter Angstszenarien rekonstruiert“ wird.

Dem liegt die Annahme zugrunde, dass Angsterfahrungen subjektiv und jeweils vom historisch-sozialen Kontext abhängig sind. Damit begründet der Sammelband seine zeitliche Eingrenzung auf die Moderne, die ab etwa 1800 veranschlagt wird. Mit dem Wegbruch des religiösen Weltmodells und einem „durch Beschleunigung, Kontingenz und Komplexität“ bestimmten Zeitalter entstehen für den Menschen der Moderne Verunsicherung und Unüberschaubarkeit. In einer von Ohnmacht und Eigenverantwortlichkeit des eigenen Handelns geprägten Welt empfindet der Mensch verstärkt Angst nicht nur angesichts einer akuten Bedrohungssituation, sondern auch in scheinbar ungefährlichen Situationen. Hierbei wird in Anlehnung an  Sören Kierkegaard und Martin Heidegger zwischen Angst und Furcht unterschieden. Ersteres wird als „frei flottierendes Gefühl“ beschrieben, das sich auf nichts Bestimmtes bezieht, während Furcht ein konkretes Objekt zum Gegenstand hat. So hat man Angst vor etwa dem sozialen Ausschluss aus der Gesellschaft, aber fürchtet sich vor fassbaren Gefahren, etwa einem Raubtier. In seinem Buch „Der Begriff Angst“ beschreibt Kierkegaard Angst als „die Wirklichkeit der Freiheit als Möglichkeit für die Möglichkeit“, damit führt sie dem Dasein die Möglichkeiten der eigenen Gestaltung der Existenz vor Augen und somit seine Eigenverantwortlichkeit.

Zudem, und das wird nochmal eindringlich im Beitrag über die „Ethnologie der Angst“ deutlich, ist Angst ein Phänomen, das auch kulturell verschieden aufgefasst beziehungsweise wahrgenommen wird. Martin Ramstedt geht dabei von der These Anna Wierzbickas aus, dass Angst als Emotion zwar in allen Kulturen bekannt sei, dieser aber nicht in jeder der gleiche Bedeutungsgehalt zukäme. So gibt es in anderen Sprachen keine Entsprechung für das deutsche „Angst“ – als existentiellem Gefühl –, das aber zum Beispiel im englischen Sprachraum als „german angst“ längst eingegliedert ist. Insofern ist die Beschränkung der vorliegenden Untersuchungen auf den europäisch-nordamerikanischen Kulturraum nachvollziehbar.

Die Einzelbetrachtungen der wissenschaftlichen Disziplinen legen bereits nahe, wieso eine interdisziplinäre Ausrichtung der Angstforschung ein Desiderat darstellt. So begegnen einem immer wieder die Namen Kierkegaard und Heidegger oder auch Niklas Luhmann und Sigmund Freud. Der Rückgriff auf gleiche Theorien trotz verschiedener Konzepte zeigt einerseits die breit anwendbare Definition von Angst und bietet andererseits die Grundlage für eine vergleichende kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen.

Insofern stellt das nächste Kapitel „Medienkulturen der Angst“ folgerichtig die Frage nach Medialität und Repräsentation von Angst. Dabei werden Erscheinungsweisen in Raum und Narration in den Blick genommen und in einem gesonderten Abschnitt nochmals die ästhetischen Bereiche der Literatur, des Films und der Kunst einzeln verhandelt. In seiner Darlegung über die Medialität von Angst, nennt Andreas Käuser die „Fern-Nähe“ von Angst, das heißt Distanz zum angstauslösenden Ereignis und gleichzeitige Nähe durch die Berichterstattung der Medien als für die Moderne typisch. Der Begriff der Angst – unterschieden von objektgerichteter Furcht – bedarf als Diskurs seiner medialen Verkörperung, um sichtbar zu werden. Durch die mediale und diskursive Hervorbringung der Angst kann sie nicht nur erzeugt, sondern auch reflektiert und bewältigt werden. Dies wird anschaulich dargelegt in dem Beitrag über „Angstlust“. Wurde vorher stets auf die Funktion der Angst als Gefahrenmeldung oder Machtausübung verwiesen, stellt Thomas Anz heraus, dass Angst ebenso positiv bewertet werden und Lust hervorrufen kann. Wo dem Menschen die natürlichen Gefahren fehlen, schafft er sich durch Extremsportarten – wie beispielsweise Bungee-Jumping – Situationen, in denen man sich bewusst an die Grenze der Todesangst begibt. „Wir kennen dieses lustvolle Spiel mit dem Tod und der Todesangst jedoch auch aus den permanenten Darstellungen von Gewalt und Grausamkeit, Unglücksfällen und Katastrophen in Literatur, Malerei oder Film.“

Mit der Angst in der Literatur befasst sich Lars Koch, der sich bewusst von einer wirkungsästhetischen Analyse abgrenzt. Dabei ist es nötig, die jeweiligen Texte nicht nur in ihren kulturhistorischen Kontext zu betten, sondern sie auch „als symbolische Verdichtungen spezifischer soziokultureller Problemlagen zu lesen“ und nach der enthaltenen Codierung von Angst zu fragen. Für die kulturwissenschaftliche Betrachtung kann die Untersuchung von Angst in der Literatur insofern fruchtbar sein, als dass sie nach Koch „Angst als Zeitphänomen in symbolisch verdichteter Weise zur Sprache“ bringen kann. Darüber hinaus findet sich ein Gewinn für die literaturwissenschaftliche Emotionsforschung, indem Emotionen nicht als reines Textphänomen begriffen, sondern in einen größeren Zusammenhang gestellt werden.

Im letzten mit „Kulturgeschichte der Angst“ überschriebenen Kapitel wird auf gesellschaftliche Erscheinungsweisen von Angst Bezug genommen. Besonders in der heutigen Zeit sind es Dinge wie Terrorismus und Finanzkrisen, die kollektive Angst hervorrufen und den Menschen beschäftigen. Das oben beschriebene Ohnmachtsgefühl gegenüber Gefahren und Bedrohungen, die Angst hervorrufen, wird hier mit aktuellen Geschehnissen verbunden. Doch nicht nur für den Einzelnen scheinbar unbekämpfbare Szenarien wie Revolutionen oder Epidemien wie die Cholera, sondern auch ganz alltägliche Ängste vor Arbeitslosigkeit oder davor, durch die fortschreitende Digitalisierung ein sogenannter „gläserner Mensch“ zu werden, werden in den Blick genommen. Gerade in dem letztgenannten Beitrag von Hans Jörg Schmidt wird thematisiert, wie sehr Angstkonjunkturen mit dem gesteigerten Sicherheitsbedürfnis der Kultur verbunden sind. Je höher das von Regierungsseite versprochene und damit von der Bevölkerung als notwendig erachtete Sicherheitsaufkommen ist, desto größer wird gleichzeitig die Angst.

Das Handbuch zeigt sehr anschaulich und facettenreich, welch komplexes Phänomen Angst ist und in welchen Bereichen (nicht nur des wissenschaftlichen) Lebens es als untersuchter Gegenstand Zusammenhänge, Bedeutungen und Mechanismen freilegen kann. Die Beschäftigung mit dem Sammelband ist insofern nicht nur hilfreich für eine erste Annäherung an Angst als Forschungsgegenstand, sondern ebenso für Leser mit Vorwissen eine Bereicherung, insofern Verknüpfungen und Schnittstellen von einzelnen Disziplinen und entsprechenden Angstkonzepten sichtbar und somit analysierbar werden.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Lars Koch (Hg.): Angst. Ein interdisziplinäres Handbuch.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2013.
400 Seiten, 64,95 EUR.
ISBN-13: 9783476024152

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