Vom „braunen Schimpfsumpf der besseren Gesellschaft“

Zwei neue Erzählbände des Konstanzer Arztes, Malers und Schriftstellers Andreas Beck

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Andreas Beck ist ein Phänomen. Ein Tausendsassa. Ein Multitalent, das beeindruckt, berührt, nachdenklich stimmt. Der 65-jährige Konstanzer Chefarzt des Instituts für Röntgendiagnostik und Nuklearmedizin, zugleich promovierter Theologe, „ist der Welt“ immer mehrfach „zugetan“, wie Martin Walser 2006 in seinem in der Edition Isele erschienenen wunderbaren Essay „Der Lebensroman des Andreas Beck“ formuliert. Als Schriftsteller, als Maler, oft auch als Theologe und immer einfach als „Menschenfreund“, der Lebensgeschichten von „Mühseligen und Beladenen“ in Novellen im doppelten Wortsinne „aufhebt“. Andreas Beck, sagt Walser zu Recht, „treibt Lebens-Archäologie“, „läßt keinen Koffer, der noch in irgend einem Dachboden dämmert, ungeöffnet, keine Urnichte ungefragt, bis er Leben und Leistung des ‚kleinen Genius‘ im großen Stil vorführen kann.“

Wie in seinen ‚Schwarzwaldnovellen‘ „Banfi und Belfki“ (2004) oder in dem traurig-schönen Buch über die blinde Seherin „Tante Lisbeth“ (2008) sind es in den sechs neuen Erzählungen – 2012 unter dem Titel „Novellen vom Spaziergänger“, die wie die übrigen knapp drei Dutzend Bücher des moralischen Chronisten im Konstanzer Clio Verlag erschienen sind – überwiegend die Aufrechten, die Geradlinigen, die in der Zeit des „Malergesellen aus Braunau“ Integren, jene im Alltag oft so genannten einfachen Leute, denen Beck mit seinen Erzählungen nachträglich ein Denkmal setzt.

Da ist in „Der 5. Pfeiler“, der längsten Erzählung des Bandes, Gustav Mosetter, jener „kleine Hausmeister“ des Krankenhauses: „Schon seit Monaten wollte er nur eines, das sinnlose Sterben beenden, das er jeden Tag in seinem kleinen Krankenhaus erlebte.“ Seit Jahr und Tag hatten „SS-Scharführer-Bürgermeister Müller“ und Schupo Adolf Trottenkühl mit ihren willigen Helfern das Städtchen terrorisiert und viele auf Linie gebracht: „Selbst die braven englischen Schwestern, die über die ganze Kriegszeit hinweg Großartiges leisteten, waren von dem Virus des Nationalsozialismus angesteckt. Und der erinnerte sich noch, wie brave Christen und Christinnen ungewohnt sogar ihre rechte Hand zum Gruß eines offensichtlich noch für größer Geachteten anhoben“. So fasst er sich aus Angst ein Herz, als er zufällig mitanhört, dass die Nazi-Chargen in der Nacht vom 20. auf den 21. April 1945 die Sprengung des Viadukts über das Reichenbachtal vorbereiten. Mosetter kappt unter Lebensgefahr die meisten der an den Pfeilern angebrachten Zünddrähte und rettet so das „Viehdukt“. Wenngleich die wechselvolle Geschichte „der Bruck“ im Mittelpunkt steht, sind es doch Figuren wie Mosetter, oder jener in halb Europa herumgeschubste italienische Wander- und spätere Zwangsarbeiter Pasquale Banfi, unter dessen Anleitung der beschädigte fünfte Pfeiler wieder repariert wird, oder der spätere Dekan Willi Weßbecher, an denen Beck jenes „aber vergesst es nie“ formuliert.

Eine solche Figur ist auch der Oberlehrer und Kantor Eugen Stolz, der von seinem neuen vorgesetzten Rektor, dem strammen NS-Hausmeister und von HJ-Pimpfen drangsaliert wird. So zieht er sich immer mehr in sich selbst, in seine Musik, zurück: „Ja, Eugen Stolz war im besten Sinne des Wortes asozial geworden – er war ein Misanthrop geworden und konnte seine Landsleute nicht mehr recht verstehen“. Bei einem Fliegerangriff trifft ihn ein Splitter, als er an der Orgel bei der Beerdigung eines Nazi-Wirts in den Bach’schen „Inventionen“ versinkt: „Aber es war nicht die Beerdigung eines armen, irregeleiteten Patrioten und Nazis, sondern es war die Demonstration eines unglaublich mächtig gewordenen Musikers für die Freiheit, die Schönheit des Christentums und der Kunst überhaupt.“

Beck setzt auch Agathon Wehrlin in der gleichnamigen Erzählung ein gefühlvoll-stimmiges Denkmal. Der kleine Agathon erlebt im Hause seines von den Nazis als Oberbürgermeister geschassten Vaters mit Menschen wie Mosetter, dem Dreher Wölfle, dem Messner Paul Scarfarcyk und wenigen anderen eine „kleine Insel der Freiheit“. Und dennoch: „Agathon Wehrlin war zerrissen wie selten ein Kind in diesem Städtchen, denn er hörte mit Leidenschaft die Stimme der Freiheit von Menschen, denen er vertrauen konnte, und vernahm aus dem Volksempfänger und den übrigen Verlautbarungen seiner Heimat in den Zeitungen und den neuen Büchern von der unbedingten Notwendigkeit, alle Andersdenkenden auszumerzen.“ Im Zuge der Verfolgungen nach dem gescheiterten Hitler-Attentat am 20. Juli 1944 gerät auch der Sanitäter Wehrlin auf eine „schwarze Liste“. Gewarnt von seinem Vorgesetzten, desertiert Agathon und versteckt sich fast ein halbes Jahr auf dem Dachboden bei seinen Eltern. Verraten von der frühpensionierten Lehrerin Frieda Kleinschmid, wird Agathon schwerst misshandelt und nur wenige Stunden vor der Befreiung von Wolfach an der dortigen Friedhofsmauer von den Nazis erschossen. Beck schließt die Erzählung desillusioniert: „Die Besetzung des Städtchens war erst einen halben Tag alt, der Mord lag einen Tag zurück, und schon glaubte man im Städtchen, dass man mit der Sache nichts zu tun habe, das sei doch schon sehr lange her.“

Ähnlich endet auch die Novelle „Das zweite Testament der alten Dame“, als die verstorbene Katharina Basler ihr Vermögen den Ehrlichs, Fräulein Pubell, dem Notar Hammerstein und dem ehemaligen Dienstmädchen Sophie Himmelheber vermacht. Einzige Bedingung: Deren Nazi-Vergangenheit, der „braune Schimpfsumpf der besseren Gesellschaft“, soll im „Merlhäuser Boten“ publik gemacht werden. Die Geldgier der Erben ist größer als die Scham vor der eigenen Vergangenheit, zumal Notar Hammerstein und Jurist Ehrlich Entschärfungen des Testamentstextes vornehmen und mit der Redaktion des „Boten“ vorab die Sache für die „vorletzte Kulturseite“ klären: „Es schien einer alten, oft gehörten Geschichte zu entsprechen, die niemand mehr lesen wollte. Und so ging diese Zeitungsnotiz irgendwie unter.“

Aus ganz anderem Holz ist da der Journalist und ehrenamtliche Stadtarchivar Heinrich Maudit in Becks fast 700 Seiten starker ‚Novelle‘ „Lange Schatten“ geschnitzt. Die Roman-Erzählung beginnt mit einer „alten Novelle“, der Ermordung von acht französischen Kriegsgefangenen an der Merlhäuser Friedhofsmauer wenige Stunden vor dem Einrücken der französischen Truppen in den letzten Kriegstagen und der Flucht der verantwortlichen Nazis und ihrer willigen Vollstrecker. Die „neue Novelle“ beginnt mit der Beerdigung von Adolphe Singe, einem angesehenen Merlhäuser Bauern. Dessen vermeintlicher Tod infolge einer winterlichen Trunkenheit entpuppt sich, wie der Journalist Maudit herausfindet, als Mord. Alsbald wird auf Maudit geschossen. Bei einem nächtlichen Einbruch werden ihm Archivdokumente gestohlen und kurz darauf geschieht ein weiterer mysteriöser Todesfall. Maudits Recherchen, die sich spannend wie ein Krimi lesen, führen den Journalisten in die Schweiz und nach Frankreich auf die Spuren eines Massakers bei Longchamps. Am Ende landet Maudit wegen Verleumdung vor Gericht. Dort schließlich löst sich der komplizierte Fall, über den hier nicht mehr verraten werden soll, lebt die Erzählung doch auch von ihrer Spannung. „Lange Schatten“ endet mit einem wehmütigen Friedhofsbesuch des Journalisten am Grab des Schriftstellers Erich Maria Remarque am Lago Maggiore und dem Satz: „Er hatte Heimweh, aber solche Gefühle mußte er unterdrücken – für immer.“

Dieses „Heimweh“ ist auch ein Heimweh nach jenen mutigen vermeintlich kleinen Leuten, wie Eugen Stolz, Agathon Wehrlin und einigen anderen, deren Geschichte so und ähnlich geschehen sind, und die Beck literarisch bewahrt – im Übrigen immer auch malerisch in vielen Aquarellen und Zeichnungen, die er seinen Texten beigibt. Becks Erzählungen samt ihren Bildern zeugen so – wie die Musik von Eugen Stolz – immer auch vom Triumph jener besseren Welt, von „der Schönheit der Kunst überhaupt“.

Titelbild

Andreas Beck: Lange Schatten. Novelle.
Clio Verlag, Konstanz 2012.
700 Seiten, 33,50 EUR.
ISBN-13: 9783000300493

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Andreas Beck: Novellen vom Spaziergänger.
Clio Verlag, Konstanz 2012.
415 Seiten, 26,50 EUR.
ISBN-13: 9783000332173

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