Georg Büchner – ein Extremfall

Früher Tod und späte Wirkung des am 17. Oktober 1813 geborenen Dichters, Revolutionärs und Wissenschaftlers

Von Ariane MartinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ariane Martin

„Große Hoffnungen ruhten auf ihm, und so reich war er mit Gaben ausgestattet, daß er selbst die kühnsten Erwartungen übertroffen haben würde.“ Dies schrieb Wilhelm Schulz am 28. Februar 1837 in seinem Nekrolog über Georg Büchner, der mit ihm in Zürich in seinen letzten Wochen im selben Haus Wand an Wand gewohnt hatte. Von dem so früh verstorbenen Freund wäre noch viel zu erwarten gewesen. „Alle diese Hoffnungen knickte der Sturm“, der frühe Tod, so klagte ähnlich auch Karl Gutzkow, der publizistische Mentor Büchners, in seinem Nachruf Ein Kind der neuen Zeit vom Juni 1837. Gegenüber Wilhelmine Jaeglé, der Verlobten Büchners, äußerte Gutzkow, als er mit ihr am 30. August 1837 Kontakt aufnahm und ihr den Plan einer Nachlassedition eröffnete, dass Büchner „mitten, ja noch vor seinem Anlaufe zum Höchsten starb“. Tatsächlich konnte ein so junger Autor wie Büchner trotz seiner beachtlichen literarischen Produktivität noch nicht das Œuvre vorgelegt haben, auf das Autoren zurückblicken können, die ein langes Leben gelebt haben. Wäre beispielsweise Goethe im gleichen Alter wie Büchner gestorben, dann hätte er lediglich einige Gedichte, den kleinen Aufsatz Von deutscher Baukunst und das Drama Götz von Berlichingen gedruckt hinterlassen.

Als Georg Büchner am 19. Februar 1837 im Alter von 23 Jahren und 4 Monaten starb, hatte er – abgesehen von zwei von ihm übersetzten Stücken Victor Hugos – unter seinem Namen nur ein einziges Werk veröffentlicht, das Drama Danton’s Tod. Als Mitverfasser der revolutionären Flugschrift Der Hessische Landbote war sein Name verständlicherweise anonym geblieben. Seine Komödie Leonce und Lena konnte er zwar zu Lebzeiten wohl noch abschließen, ein Druck aber kam nicht mehr zustande. Sie wurde erst posthum publiziert, ebenso wie sein Erzählfragment Lenz und sein unvollendetes Drama Woyzeck. Von einem mutmaßlichen Stück über Pietro Aretino fehlt jede Spur. Das überlieferte literarische Werk Büchners, drei Dramen und ein Prosatext, entstanden in der kurzen Frist von kaum drei Jahren, ist vom Umfang her eher schmal.

Alles andere als begrenzt ist dagegen die ungewöhnlich breite Wirkung dieses Werks, die jedoch spät einsetzte. Abgesehen von dem Engagement Gutzkows war die Frührezeption Büchners zunächst insgesamt recht spärlich, wenn auch keineswegs von einem Wirkungs-Vakuum in den Jahren und Jahrzehnten nach dem Ableben des Autors die Rede sein kann. Schon Gutzkow hatte Büchner als exemplarisches Kind der neuen Zeit gefeiert, wie sein Nachruf 1837 überschrieben war. Nachhaltig entdeckt wurde Büchner aber erst Ende des 19. Jahrhunderts durch die Naturalisten. Die naturalistische Moderne erkannte in ihm einen modernen Dramatiker, schätzte jedoch auch seinen Prosatext Lenz, allen voran Gerhart Hauptmann. Als Vorläufer der Moderne oder sogar wie ein Zeitgenosse aufgefasst wurde Büchner dann insbesondere von den Expressionisten, welche den Durchbruch seiner Dramen auf dem Theater und seine außerordentliche wirkungsgeschichtliche Karriere im 20. Jahrhundert bis heute eigentlich begründeten.

Anders als beispielsweise Richard Wagner oder Friedrich Hebbel oder Otto Ludwig, die alle wie Büchner 1813 geboren sind, hat der Verfasser von Danton’s Tod und von Leonce und Lena, der Autor des Lenz und des Woyzeck in seinem künstlerischen Profil die Signatur der Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts nicht maßgeblich geprägt. Im Unterschied zu ihnen wird Büchner stattdessen dezidiert als ein Autor der Moderne gelesen. Das Bild vom „unzeitgemäßen Büchner“ ist noch immer ein Topos. Sein Œuvre erscheint wenig charakteristisch für das 19. Jahrhundert und überhaupt nicht typisch für die biedermeierliche Literatur der 1830er Jahre, mit der es gleichzeitig entstanden ist. Auch mit Blick auf die Literatur des Vormärz erscheint es singulär. Es wirkt in seiner Eigenart gegenwärtig, unmittelbar und ohne historische Patina. Büchner hat das Drama formal und thematisch revolutioniert und er hat dramatisch und erzähltechnisch psychische Krisen und Konfliktkonstellationen glaubhaft transparent gemacht. Seine literarischen Texte – dazu zählen gewissermaßen auch seine Briefe – sind bilderreich, pointiert und witzig, zugleich sind sie in einem existentiellen Sinne ernst, ohne in Klischees zu fallen. Sie sind atmosphärisch dicht und anspielungsreich, zugleich wirklichkeitsbezogen und artifiziell. Sie sind konkret, ohne plakativ zu sein. Büchners Texte verraten einen scharfen Blick auf soziale und andere Realitäten, sie integrieren in ihrer auffälligen Intertextualität literarische Traditionen und sind zugleich originell. Alle diese Qualitäten dürften dafür verantwortlich sein, dass Büchner als Vorläufer oder gar als früher Repräsentant der Moderne gilt, seinem Werk eine fast zeitlos anmutende Aktualität beigemessen wird und bis heute stets neue Leser und Interpreten findet.

Georg Büchner ist einem breiteren Lese- und Theaterpublikum bekannt. Er wird in der Schule gelesen und an der Universität. Seine Bedeutung ist unbestritten. Einer der renommiertesten Literaturpreise im deutschsprachigen Raum ist nach ihm benannt, der Georg-Büchner-Preis. Der Autor hat im 20. Jahrhundert eine produktive künstlerische Rezeption erfahren wie nur wenige Dichter seiner Zeit. Zahlreiche Schriftsteller haben sich von seinem Œuvre und seiner Person in ihrer literarischen Produktion inspirieren lassen, Büchner-Opern wurden komponiert, Filme gedreht, seine Werke in vielfältigen Interpretationen inszeniert, wobei seine Stücke national und international von den Spielplänen der Theater nicht wegzudenken sind. Allein die Fülle an literarischen Wirkungszeugnissen ist beeindruckend, die beständig weiter anwachsende Forschungsliteratur fast nicht mehr zu überblicken.

„Ach die Wissenschaft, die Wissenschaft!“ So seufzt der Narr Valerio ernst und komisch zugleich in Leonce und Lena. Angesichts der umfangreichen Sekundärliteratur zu Büchner und seinem schmalen Œuvre könnte ein solcher Seufzer gelegentlich angebracht sein, wenn nicht durch eben diese Forschung in ihrer methodischen Vielfalt und ihrem jeweils ganz unterschiedlich gelagerten Erkenntnisinteresse doch immer wieder auch neue Lesarten und Einsichten in dieses Werk zutage gefördert würden. Denn Büchner gilt wissenschafts- und mentalitätsgeschichtlich gesehen als ein „Extremfall“, auf den seit Anbeginn der Auseinandersetzung mit ihm ganz unterschiedliche Anschauungen aufeinanderprallen.

Die kontrovers argumentierende Forschung befasst sich nicht nur mit den inzwischen recht ausgiebig und nicht selten streitlustig diskutierten literarischen Texten Büchners. Sie befasst sich darüber hinaus aus guten Gründen oft auch mit dem wechselvollen Leben des Autors, der Revolutionär, Dichter, Wissenschaftler war, wie schon die große Ausstellung in Darmstadt 1987 das Profil Büchners gekennzeichnet hat. Auf dieses Profil bezieht sich auch die am 12. Oktober 2013 eröffnete Darmstädter Ausstellung mit dem Titel Georg Büchner – Revolutionär mit Feder und Skalpell.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag basiert mit leichten Modifikationen auf Ariane Martin: Georg Büchner. Stuttgart: Reclam 2007 (Universal-Bibliothek), S.7-11. Die Verfasserin ist Herausgeberin von Georg Büchner: Die Briefe. Stuttgart: Reclam 2011 (Universal-Bibliothek) sowie von Georg Büchner: Sämtliche Werke und Briefe. Stuttgart 2012 (Bibliothek Reclam). Die neueste ihrer zahlreichen Veröffentlichungen zu Büchner verfasste sie zusammen mit Bodo Morawe: Dichter der Immanenz. Vier Studien zu Georg Büchner. Bielefeld: Aisthesis 2013.