Langmut: eine der stärksten Disziplinen von Frauen

Wie Alice Munro die Short Stories veränderte – und mit ihnen 2013 den Nobelpreis für Literatur erhielt

Von Simone FrielingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simone Frieling

Nicht an die US-Amerikanerin Joye Carol Oates – wie von vielen erwartet –, sondern an die 82-jährige Kanadierin Alice Munro geht der diesjährige Nobelpreis für Literatur. Damit ist Munro die 13. Frau, die seit 1901 den mit ca. 900.000 Euro dotierten Preis erhält. Vielen galt die “Meisterin der zeitgenössischen Kurzgeschichte“, wie sie von den schwedischen Juroren genannt wird, schon lange als Anwärterin, manch anderen aber erscheint ihr Werk zu unspektakulär, ihre Themenspektrum zu begrenzt.

Die alte Dame reagierte auf die Nachricht – von ihrer ältesten Tochter übermittelt − sympathisch bescheiden: „es freut mich, daß die Kanadischen Schriftsteller nun mehr Aufmerksamkeit bekommen werden“. Wenn sie an die geringe Zahl der Preisträgerinnen denke, die seit 1901 ausgezeichnet worden sind, mache es sie glücklich: „Für uns als Frauen.“ Dabei hat Munro vielleicht die schwedische Schriftstellerin Selma Lagerlöf vor Augen, die als erste Frau 1909 im Alter von 51 Jahren den Preis erhielt. Auch sie war eine große Dame bis ins hohe Alter hinein, aber ihre Erzählweise, Thomas Mann sprach von einer „epischen Urbegabung“, könnte nicht unterschiedlicher sein verglichen mit der Munros. Während die erste Preisträgerin „auf Grund des edlen Idealismus, des Phantasiereichtums und der seelenvollen Darstellung“ vom Nobelpreiskomitee ausgewählt wurde, ist das Werk Munros für Kürze, Nüchternheit und den präzisen Blick auf Menschen mit alltäglichen Problemen gewürdigt worden.

Bei den unterschiedlichen Erzählweisen der beiden Autorinnen spielen nicht nur andersartige Begabungen und Vorlieben eine Rolle, sondern auch ungleiche Arbeitsbedingungen. Lagerlöf konnte, unverheiratet und ohne Kinder, nachdem sie ihren Beruf als Lehrerin aufgegeben hatte, frei über ihre Zeit verfügen. Munro betont, dass sich ihr Stil und ihre Entscheidung für die Kurzgeschichte aus ihrem Familienleben ergeben haben. Wie fast alle Autorinnen mit Familie konnte sie über ein Jahrzehnt und mehr nur schreiben, wenn die Kinder schliefen.

Ohne Scham hat sich Munro als „schreibende Hausfrau“ bezeichnet, die ihre Zeit „zusammenstehlen“ musste, so wie viele Autorinnen ihrer Generation. In einem Interview von 2006 erklärte sie dazu freimütig, niemals Zeit für „große Würfe“ wie einen Roman gehabt zu haben: „Zur Kurzgeschichte fand ich also aus sehr praktischen Gründen.“

Viele Künstlerinnen haben diese Situation einer Patchwork-Existenz als unerträglich empfunden und ihre Schreib- und Malversuche aufgegeben, so dass wir von ihrem Talent, ihrer Begabung und dem Zauber ihrer Persönlichkeit nichts erfahren haben. Virginia Woolf spricht von „jenen fast unbeleuchteten Korridoren der Geschichte, wo die Gestalten der Generationen von Frauen so flüchtig, so schattenhaft wahrzunehmen sind“.

Nicht so bei der Autorin Munro. Neben der außergewöhnlichen Begabung, die Wünsche und Ängste von Menschen, das Prägende ihres Milieus, das Unausgesprochene in ihren Beziehungen zu erfassen, muss Munro eine unglaubliche Ausdauer besessen haben, die ihr bis zum heutigen Tag nicht abhanden gekommen ist. Solche Menschen haben schon in der Kindheit eine Gewissheit von dem, was sie später einmal machen wollen. Alice Munro wollte schreiben und sie begann damit als Teenager.

1931 in Wigham, Ontario, geboren, wuchs sie in Zeiten der ‚Großen Depression‘ auf. Ihr Vater betrieb eine Silberfuchs- und Nerzfarm, die er nicht halten konnte. Er stieg „ein bisschen zu spät ins Pelzgeschäft ein“, wie Munro in einem Vorabdruck ihres letzten Buches „Dear Live“ beschreibt, das im Dezember im S. Fischer Verlag, von Heidi Zerning ins Deutsche übersetzt, erscheinen wird. Damit war nicht nur sein Lebenstraum zerstört, sondern auch das ganze Geld verloren, das er „zusammengekratzt hatte“, Kredite von Banken, Bürgschaften und die Ersparnisse seiner Frau.

„Mein Vater zog sämtlichen Füchsen das Fell ab, dann den Nerzen, und bekam erschreckend wenig Geld für die Pelze, dann arbeitete er tagsüber daran, die Käfige und Gehege abzureißen …“ Die finanzielle Lage der Familie wurde schwierig. Munros Vater begann in einer Gießerei zu arbeiten. Die Zusammenarbeit mit Männern, die ebenso wie er „einen Rückschlag erlitten oder eine schwere Last im Leben zu tragen hatten“, wurde für ihn ein Trost, er „mochte die Männer“.

Gleichzeitig wurden die Anzeichen für eine frühe Parkinsonerkrankung bei Munros Mutter unübersehbar: Sie konnte den Haushalt kaum noch versorgen, benötigte Ruhezeiten, war bald auf die Hilfe ihrer ältesten Tochter Alice angewiesen, die als Teenagerin mit dieser Fürsorge überfordert war. Der Vater abwesend durch Früh- und Abendschicht, die Mutter krank, die jüngeren Geschwister sich selbst überlassen: Alice übernahm die anfallenden Arbeiten. abends. Nachdem alle versorgt waren, „setzte ich mich hin mit den Füßen im warmen Backofen, der keine Tür mehr hatte, und las die großen Romane, die ich mir aus der Stadtbücherei geliehen hatte“.

Über diese Lebensphase in ihrer Jugend schreibt sie als alte Frau: „Aber das Seltsame ist, daß diese Zeit in meiner Erinnerung keine unglückliche ist“. An anderer Stelle wird sie noch deutlicher: „Trotz aller Widrigkeiten hielt ich mich für einen glücklichen Menschen“. Das ist vielleicht der Schlüssel zu Munros Persönlichkeit. Denn auch sie konnte manchen Lebenstraum nicht verwirklichen, zum Beispiel war es ihr nicht möglich, das Journalismus-Studium, das sie 1949 begann, zu Ende zu führen. Sie wünschte sich, professionell schreiben und damit Geld verdienen zu können, musste aus Geldmangel jedoch das Studium schon 1951 abbrechen. Im selben Jahr noch heiratete sie. 1953 kam ihre Tochter Sheila zur Welt, da war Munro zweiundzwanzig Jahre alt. 1955 starb kurz nach der Geburt Catherine, ihre zweite Tochter, 1957 wurde Jenny geboren und 1966 Andrea. 1963 zog das Ehepaar nach Victoria und eröffnete “Munro’s Books“, einen gutgehenden Buchladen.

Es gab also genug zu tun für Alice Munro. Sie war beschäftigt mit ihrer „jungen Familie und meinem eigenen, ausnahmslos unbefriedigenden Schreiben“. Bei dieser Arbeitsbelastung ist es nicht verwunderlich, dass Munros erster Erzählungsband „Dance of the Happy Shades“, der 15 Kurzgeschichten enthält, erst im Jahr 1968 herauskam. Was viele Rezensenten und Biographen einen späten Start nennen – Munro war 37 bei ihrer Erstveröffentlichung –, lässt sich leicht aus der Lebenssituation erklären.

Munros langes Warten und zähes Festhalten an ihrem Lebenstraum, immerhin hatte sie fünfzehn Jahre des ‚unbefriedigenden Schreibens‘ hinter sich, wurden sogleich belohnt. „Tanz der seligen Geister“ erhielt die Auszeichnung des „Governor General’s Award for Fiction“. Von nun an erschien in verblüffender Regelmäßigkeit im Abstand von drei bis vier Jahren ein neues Werk aus ihrer Hand bis in das Jahr 2012, insgesamt kamen dreizehn Erzählungsbände und ein schmaler Roman zur Veröffentlichung.

Die andere erstaunliche Tatsache neben Munros Langmut ist, dass das Nobelpreiskomitee die literarische Form der Short Story als würdig genug betrachtete, um sie auszuzeichnen. Denn auf dem Buchmarkt wird jedem Autor angeraten, sei sein erster Erzählungsband noch so erfolgreich, schnellst möglich einen Roman ‚hinterher zu schicken‘. Das fordern Verleger wie Buchhändler, bei denen Erzählungsbände wenig gelten, da sie angeblich dem Roman unterlegen sind und keine Leser finden.

Diese Bewertung ist so nicht auf den amerikanischen Buchmarkt übertragbar. In den Vierziger und Fünfziger Jahren, bevor sich das Fernsehen durchsetzte, war die Ware ‚Short Story‘ sehr begehrt. Erzählungen erschienen in Zeitschriften alle Art, manche in Fortsetzung auch in Tageszeitungen. Autoren spezialisierten sich auf diese Form des Schreibens und fanden ihr Auskommen damit. Nach dem Boom erlebten die meisten von ihnen einen Schock, sie konnten von der Arbeit als Schriftsteller nicht mehr leben, sie waren gezwungen, sich einen ‚Brotberuf‘ zu suchen, um ihre Familien zu ernähren. Der bis dato hochbezahlte Autor Kurt Vonnegut zum Beispiel wurde Autoverkäufer. Heute sind Autorinnen meist mit Romanen erfolgreich. Anne Tyler z. B. ist mehr noch als Alice Munro eine Bestsellerautorin; sie hat ähnliche Themen und wurde mit ähnlich vielen Preisen ausgezeichnet, außer mit dem Nobelpreis. Während Anne Tyler ihre Karriere mit Erzählungsbänden begann, dann zum Roman wechselte, blieb Alice Munro der Form des komprimierten Erzählens treu.

Der Rhythmus ihrer Veröffentlichungen hat sich nicht verändert, obwohl die Kinder längst aus dem Haus sind. Daraus kann man schließen, wie wichtig es ihr war und noch immer ist, jahrelang an ihren Geschichten zu feilen, bis diese eine Präzision erhalten haben, die die Autorin befriedigt. Neben dieser Präzision beeindruckt Munro ihre Leser mit einer heute selten zu findenden Diskretion gegenüber ihren Figuren, als hätte sie eine Verantwortung für sie wie für lebende Menschen. Die Figuren sollen nicht entblößt, nicht bis in den letzten Winkel ihrer Persönlichkeit ausgeleuchtet werden. So bleibt vieles unausgesprochen. Überhaupt interessiert die Autorin das Unausgesprochene in zwischenmenschlichen Beziehungen, und dem Leser traut sie zu, sich in seiner Weise in die Charaktere und Lebensentwürfe der Figuren hineinzudenken. Viele der Erzählungen enden offen, weniger raffiniert als der Leser es bei einem solchen Profi wie Munro erwarten würde. Da die Geschichte aber in ihm weiterwirkt, fühlt er sich nicht um das Geschlossene, Eindeutige betrogen.

Munro ist durch und durch eine Geschichtenerzählerin, die es liebt, ihre Protagonisten weitere Geschichten erzählen zu lassen. Sie führt den Leser mit Kalkül in ihr Geschichtenlabyrinth, in dem er sich eine Zeit lang nicht zurechtfinden soll. Sie richtet es so ein, dass er den Hauptweg aus den Augen verliert. Denn Munro hat eine Vorliebe für Nebenwege, Sackgassen und geschlossene Schleifen, die ihr letztlich bedeutsamer erscheinen, um zum Zentrum einer Lebenswahrheit zu finden.

Ohne dramatische Effekte führt sie den Leser in die Vielschichtigkeit ihrer Figuren ein. Dabei bedient sie sich oft einer romanhaften Erzählweise, die ganz im Gegensatz zur der einer Short Story steht. Sie gibt vor, der Leser hätte unendlich viel Zeit, sich in die Geschichte einzufinden, bis er bemerkt, was ihm alles vorenthalten wird und er beginnt, jeden Satz kostbar zu finden. Diese Technik kommt in einer Einfachheit daher, die schwer zu machen ist.

Durch die Wahl Alice Munros zur Nobelpreisträgerin wird sich nicht nur die Bewertung von Short Stories wieder verändern, sondern auch die Vorstellung, sie seien eine männliche Domäne, wird nicht mehr haltbar sein. Ernst Hemingway, für den diese Gattung wie auf den Leib geschneidert war oder, umgekehrt, der sie sich auf den Leib schneiderte, hat unser Bild von einer ordentlichen Short Story geprägt. Keinesfalls sollte vom kleinen Glück oder Unglück, von alltäglichen Lebenslügen erzählt oder eine Familiengeschichte aufgetischt werden; und in jedem Fall sollte der Protagonist mit geschulterter Flinte daherkommen, Banderillos im Arm oder ein Glas Whisky in der Hand halten. Damit ist nun Schluss.

Im Vorabdruck ihres letzten Buches stehen ein paar Zeilen, die Aufschluss geben über Alice Munros Arbeitsweise als Schriftstellerin und ihre Haltung zum Leben, obwohl sie von ihrer Kinderzeit handeln und der Arbeit auf der Silberfuchsfarm. „Damals mußte ich meinem Vater manchmal helfen, weil mein Bruder noch nicht alt genug war. Ich pumpte frisches Wasser in einen Behälter und schob ihn an den Reihen der Käfige entlang, reinigte die Trinkgefäße der Tiere und füllte sie auf. Ich machte das gerne. Die Dringlichkeit dieser Arbeit, das einsame Tun, das gefiel mir.“

Ich stelle mir vor, dass es diese Dringlichkeit war, die Alice Munro später als erwachsene Frau am Schreibtisch gespürt hat, die sie zur Arbeit angetrieben hat, auch wenn das Schreiben jahrelang unbefriedigend war; als sei es ihre einsame Pflicht, die erdachten Geschöpfe zu versorgen, die Buchstabentiere zu tränken, ihnen Behausung zu schaffen und Leben zu geben.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz