Verdichtete Konflikte

Zoe Jennys neuer Erzählband „Spätestens morgen“ bildet ein Panorama einer ganzen Welt

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwölf Kurzgeschichten umfasst der Erzählband „Spätestens morgen“ von Zoe Jenny. Es sind Geschichten aus Schanghai, London, Valencia und New York. Es sind Geschichten aus dem Jahr 1999, in dem John F. Kennedy jr. starb, aus dem Jahr 2007 und der Gegenwart. Es sind Geschichten von einsamen Kindern und einsamen Erwachsenen. Zwischen den Buchdeckeln des Erzählbandes befindet sich eine heterogene Komposition, die unter die Haut geht. Das zusammengetragene und gebundene Erzählmaterial ist reich an Kontrasten und bildet ein Panorama einer ganzen Welt.

Allein die plötzlichen Wendungen einen die Protagonisten. Sie wehren sich dagegen, als „Loser“ und „Parasiten“ angesehen zu werden. Auch wenn Clarice nach einem Zusammenbruch ihr Schauspielstudium abbrechen musste, auch wenn Aimée ihre Eltern bei einem Autounfall verlor und auch wenn Mike nur ein brotloser Theaterschriftsteller ist: die Protagonisten der Erzählungen kämpfen um ihre Familien, sie suchen nach ihrem Platz in der Gesellschaft, sie suchen nach ihrem eigenen Lebensweg. Dass das Modellieren der Realität ganz und gar nicht einfach ist und das Erkennen der Einsamkeit in tiefe Melancholie führen kann, muss Yako in der gerade einmal vier Seiten umfassenden Kurzgeschichte „Yakos Reise“ besonders hart erfahren. Auch er hat sein Studium abgebrochen. Fühlt sich als „Fremdkörper, der sich nicht in den Kreislauf der arbeitenden und eilenden Menschen einfügte“. Yako plant, von Japan nach Los Angeles zu fliehen und dort irgendwie als Musiker seine Erfüllung zu finden. Doch als der Tag der Abreise kommt, setzt er sich auf den Rand der Badewanne und spielt den ganzen Tag Saxophon. Er verpasst seinen Flug.

Jenny schafft es, auf wenigen Seiten Situationen, Konflikte und Wahrnehmungen zu verdichten und dabei fundamentale Fragen nach dem Sinn und Ziel des Lebens zu stellen. Augenblicke reichen ihr. Das Ungesagte ist das Entscheidende, das Echo ihrer Geschichten hallt lange nach. Ein Höhepunkt ist die Ballade für den Schweizer Schriftsteller Jürg Federspiel, die den Schluss des Erzählbandes bildet. In dieser Ballade wird der unausweichliche Strudel seiner Erkrankung, die ihn immer intensiver umfängt und nicht mehr gehen lässt, so dramatisch geschildert, dass die Verzweiflung geradezu greifbar wird. „Mr. Parkinson“ begleitet den Schriftsteller „durch den Tag, durch die Nacht. Er atmet deine Luft, bis du keine mehr hast.“ Federspiel beschließt zu sterben, in wenigen Zeilen wird das Ertrinken geschildert – das Wasser, das in Mund, Ohren und Nase schießt „wie im Sturzflug“. Unweigerlich ziehen die Zeilen dem Leser die Kehle zu. Federspiel ertrank tatsächlich im Rhein, sein Körper wurde am 25. Februar 2007 an einem Wehr gefunden.

Leider sind nicht alle Kurzgeschichten von gleicher Intensität und Virtuosität. Die Kritik an Geschichtsfälschung und geistiger Nivellierung durch die kommunistischen Herrscher in China wird nur angedeutet und versandet letztlich in „Die Schatten von Pudong“. Touristenführerin und Studentin Ginza versteht in dieser Geschichte nicht, dass die Besucher am liebsten die alten Sehenswürdigkeiten und nicht das glänzende neue Jinmao Building sehen wollen. Die ältesten Viertel Schanghais sieht sie nur als „verwahrloseste Gegend der Stadt“. Ein wenig beunruhigt ihre Freundinnen, dass die meisten Stockwerke der Hochhäuser leerstehen. Doch Ginza lässt sich ihren Optimismus und Fortschrittsglauben nicht nehmen: „Nicht mehr lange, und es wird hier voll sein“, glaubt sie. Es enttäuscht, dass der Leser mit der Fassade allein gelassen wird. Die Geschichte endet, wo sie eigentlich erst beginnen könnte. Der hohle Glanz des modernen Chinas wird nicht angeklagt, schweigend blicken am Ende Ginza und ihre Freundinnen einem Flugzeug nach. Bedeutung wird zu Beliebigkeit. Provokation und Ideologiekritik hätten viel mehr Raffinesse verdient.

Auch wegen solcher Schwächen sind Zoe Jennys Bücher seit dem Bestseller „Das Blütenstaubzimmer“ Opfer für viele Kritiker. Jenny gilt dennoch als erfolgreichste Schriftstellerin der Schweiz. Sie ist jung, erfolgreich und sieht gut aus. Obwohl sich Feuilletonisten an ihren Werken stoßen, verehren vornehmlich treue Leserinnen die Geschichten, die Zoe Jenny erzählt. Und die Autorin versucht, sich zu verteidigen und geriet dabei in der Vergangenheit auch Journalisten in die Fänge, die ihr nicht halfen, sondern den Eindruck des hübschen, oberflächlichen Mädchens stärkten: Jenny gab 2008 dem rbb Fernsehen ein an Peinlichkeit kaum zu überbietendes Interview. Jörg Thadeusz befragte Zoe Jenny stotternd („Sie haben schon sehr früh Nietzsche gelesen, da habe ich mich gefragt: Wie macht man denn das?“) und wunderte sich, warum alle Schriftstellerinnen vor ihr nicht hübsch gewesen seien. Jenny muss klar geworden sein, dass sie ihr Heil nicht vor den Fernsehkameras finden wird. Jetzt schreibt sie wieder.

Der Erzählband „Spätestens morgen“ ist ein deutliches Ausrufezeichen von Zoe Jenny, das allerdings vor zweifelhaften Vereinfachungen nicht geschützt ist und deswegen wieder Angriffsfläche für Kritiker bieten wird. Doch trotz aller Schwächen erweist sich Jenny als Kurzgeschichten-Künstlerin und spannende Erzählerin. Sie beweist, dass sie nicht nur sprachlich präzise-virtuos, sondern auch voller Poesie erzählen kann. Sie kann sich kurz fassen und Beobachtungen verdichten. Jenny hat offenbar das perfekte Format für sich gefunden.

Titelbild

Zoe Jenny: Spätestens morgen.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2013.
124 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783627001971

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