Roman der Generation Occupy

Sascha Reh setzt in „Gibraltar“ den Trend zum Wirtschaftsroman fort

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Was ist mit dem Geld?“ Knapper als mit dieser Frage könnte man jene Krise, die seit über einem halben Jahrzehnt das Vertrauen in die Zukunft unserer Gesellschaft zersetzt, wohl kaum charakterisieren. In Sascha Rehs zweitem Roman „Gibraltar“ wird sie von Thomas Alberts gestellt, dem verlorenen Sohn des Bankenpatriarchen Johann Alberts. Letzteren hat die plötzliche Pleite seiner Bank gleich aufs Sterbebett befördert. Gerichtet ist diese Frage aber an seinen Nachfolger Bernhard Milbrandt, nachdem Thomas ihn in seinem spanischen Versteck aufgespürt hat.

Während der leibliche Sohn für die Bankgeschäfte des Vaters seit Jahren nur Verachtung übrig hat, ist Bernhard, Johanns Ziehsohn, bis zu seiner Flucht als Spekulant ein Überzeugungstäter gewesen. Einer dieser bösen Banker, von denen es heißt, sie stürzten ganze Volkswirtschaften in den Abgrund. Indem sie deren Staatsanleihen „leer“ verkaufen, also auf fallende Kurse setzen. Bernhard selbst beschreibt seine Tätigkeit so: „Ich kaufe billig Handgranaten ein und ziehe die Sicherungssplinte. Dann verkaufe ich sie möglichst teuer weiter. Wer die Granaten noch hat, wenn sie explodieren, hat verloren.“

Bei den verkauften Handgranaten handelt es sich um geliehene griechische Staatsanleihen. Bernhard wettet für das fiktive Bankhaus Alberts und Co. im großen Stil auf eine Pleite Athens. Am Ende explodieren die Granaten wirklich, nur anders als gedacht. Als im Frühjahr 2010 allen EU-Verträgen zum Trotz Griechenland erstmals „gerettet“ wird und sich seine Anleihen vorübergehend erholen, muss die traditionsreiche Berliner Privatbank die Anleihen teuer zurückkaufen – und geht Bankrott.

Ehe Bernhard untertaucht, zweigt er immerhin noch etliche Millionen für sich selbst ab. Und versteckt sich, ausgerechnet, in einer der vielen seit der Finanzkrise halbfertig gebliebenen Appartementanlagen an der spanischen Küste, um von dort aus das unterschlagene Vermögen über eine Offshore-Bank auf Gibraltar in Sicherheit zu bringen.

Der Titel „Gibraltar“ steht damit für die Utopie, die allumfassende „Verschuldungskette“ durchbrechen zu können, die sämtliche Figuren des spannend zu lesenden Romans miteinander verbindet – und die selbstverständlich Utopie bleiben wird.

Man sieht: So aktuell wie bei Sascha Reh, Jahrgang 1974, ist die deutsche Gegenwartsliteratur selten. „Gibraltar“ setzt den Trend zum Wirtschaftsroman, nach Werken von Rainald Goetz oder Nora Bossong, fort. Schade nur, dass dem in Berlin lebenden Autor der Lapsus unterläuft, Anleihen für eine Aktienform zu halten und sein Burnout geplagter Toptrader Bernhard vor Klischees nur so strotzt. Da erinnert man sich gern an Martin Walsers Roman „Angstblüte“, der wusste, wie eng Spekulation auch mit Lebenskunst und Glück zusammenhängt.

Wie schon in seinem viel gelobten Romandebüt „Frühling“ (2011) greift Sascha Reh auch diesmal zum Mittel der Multiperspektivität. In sechs Kapiteln lässt der nebenberuflich als Familientherapeut arbeitende Autor sechs Figuren zu Wort kommen: Neben Thomas und Bernhard sind dies noch Thomas’ Eltern Johann und Helene sowie Bernhards schizophrene Stieftochter Valerie, die einst Thomas’ Patientin war, und deren lebensgierige Mutter Carmen. Stilistisch unterscheiden sich die Figurenkapitel in ihrem psychologischen Realismus nur wenig, abgesehen von der eindrucksvollen Darstellung der Innensicht Valeries, die sich dauernd gegen die imaginären Vorwürfe diverser „Aktionäre“ wehren muss, und der wenig glaubwürdigen Rechtfertigungssuada des komatösen Johann Alberts. Über ihn, der sich selbst als Vertreter traditioneller Unternehmerwerte feiert, heißt es schon im Roman, er höre sich an wie ein FDP-Wahlprogramm.

Jedes Kapitel ist in Unterkapitel gegliedert; bezeichnenderweise sind sie nach Art einer abwärts zählenden Fahrstuhlanzeige markiert. Tatsächlich wird die Story mit jeder weiteren Figurenperspektive abgründiger und es treten immer neue Abhängigkeiten, Manipulationen und schuldhafte „Verstrickungen“ zutage. Thomas beispielsweise zieht, seit dem Bruch mit seinem Vater, als moderner Nomade durch Europas Metropolen und berät als Supervisor mit seinem Smartphone deutsche Angestellte – die zu seinem eigenen Erstaunen häufig aus dem Bankhaus Alberts stammen. Es war sein Vater, der einst die Werbeflyer seines aufsässigen Sohnes voller Stolz im eigenen Unternehmen verteilen ließ – und Thomas so den Lebensunterhalt sicherte.

Johann wiederum war, wie sich zeigt, seit Jahren nur eine Marionette seiner Frau Helene, die eine eindrucksvolle Karriere als Hochstaplerin hinter sich hat – und selbst wiederum, ohne ihr Wissen, von einem dritten gelenkt wurde. Schulden, erinnert sich Helene an einen Ausspruch ihres Mannes, seien der „Kristallisationspunkt für Benachteiligung“, die „erste und schwerste Fessel, die es abzustreifen gelte“, weshalb Johann eine Stiftung für überschuldete Menschen (unter ihnen Valerie) gegründet hat. Und das, obwohl Johann als Banker eben davon lebt, dass Menschen bei ihm Schulden machen.

Dass „Gibraltar“ auf überzeugende Weise modellhaft zeigt, wie sehr letztlich (wir) alle mit dem Finanzsystem verstrickt sind und, bei aller Kritik, von ihm profitieren, macht ihn zum Roman jener Generation Occupy, deren ratlose Empörung genauso wohlfeil ist wie das Kunstblut, mit dem Valerie am Ende vor Gericht ihren Stiefvater überschüttet.

Titelbild

Sascha Reh: Gibraltar. Roman.
Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2013.
464 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783895610868

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