Die Vermessung der Südslawen

Mirna Zemans „Reise zu den Illyriern“ untersucht deutschsprachige Kroatien-Stereotype des 18. Jahrhunderts

Von Marc ReichweinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marc Reichwein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kroatien – was ist das? Doch wohl hoffentlich mehr als EU-Mitglied Nummer 28, dem, kaum im Club, schon ein Sanktionsverfahren droht. Das mediale Interesse am Beitritt des Adria-Anrainers in den Staatenreigen der Europäischen Union währte kurz und blieb an der Oberfläche – oder um es mit den journalistischen Ressorts zu sagen: Der Reiseteil bekam 1185 neue Inseln, die Wirtschaft Sorgenfalten und das Feuilleton eine weitgehende terra incognita.

Solche Ignoranz ist Kroatien seit Habsburgerzeiten gewohnt. Mirna Zemans gründliche Studie über „Kroatien in der deutschsprachigen Reiseliteratur und Statistik“ erzählt von Kaufleuten, die an den Fährnissen der slawonischen Binnenschifffahrt verzweifeln, Naturkundlern, die die Gewalt der Bora erleben, und Völkerkundlern, die sich an einer Systematik der Südslawen versuchen – immerhin stellten Slawen die größte Ethnie im Habsburgerreich.

Zeman legt für ihre Reiseliteratur-Studie den Zeitraum vom Regierungsantritt Maria Theresias bis zu Napoleon zugrunde, also von 1740 bis zur Gründung der so genannten „Illyrischen Provinzen“ (1809). Im Grunde die „Goethezeit“, doch Kroatien hatte keinen Goethe, der es bereiste und literarisch berühmt machte. Nein, ein klassisches Ziel für Kavalierstouren, ein eigentliches Arkadien, war Kroatien trotz antiken Kulturerbes – man denke nur an Pula oder Split – nie.

Einschlägig für die Reiseliteratur über das Land, das heute explizit nicht dem Balkan zugerechnet werden möchte („Balkan heißt Konflikt. Das ist negativ.“), wurden vielmehr geografische und ethnografische Berichte quasi-amtlicher Landvermesser. Mobilität nach Kroatien war meist dienstlich motiviert, beispielhaft bei Alberto Fortis, der mit seinem „Viaggio in Dalmazia“ (1774) die ostadriatische Küste im Auftrag der venezianischen Regierung nach Bodenschätzen und Wirtschaftspotenzialen inspizierte.

Wissen über die Sitten und Gebräuche der eigenen Völker als Schlüssel zur Erhaltung der Macht, das galt auch und gerade im Habsburgerreich. Seine Majestät höchstpersönlich, „Reisekaiser“ Joseph II besichtigte das Land seiner Untertanen, respektive den Zustand seiner Straßen und Grenzgarnisonen und hinterließ mehrere Reisejournale.

Erst verhältnismäßig spät, 1805, findet sich ein prototouristischer Bericht: Joseph Georg Widemann veröffentlicht „Streifzüge an Istriens Küsten“, keine Dienstreise: für Kroatien eine Sensation. Doch woher die Scheu vor dem Land an der christlichen Peripherie? „Kroatien ist von wegen der vielen Einfälle, so der Türke darin getan, in kurzer Zeit bekannt geworden“, heißt es in einer Schrift von 1699. Tatsächlich fungierte Kroatien in der Vorstellung der Zentraleuropäer (und auch der Habsburger) traditionell als Puffervolk zur muslimischen Macht des Osmanischen Reiches. Umgekehrt wussten die Kaiser kroatische Soldateska in den Glaubenskriegen des 16. und 17. Jahrhunderts nur zu gern im ganzen Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation einzusetzen. Aus diesen Zeiten künden mancherorts bis heute die „Kroatensteine“. Aus dem gleichen Zusammenhang mag sich das Kroatien-Klischee vom martialischen Menschenschlag gehalten haben, das literarisch von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausens „Simplicissimus“ über Friedrich Schillers „Wallenstein“ bis hin zu Hans Magnus Enzensbergers „Fliegendem Robert“ nachzulesen ist. Auch der Topos vom Krawattenland Kroatien rührt aus dem gleichen Kontext: Angeblich gehen die Halsbinden der kriegerischen „krowattischen“ Reiter dem Accessoire der Herrengarderobe voraus; in Pula residiert die Academia Cravatica, die dieses Kulturerbe heute bespielt.

Wenn man Mirna Zemans historischer Image-Studie folgt, treten dem kroatischen homo militaris weitere Sujets zur Seite. Unter dem Begriff des Morlaken und des Morlakismus wurde der Kroate während des 18. Jahrhunderts gern als homo cantans verklärt. Sprich zum Inbegriff einer dichtenden Volkseele, die im Zuge des Ossian-Kults europaweit schwer in Mode war. Vom ruralen Barden aus dem dalmatinischen Hinterland, der eigentlich keine Kultur hat, aber ganz gut singen kann, führt die Klischierung dann nahtlos weiter in die rassistische Konstruktion eines homo rusticus. Hier werden aus Kroaten Quasi-Indianer, männlicherseits mit baumstarker Physis, die im Winter gern mal Eiszapfen im Bart- und Brusthaar zur Schau tragen, weiblicherseits mit der angeblich ungewöhnlichsten Brustgröße der Welt, aufgrund derer Kroatinnen ihre Kinder (auf dem Rücken tragend) durch die Achselhöhle hindurch stillen können. Spätestens bei diesem Topos mutiert die Kroatien-Ethnografie des 18. Jahrhunderts zur imaginären Freakshow.

Zeman zeigt schön auf, wie die Beschäftigung mit Kroatien de facto immer zwei Ebenen umschließt: zum einen die reale, mit tatsächlich unternommenen Reisen und entsprechenden Berichten. Zum anderen aber auch Medien, deren Autoren (Statistiker, Ethnologen, Regierungsbeamte) Kroatien bloß aus zweiter Hand, nie aus eigener Anschauung kennengelernt haben. Dennoch schreiben sie am Image des Landes mit, so wie der ethnografisch interessierte Polizist Joseph Rohrer in seinem „Versuch über die slawischen Bewohner der österreichischen Monarchie“ (1804) oder Christoph Meiners in seinem Aufsatz „Ueber die Natur der Slawischen Völker in Europa“ (1790).

Kroatien ist, wenn man Zeman glauben darf, bis heute ein „Stiefkind der historischen Reiseliteraturforschung“. In der Südosteuropaforschung, die sich auf die östlichen Nachbarn Kroatiens bezieht, bleibt das Land eher außen vor. Immerhin hat ein Forschungsnetzwerk wie „Kakanien revisited“ die Perspektive der postcolonial studies gewinnbringend auf Randgebiete der ehemaligen Habsburgermonarchie angewendet und parallel zu klassischen k.u.k.-Randgebieten wie Galizien auch das „Litorale Austriaco“ entdeckt.

Für die Forschung hat Zeman eine mit allen Wassern der Stereotypentheorie gewaschene und dennoch gut lesbare, bisweilen sogar anekdotische Studie, vorgelegt. Nun wäre es an Publikumsverlagen, die „Itenarieren und Imaginarien Kroatiens“ (Zeman) auch für Lesebücher und Reise-Anthologien aufzubereiten – und warum nicht auch für größer definierte Zeiträume? Der Klagenfurter Wieser-Verlag hat diesbezüglich schon vor Jahren mit heute oft nur noch antiquarisch erhältlichen Bänden wie „Karst“, „Dalmatien“, „Slawonien“ oder „Kvarner“ Pionierarbeit geleistet.

Titelbild

Mirna Zeman: Reise zu den "Illyriern". Kroatien-Stereotype in der deutschsprachigen Reiseliteratur und Statistik (1740 - 1809).
Oldenbourg Verlag, München 2013.
375 Seiten, 49,80 EUR.
ISBN-13: 9783486722697

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