Vergessen Sie Humboldt!

Der schön gearbeitete Band „Die Erkundung Brasiliens“ führt in das Leben Friedrich Sellows ein

Von Johannes SchmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Schmidt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Namen der Forschungsreisenden Georg Forster, Alexander von Humboldt und wohl auch Aimé Bonpland dürften einer größeren Gruppe von Menschen ein Begriff sein. Gerade in Sachen Humboldt war in den letzten Jahren ein gesteigertes Interesse zu bemerken. Und spätestens seit der im vergangenen Jahr erschienenen prachtvollen Ausgabe von Adelbert von Chamissos „Reise um die Welt“ ist auch dessen naturforschende Tätigkeit wieder ins öffentliche Bewusstsein gelangt.

Der Preuße Friedrich Sellow hingegen erfreut sich nur in Fachkreisen einer gewissen Bekanntheit. Außerhalb davon ist er nahezu völlig in Vergessenheit geraten – eine bedauerliche Entwicklung, wie sich herausstellt. Denn Sellow, von dem kein Porträt überliefert ist, verbrachte siebzehn Jahre (1814-1831) in Brasilien, unermüdlich damit beschäftigt, Pflanzen und Tiere zu sammeln, zu zeichnen, zu konservieren und in alle Welt (vornehmlich aber natürlich in die Heimat, nach Berlin) zu verschicken. Diese Mühen bezahlte er mit seinem Leben – im Oktober 1831 ertrank er auf einer seiner Expeditionen im Rio Doce, gerade einmal zweiundvierzig Jahre alt. Die Auswertung seiner reichhaltigen Funde blieb ihm damit genauso verwehrt wie eine daraus folgende angemessene Würdigung seiner Arbeit.

Was neben der Fülle von gesammeltem Material übrig blieb, waren Zeichnungen, Tagebücher und Expeditionsberichte. Vieles davon verbrannte im Zweiten Weltkrieg, einiges überstand zum Glück die Bomben: 71 Tagebücher und 26 Berichte aus der Zeit zwischen 1818 und 1831, derer man sich nun endlich annimmt.

Gut zwei Jahre dauert die Transkription und Kommentierung dieser Zeugnisse bereits. Lange genug für die Historische Arbeitsstelle des Berliner Museums für Naturkunde, um nun erste Früchte dieser Arbeit zu präsentieren: Gemeinsam herausgegeben von Hanns Zischler, der Projektleiterin Sabine Hackethal und dem ebenfalls an der Arbeitsstelle beschäftigten Carsten Eckert bietet „Die Erkundung Brasiliens. Friedrich Sellows unvollendete Reise“ erste Proben aus den Tagebüchern und eine umfangreiche Sammlung von Aufsätzen zu Sellow und der Erforschung Brasiliens im frühen 19. Jahrhundert. Ergänzt werden die Texte durch eine Vielzahl von Abbildungen, die vor allem aus den Bleistiftzeichnungen Sellows bestehen, aber auch Panoramen und Kupferstiche anderer Künstler und Zeichner präsentieren.

Die Aufsätze decken ein weites Feld ab: Sie beschäftigen sich mit der Biografie Sellows (der sich ursprünglich ohne „w“ schrieb und zur Berliner Hofgärtner-Dynastie Sello gehörte), mit seiner Arbeitsweise und seinen Forschungsgegenständen (darunter ein schon etwas fachlicher gehaltener Aufsatz über die „ichthyologische Ausbeute“ seiner Reisen), der allgemeinen Situation der naturkundlichen Erforschung Brasiliens im beginnenden 19. Jahrhundert und mit dem Umfang und Wert der von Sellow nach Berlin gesandten Proben. All dies geschieht mit großem Fachwissen und viel Enthusiasmus: Auch ein Unkundiger wird sich mit diesem Band den botanischen und zoologischen Themen nähern können.

Sellow, der in Berlin erst zum Gärtner ausgebildet wurde und sich dann durch Reisen nach Paris und London (unter anderem protegiert von Alexander von Humboldt) zum kundigen Botaniker mauserte, entpuppt sich bei der Lektüre als fast schon klischeehaft preußisch: Bereits in den Jugendjahren das entbehrungsreiche Forscherleben trainierend (er schlief auf dem Fußboden, wusch sich im Winter mit Eiswasser und aß das Fleisch frisch geschlachteter Tiere), ließ er auf seinen Expeditionen alles Persönliche und Private zugunsten der pflichtgemäßen Aufgabenbewältigung zurück. Die Tagebücher sind ganz auf die sachgerechte, nüchterne Beschreibung des Gesehenen und Gesammelten ausgerichtet, ja, sie gehen sogar zunehmend in klar strukturierten Tabellen von Messwerten auf, in die sich der ganze Reiseverlauf einfügt. Nur ganz selten scheint das Innenleben des Forschers auf, etwa wenn er sich darüber beklagt, dass die Einwohner eines Dorfes ihm zu Ehren große Zeremonien abhalten, die er über sich ergehen lassen muss – schließlich kosten Bankett und Händeschütteln kostbare Zeit, die man mit dem Sammeln weiterer Pflanzen und Tiere verbringen könnte. Doch trotz ihrer Sprödigkeit üben die Notizen Sellows einen großen Reiz auf den Leser aus: Er gewinnt den Eindruck, einen zwar wissenschaftlichen, darin aber unverstellten Blick auf die fremde Natur werfen zu können, so, wie sie sich dem Botaniker darbot. Es darf vermutet werden, dass die Tagebücher letztlich nicht nur wissenschaftsgeschichtlich interessant sind, sondern auch eine lohnenswerte Lektüre abgeben können – gerade im Kontrast zur großen Geste und zum sicheren Stil eines Humboldt.

Ein letztes Wort verdient das Buch selbst: Bis auf einige wenige Druckfehler ist es tadellos gearbeitet; die Gestaltung und die reichen, ein brasilianisches Panorama bietenden Abbildungen laden zum Blättern ein und rechtfertigen den Preis allemal, sodass sich der fast schmale Band nicht hinter den in den letzten Jahren aufwändig und großformatig erschienenen Werken Humboldts verstecken muss. Im Gegenteil: Jedem sei dieser Band empfohlen, der keineswegs nur von fachgeschichtlichem Interesse ist. Es lohnt sich, den großen Humboldt für eine Weile zu vergessen und dafür Friedrich Sellow über die Schulter zu schauen. Hoffen wir, dass sich dazu rasch ähnlich gelungene Gelegenheiten finden werden.

Titelbild

Hanns Zischler / Sabine Hackethal / Carsten Eckert (Hg.): Die Erkundung Brasiliens. Friedrich Sellows unvollendete Reise.
Galiani Verlag, Berlin 2013.
256 Seiten, 39,99 EUR.
ISBN-13: 9783869710754

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch