Wie aus der Zeit gefallen

Erika Schmied hat einen Bildband mit Fotos aus dem Leben Peter Kurzecks veröffentlicht

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Der radikale Biograph“: Unter diesem programmatischen Titel präsentiert Erika Schmied, die unter anderem bereits bedeutende Bildbände mit Fotografien zu Leben und Werk Thomas Bernhards vorgelegt hat, bisher unbekannte Materialien aus dem Leben des Schriftstellers Peter Kurzeck. Der Band ist ist bei Stroemfeld erschienen, jenem Verlag, dem Kurzeck seit seinem Debüt „Der Nußbaum gegenüber vom Laden, in dem du dein Brot kaufst“ (1979) auch dann die Treue hielt, als er einmal ein Abwerbungsangebot vom Hanser Verlag bekam.

Selten waren ein Autor, ein Werk und der Verlag zu einer solchen Symbiose verschmolzen wie in diesem Fall, was man nicht zuletzt daran ablesen kann, dass die Geschichte des Hauses Stroemfeld / Roter Stern längst auch zu einem Bestandteil des literarischen Kosmos von Peter Kurzeck geworden ist, genauso wie der Verlag ohne seinen wichtigsten literarischen Autor Kurzeck kaum noch vorstellbar erscheint. Der „hinreißende Umstandskrämer“ („Tagesspiegel“) hätte für sein kaum noch abschließbares, zwölfbändiges Romanprojekt „Das alte Jahrhundert“, von dem bislang fünf Bücher vorliegen, auch jetzt schon locker den Literanobelpreis verdient. Er wird ihn aber wohl niemals bekommen. Dies prophezeihte zumindest die „F.A.Z.“ in einem der wenigen Geburtstagsartikel zum vergangenen 70. Geburtstag des Autors. Relativ unbeeindruckt von derartigen Spekulationen war Kurzeck noch davor, im vergangenen Frühjahr, mit seiner acht Jahre älteren, aber umso resoluter wirkenden Fotografin in Österreich unterwegs, um sich für den entstehenden Bildband noch einmal auf Reisen knipsen zu lassen.

Einige der aktuellsten Fotos des Buchs entstanden daher in noch winterlicher Kulisse: Im April 2013 machten Kurzeck und seine Fotografin bei den Rauriser Literaturtagen Station. Rauris liegt in einem entlegenen Bergtal des Salzburger Landes und vergibt seit 1972 einen der wichtigsten Literaturpreise Österreichs. In den 1970er-Jahren hatte dort selbst Thomas Bernhard einmal gelesen, und es ist auch eine Gegend, in der man auf Schritt und Tritt an diesen Autor erinnert fühlt: Nationalsozialistisch kontaminierte Bernhard-Schauplätze wie das Kraftwerk von Kaprun, dem auch Elfriede Jelinek schon einige ihrer wütendsten Theatertexte gewidmet hat, liegen hier quasi gleich um die Ecke. Die charakteristischen Landschaften der Literatur Kurzecks sind jedoch nicht in den Alpen zu finden, sondern vor allem in Hessen.

Als der Autor in Rauris mit der letztjährigen Bachmannpreisträgerin Olga Martynova und der Buchpreisträgerin Ursula Krechel auf einem Podium über seine Kindheitserinnerungen sprach, schien er sich dennoch wie zu Hause zu fühlen. „Als kleiner Junge wusste ich sofort, dass ich Schriftsteller werden will“, kam der Rekordhalter literarischer Abschweifungen umgehend ins Plaudern. „Und ich wusste, Schriftsteller gab es mindestens zwei: Goethe und Schiller. Aber die waren schon tot. Meine große Schwester kannte noch Uhland, aber der war ja auch schon lange gestorben. Also dachte ich mir, womöglich bist Du der einzige lebende Schriftsteller!“ Da musste selbst Ursula Krechel laut lachen. Und wahrscheinlich war es genau dieser Moment, den Erika Schmied fotografiert hat und den man nun in ihrem Bildband betrachten kann. Immerhin widmet er diesen Rauriser Literaturtagen eine ganze Doppelseite.

Der Titel der fotografischen Porträtsammlung von Erika Schmied pointiert die Poetologie dieses singulären Schriftstellers, der seit Jahrzehnten in seinen Büchern – und seit einigen Jahren auch auf ganz erstaunlichen CDs, auf denen er sich ‚wie gedruckt‘ erinnert – einfach nur aus seinem Leben erzählt. Einfach nur so? Nicht ganz: Die Wirkung der Detailversessenheit dieses Prosa-Autors könnte man mit typischen Entschleunigungseffekten bei Adalbert Stifter vergleichen. Bloß ist Kurzecks Literatur seltsamerweise trotz alledem niemals so langweilig wie Stifters „Nachsommer“.

Melancholisch aber bisweilen schon: „Sieh den Himmel vorm Fenster, die Wolken, die schwarzen Vögel so traurig hin und her. Die Dächer glänzen, die Straße trocknet schon wieder, wir wollen hinausgehen. Einen Spiegel brauchst Du jetzt nicht, wirst dich nach Jahren wiedererkennen.“ So lautet eines der Zitate, die den vielen Schwarz-Weiß-Abbildungen im Band gleichsam illustrierend zur Seite stehen – in diesem Fall eine Sentenz aus dem frühen Alkoholiker-Roman „Das schwarze Buch“ (1982). Schmieds Fotoband ist nun voller solcher „Spiegel“, und zwar aus allen Lebens- und Schaffensphasen Peter Kurzecks. Erkennen wir ihn wieder?

Ähnlich wie Thomas Bernhard ist auch Kurzeck ein Schriftsteller, der im Laufe seines Schaffens zu einem ganz eigenen, sofort erkennbaren literarischen Ton gefunden hat. Wer als Leser schon einmal in Kurzecks Kosmos zwischen dem Böhmen der frühen Kindheit, der dauerhaften Vertriebenen- bzw. ‚Umsiedler‘-Station im hessischen Staufenberg, zwischen Lollar, Gießen und Frankfurt am Main eingetreten ist, der blickt nun voller Verblüffung auf jene fotografischen Relikte, die hier versammelt sind. Nehmen sich diese Bilder doch wie lakonische Kommentare zu dem aus, was der Autor in Textform bereits zu Symphonien virtuosester Wiederholungen des Immergleichen zu steigern vermochte. Es sind Momentaufnahmen aus einer Biografie, die in der Literatur ein einzigartiges ästhetisches Eigenleben entwickelt hat.

So trifft man sie nun also alle wieder – die berühmte Tochter Carina, die (Ex-)Freundin Sibylle, den Verleger KD Wolff, die Lektoren Rudi Deuble und Alexander Losse, diese ganzen, vollkommen unspektakulären Stellen in Frankfurt, in Bornheim, Bergen-Enkheim und im südfranzösischen Uzès, wo Kurzeck heute größtenteils lebt und arbeitet. Alle diese Leute und Schauplätze kamen bereits vielfach im Werk des Autors vor, oder sie werden vielleicht noch einmal darin zum Thema, denn der stille Beobachter dieser Orte und Menschen schreibt ja immer weiter, und seine Bücher scheinen noch dazu immer dicker zu werden.

Aus der Distanz mögen sich nun Skeptiker fragen, was sie mit einem solchen Band anfangen sollten, mit ein paar Fotos aus irgendwelchen hessischen Käffern und von einem Mann, der allen Ernstes Pelzmützen aufzieht? Selbstverständlich braucht man diese Bilder nicht unbedingt, wenn man lesen kann. Kurzeck ist zudem alles andere als ein Heimatliterat, und sein Werk kommt also auch ganz ohne jene verlorenen provinziellen Idyllen aus, aus denen seine Literatur stets etwas ganz Neues gemacht hat, wie Wieland Schmied, der Mann der Herausgeberin, in seinem Beitrag zum Bildband betont.

Dieser Autor arbeite wie „mit Zeitlupe“, schreibt Schmied: „Gerade durch die Genauigkeit der Beschreibung gelingt es Kurzeck den Eindruck zu erwecken, seine Texte könnten überall spielen, nicht nur dort, wo sie im Einzelfall konkret angesiedelt sind. Ich habe immer Vorbehalte gehabt gegen das allzu Deutsche, gegen die Enge des ‚Hier und Jetzt‘. Die Prosa Kurzecks überwindet diese Enge. Sie könnten nicht nur in Deutschland spielen, sondern ebensogut in den USA, in Frankreich, in der Schweiz. Das scheint ein Widerspruch. Aber große Prosa ist dazu geschaffen, diesen Widerspruch aufzuheben.“

Dennoch sind die Fotos in Erika Schmieds Buch, der unter anderem auch solche aus der frühen Jugend Kurzecks und dem Kindheitsort Staufenberg der späten 1940er- und 1950er-Jahre präsentiert, nicht einfach irgendein bloßer Liebhaber-Quatsch für Lokalpatrioten. Der erklärte Kurzeck-Verehrer Thomas Meinecke etwa schwärmt in seinem kurzen Begleittext von der „fixen Idee einer Beschreibung des hessischen Dorfes“, die Kurzeck nach seinen öffentlichen Lesungen regelmäßig ins „Weitererzählen“ geraten lasse, in „Spiralen der Erinnerung, einer tastenden Vergewisserung (die logisch nie eintritt: das macht seine Erzählung so berührend)“. Die nunmehr vorliegenden historischen Fotos der Schauplätze solcher „Vergewisserungen“ wiederum können diese endlose erzählerische Bewegung einerseits ebensowenig konkretisieren. Sie sind aber andererseits eine inspirierende Beigabe für die Imagination des Lesers, auch wenn er sich das alles längst vielfach anders ausgemalt haben mag.

Selbst das legendäre Diktat des letzterschienenen, tausendseitigen Romans „Vorabend“ im Frankfurter Literaturhaus, bei dem Kurzeck sein Manuskript vor einigen Jahren live und in aller Öffentlichkeit entzifferte, um es freiwilligen Helferinnen und Helfern vorzulesen, die es Satz für Satz in einen Laptop tippten, ist nunmehr in diesem Band verewigt. Da sieht man etwa die Journalistin Catrin Dingler, bekannt durch ihre kritischen Artikel über den Berlusconismus in Italien, die regelmäßig in der „Jungle World“ erscheinen, bei der konzentrierten Arbeit mit dem Autor. Mit seiner Brille, seinem Seidenschal und in seiner gebeugten Lesehaltung sieht Kurzeck dabei wie ein lieber Märchenonkel aus, während er uns bereits auf dem Buchcover wie ein gealterter Westernheld entgegentritt, der zufrieden seinen Hut vor sich her trägt.

Diese ganze, große Familie hatte man so noch nie versammelt gesehen: Nun darf man erstaunt feststellen, dass die kleine Tochter Carina, die mit ihrem Vater in verschiedenen Romanen seit den 1980er-Jahren durch Frankfurt läuft, damals noch viel schöner war, als man sie sich jemals vorgestellt hatte. Wie in einem Familienalbum kann man dieses Mädchen in dem Bildband nun, in Begleitung ihres Hundes „Eisbär“, zu einer erwachsenen Frau heranreifen sehen. Auch von ihrer Mutter Sibylle gibt es ein trauriges, mädchenhaftes Porträt, auf dem sie den Betrachter direkt anzusehen scheint: Den Leser der Romane, die geradezu obsessiv von der Trennung zwischen ihr und Kurzecks autobiografischem Erzähler handeln, durchfährt es bei diesem unverhofften Anblick wie mit einem wehmütigen Schmerz. Direkt daneben findet sich ein Foto des Schriftstellers, 1975 in der Provence aufgenommen, mit wehenden langen Haaren – und hier sieht er unfassbarerweise wirklich aus wie eine Figur aus einem Film von Sergio Leone.

So verwegen kam einem Kurzecks Protagonist in seinen Büchern nie vor. Viele der ‚Spiegelungen‘, die dieses Buch zu einem biografischen Kaleidoskop machen, wirken wie aus der Zeit gefallen, wie aus einem ganz anderen Leben. So war es mit der Literatur aber schon immer: Selbst derjenige, der es an einem Nachmittag unternimmt, in Hessen mit dem Fahrrad die 20 Kilometer von Marburg nach Staufenberg zu fahren, um eine kurze Reise durch jenes sagenumwobene Kurzeck-Country zu unternehmen, wie es nunmehr auch in Schmieds Bildband schemenhaft aufscheint, wird dort das Geheimnis der Texte dieses Autors kaum letztgültig entschlüsseln können.

Es ist aber auch nicht ganz so wie in der Bemerkung aus Thomas Bernhards Roman „Auslöschung. Ein Zerfall“, als sich der belesene Protagonist Franz-Josef Murau mahnend an seinen Privatschüler wendet: „Hüten Sie sich, Gambetti, die Orte der Schriftsteller und Dichter und Philosophen aufzusuchen, Sie verstehen sie nachher überhaupt nicht, Sie haben sie in ihrem Kopfe tatsächlich unmöglich gemacht dadurch, dass sie ihre Orte aufgesucht haben, ihre Geburtsorte, ihre Existenzorte, ihre Sterbeorte.“

Schmieds Buch nimmt man trotz alledem mit einer eigentümlichen Neugier zur Hand. Der logische Weg von den Eindrücken, die es vermittelt, führt den Leser ohnehin wieder zurück zu Kurzecks Werk. Mit Erika Schmieds gesammelten Fotos im Kopf wird man es aber vielleicht sogar noch einmal anders lesen als früher, wie auch die kommenden Romane des Autors: Wenn man Kurzeck so reden hört, hat man den Eindruck, er wolle sowieso ewig weiterschreiben. Nur zu!

Anm. der Red: Eine gekürzte Version des Artikels erschien bereits in „Konkret“ 8/2013.

Titelbild

Erika Schmied (Hg.): Peter Kurzeck - der radikale Biograph.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt am Main 2013.
216 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783866001664

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