Ein gewaltiges Erzählwerk

Sabine Friedrich setzt mit ihrem Roman „Wer wir sind“ den Widerstandskämpfern gegen die NS-Diktatur ein Denkmal

Von Volker HeigenmooserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Heigenmooser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der Berichterstattung zur diesjährigen Feierstunde der Bundesregierung am 20. Juli schrieb Jens Bisky in der „Süddeutschen Zeitung“ über die Rede von Karl Heinz Bohrer, dass sie ausgesprochen lesenswert sei. Dem will ich nicht grundsätzlich widersprechen, aber doch in einem Punkt entschieden dagegenhalten. Bohrer sagte in Bezug auf den Widerstand im Umkreis des 20. Juli 1944 laut Manuskript : „Es bedürfte eines Geschichtsdarstellers vom Format russischer Erzähler oder des lakonischen Hans Magnus Enzensberger, um das Drama, das sich zwischen der Sprache des nationalsozialistischen Staates und der Sprache der Verschworenen des 20. Juli abspielte, angemessen zu verstehen und uns Nachgeborenen zum Verstehen zu bringen.“ Das hat mich, vorsichtig ausgedrückt, erst irritiert und dann belustigt, weil ich gedacht habe, typisch Mann: Der Herr Professor Bohrer hat ganz offensichtlich übersehen, dass es diese von ihm geforderte erzählerische Großtat über den Widerstand, und zwar nicht nur des 20. Juli, sondern noch weiter ausgreifend, bereits gibt: Es ist der Roman „Wer wir sind“ von Sabine Friedrich.

Über 2000 Seiten hat der Roman. Ich bin kein Freund allzu dicker Bücher. 300 Seiten sind mir durchschnittlich eine willkommene Länge. Nun 2000 Seiten. Doch nach den ersten 100 Seiten wusste ich, diese 2000 Seiten schaffe ich. Und ich habe sie geschafft. Aber sie haben nicht mich geschafft. – Im Gegenteil. Wenn ich aber jetzt sagen würde, es war mir ein Vergnügen, dann beschreibt es mein Leseerlebnis nicht richtig: Denn zum Vergnügen würde doch eher ein Happy End gehören. Genau das bietet dieser Roman nicht. Da er ein historischer Ideenroman ist, der von historisch belegten Menschen handelt, natürlich mit der Freiheit des Romans ausgemalt, ist das Ende der Figuren bekannt: Für die meisten war es das Schafott oder der Haken am Stahlträger der Hinrichtungsstätte in Plötzensee. Statt also von Vergnügen bei der Lektüre zu sprechen, möchte ich lieber das Attribut „befriedigend“ gebrauchen. Und zwar aus mehreren Gründen: Zum einen, weil mit diesem Roman vielen Menschen, die gegen die Diktatur des Nationalsozialismus auf vielfältige Weise Widerstand geleistet haben, ein literarisches Denkmal gesetzt wurde, indem sie im und durch den Roman tatsächlich wieder lebendig werden.

Zum andern empfinde ich die Lektüre des Romans als befriedigend, weil es Sabine Friedrich versteht, Verknüpfungen der Personen und der Geschehnisse herzustellen, die beim Lesen Spannung erzeugen. Obwohl man als einigermaßen geschichtskundiger Mensch weiß, wie die Geschichte ausgeht, ist man doch immer wieder gefesselt, fast möchte ich sagen, hofft man, dass diese oder jene Aktion doch gut ausgehen möge. Sie geht leider nie gut aus. Das ist die bedauerliche geschichtliche Wahrheit. Das stimmt, aber es stimmt auch nicht. Denn indem wir wahrnehmen, dass es auch während einer die Gesellschaft so durchdringenden Diktatur wie der nationalsozialistischen vielfältige Formen der Resistenz, des Nichteinverstandenseins bis hin zum tätigen Widerstand gab, können wir differenzieren. Wir können erkennen, dass es eben in den Jahren 1933 bis 1945 nicht nur den hässlichen Deutschen gab, sondern dass es – auch wenn es viel zu wenige waren – Menschen gab, die den Zivilisationsbruch, den der Nationalsozialismus markiert, nicht mitgemacht, die sich ihm verweigert und die dagegen Widerstand geleistet haben.

Nicht zuletzt gibt es noch einen Grund für die befriedigende Lektüre: Sabine Friedrich lässt viele Frauen, die Widerstand geleistet haben, zu ihrem Recht kommen, denn sie sind eben nicht nur kaum erwähnenswerte Handlangerinnen ihrer scheinbar heroischen Männer.

Vielleicht geht man in eine Falle, wenn an dieser Stelle gesagt werden muss, dass es eine Stärke dieses Buchs ist, dass der banale Alltag, das Zähneputzen, das Essen und Liebesleben beispielsweise, einen festen Platz hat. Männliche Rezensenten, wie etwa Andreas Kilb in der „F.A.Z.“, scheint gerade das zu irritieren und gegen das Buch einzunehmen. Übrigens ein häufig zu beobachtendes Phänomen: Rezensierende Männer bewerten Schilderungen des Alltags in Romanen mit „ernsten“, das heißt politischen oder historischen Themen, die Frauen geschrieben haben, gerne negativ.

Wenn man heute über den Widerstand gegen den Nationalsozialismus spricht, dann wird zumeist der 20. Juli 1944 genannt. Vor 30 Jahren hätte man wohl vor allem die Widerstandkreise genannt, die die Gestapo unter dem Begriff „Rote Kapelle“ zusammengefasst hat. Zu anderer Zeit wäre wohl zuerst der großartige Einzelkämpfer Georg Elser genannt worden. Sabine Friedrich folgt den Spuren all dieser Widerstandskreise, wenngleich Elser oder der kommunistische Widerstand vergleichsweise schmal abgehandelt werden. Es wird deutlich, was sie interessiert: nicht ideologisch eingefärbte Geschichtsbetrachtung, sondern Lebensentwicklungen. Für sie ist der Nationalsozialismus nichts, was man auf geradezu mechanische Art als eine Form der bürgerlichen Herrschaft bezeichnen könnte, ganz so, als sei er ein entpersönlichtes Geschehen gewesen, das einer Naturkatastrophe gleich über die Menschen gekommen wäre. Nein, in diesem Roman kommen auch diejenigen Menschen zu ihrem Recht, die Anfang der 1930er-Jahre nationalsozialistischen Ideen begeistert zugestimmt hatten, sich aber dann nach und nach bis hin zum Widerstand von ihnen lösten. Diese veränderungsfähigen Menschen können gelegentlich die interessanteren sein als diejenigen, die schon immer Distanz zu diesem rechtsextremen Gedankengut und Handeln hatten. Ein Beispiel ist dafür Franz Alfred Six, der unter anderem Leiter des Inlands-SD und Vorgesetzter von Adolf Eichmann war, ebenso wie Harro Schulze-Boysens an der nationalsozialistischen Auslandswissenschaftlichen Fakultät. Ein anderes ist Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg, eine hochinteressante Figur, von bestechender Intelligenz, aber auch einem Elitebewusstsein, das etwas Schauerliches hat. Sabine Friedrich schildert ihn mit kaum verhohlener Sympathie. Sie hat Recht damit.

Dieser Roman ist ein wichtiger Beitrag zur Entdämonisierung, man könnte auch sagen, wenn es nicht missverständlich wäre, zu einer „Vermenschlichung“ des Nationalsozialismus im Sinne dessen, was Hannah Arendt oft fehlinterpretiert als „Banalität des Bösen“ bezeichnet hat.

Historisch Gebildete, insbesondere Historiker, deren Forschungschwerpunkt auf dieser Zeit liegt, werden in dem Roman keine neuen Fakten finden. Und doch gilt auch für Sabine Friedrichs großangelegtes Werk die Erkenntnis Heinrich Heines aus seinen Reisebildern: „Seltsame Grille des Volkes! Es verlangt seine Geschichte aus der Hand des Dichters und nicht aus der Hand des Historikers.“ Die vielfältigen Verknüpfungen der handelnden Personen macht Sabine Friedrich gleichsam um das Geschehen kreisend deutlich. Es ist eine Art der wiederholenden Bewegung, die immer wieder zur Vorgeschichte der Widerständlerinnnen und Widerständler zurückkehrt. Da wird die Geschichte der Harnacks und Schulze-Boysens bis zu ihrer Hinrichtung erzählt, dann geht es wieder zurück in die Vergangenheit mit anderen Protagonisten im Mittelpunkt, mit Helmut James Moltke, Schulenburg, Peter York, Julius Leber und anderen mit ihren Werdegängen. Der Vorteil dieses Verfahrens ist offenkundig: Auf diese Weise kann die Autorin die Zeit und die prägenden Erlebnisse aus verschiedenen Perspektiven betrachten. So liegt der Schwerpunkt der Erzählung im ersten Buch auf dem linken und liberalen Widerstand, im zweiten Buch auf bürgerlichen, adligen und eher intellektuell geprägten Milieus. Klar wird in diesem Roman, dass der Widerstand gegen Hitler und seine Anhänger beileibe nicht nur aus lupenreinen Demokraten bestand. Dabei werden die Differenzen etwa zwischen den verschiedenen Widerstandskreisen keineswegs verschwiegen, sondern geradezu mit großem Enthusiasmus als Ideengeschichte dieser Zeit nachgezeichnet. Wenn die allgemeine Rezeption dieser Geschichte eher in zwei bis drei Widerstandskreise sortiert ist, so ist diese Wahrnehmung eine dem Reichsicherheitshauptamt, dem Sitz von SS und Gestapo, geschuldete. Auch gegen diese weit verbreitete Sicht ist Sabine Friedrichs Buch ein hilfreiches Vademecum.

Sabine Friedrich schreibt mit viel Empathie bis zu großer Sympathie für ihre Figuren. Das ist die Voraussetzung dafür, dass uns Lesenden diese Personen sehr nahekommen. Besonders beeindruckend sind die gut hundert Seiten mit der Darstellung und den Gedanken der zum Tode verurteilten Mitglieder der Gruppe um Schulze-Boysen oder die gegeneinander geschnittenen Passagen von der Geburt des Sohns von Freya Moltke und den Aufzeichnungen des Gefängnispfarrers Harald Poelchau von den Hinrichtungen. Das sind schwer erträgliche Seiten, nicht zuletzt wegen der Gnadenlosigkeit. Dass dabei faktisch immer die Perspektive der Opfer beibehalten wird, schränkt zwar den Blick ein, konkretisiert den Schmerz jedoch, dem man sich als Leser kaum entziehen kann.

Natürlich kann man auch über diesen gewaltigen Roman Kritisches anmerken, zum Beispiel die gelegentlich etwas hölzern daherkommenden Dialoge oder die etwas klischeehaften Situationsbeschreibungen („Das alte Haus umgibt sie, duftend, leise knackend und keuchend.“). Doch ist der Einwand dagegen ebenso wenig gravierend wie der gegen die althergebrachte Art, am liebsten in einfachen und kurzen Sätzen zu erzählen. Denn im Ganzen gesehen ist dieser Roman tatsächlich ein gewaltiges Erzählwerk, das durchaus formbewusst einen vielgestaltigen Stoff meistert.

Umso unverständlicher ist die gelegentlich auftauchende, geradezu hämische Kritik an diesem Buch. Beispielhaft möchte ich die nicht anders denn als Schmähkritik zu bezeichnende Einlassung des im Allgemeinen ja nicht unkundigen Helmut Böttiger in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 10.01.13 nennen, der sich damit zum Affen macht. Der diesjährige Sprecher der Jury zum Deutschen Buchpreis bezeichnet dort den Roman von Sabine Friedrich als „moralischen Geschichtskitsch“, der „eher an Hanni und Nanni“ erinnere. Abgesehen davon, dass ich gar nicht glauben kann, dass er das Buch wirklich ganz gelesen hat (woran die Literaturkritik allzu oft krankt), ist dies doch eine sehr männliche Sicht. Außerdem kann ich mir schlicht nicht vorstellen, dass sich Hanni und Nanni über die brennenden moralischen, theologischen, philosophischen und politischen Fragen der Zeit auf dem Niveau hätten unterhalten können, wie sie Sabine Friedrich darstellt. Wenn ein Amerikaner diesen Roman geschrieben hätte, gäbe es nur Enthusiasmus, unterstelle ich, und ich unterstelle weiter: auch von Helmut Böttiger. Interessanterweise lobt die „Süddeutsche Zeitung“ an anderen Stellen den Roman, so wie viele andere Medien. Außerdem haben das Buch, wie man hört, gerade lesefreudige Buchhändlerinnen ins Herz geschlossen. Insofern wundert es nicht, dass sich dieser Titel von Sabine Friedrich geradezu zum Longseller entwickelt. Der Roman hat es verdient.

Titelbild

Sabine Friedrich: Wer wir sind. Roman.
dtv Verlag, München 2012.
2027 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783423280037

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