Die Pathogenese der „Lingua Tertii Imperii“

Horst Dieter Schlosser bietet mit seiner Sprachanalyse einen neuen Blick auf die Geschichte des „Dritten Reiches“

Von Clarissa HöschelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Clarissa Höschel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus hat derzeit Hochkonjunktur. Das hat verschiedene Ursachen, in erster Linie natürlich das Gedenkjahr 2013 im Allgemeinen: Vor 80 Jahren kam Adolf Hitler an die Macht, vor 75 Jahren fand die Reichsprogromnacht statt, vor 70 Jahren forderte Joseph Goebbels den ‚Totalen Krieg‘ und es starben die Geschwister Hans und Sophie Scholl. Diese Beispiele, willkürlich herausgegriffen aus einer bedrückend langen Liste von Ereignissen, sind Momentaufnahmen des „Dritten Reiches“. Gleichzeitig zeigen aktuelle Vorkommnisse immer wieder, dass das Gedankengut jener Zeit noch immer schwelt und durchaus in der Lage ist, sich durch menschenverachtende Grausamkeiten in Erinnerung zu rufen.

Geisteswissenschaftliche Disziplinen haben längst, in einem Bemühen um Verstehen und Aufarbeitung, die zwölf schlimmsten Jahre der deutschen Geschichte in ihre virtuellen Bestandteile zerlegt und drehen und wenden diese seit Jahren unter den Mikroskopen verschiedener Teildisziplinen. Die Resultate solcher Bemühungen sind in jedem Fall anerkennenswert, wenngleich nicht immer der Bereicherung des allgemeinen Bewusstseins dienlich.

Schlosser legt mit seiner Sprachanalyse jedoch ein Werk vor, dem aufgrund seiner Aussage- und Überzeugungskraft nicht nur ein Platz in den Elfenbeintürmen der Wissenschaft gebührt, sondern durchaus auch in Schulbibliotheken und privaten Bücherregalen.

Das für den Untertitel gewählte Adjektiv „andere“ wirkt zwar auf den bereits sensibilisierten Leser etwas anachronistisch, weil es diese Sichtweise in Opposition zu „der einen“ Geschichte des Nationalsozialismus stellt, die es als homogenes Kompendium schon seit geraumer Zeit nicht mehr gibt. Hinweisen sollte es, so sei dem Verfasser unterstellt, in der Funktion einer Vorwegnahme, darauf, dass die Betrachtung des Nationalsozialismus durch die Brille der Linguistik tatsächlich Vieles in einem anderen Licht erscheinen lässt – die Grausamkeit jener Jahre wird dadurch sogar noch eindringlicher, direkter und greifbarer, denn es wird von Seite zu Seite spürbarer, dass sich niemand der Sprache und dem herrschenden Sprachgebrauch ganz zu entziehen vermochte. Wird Sprache, ob bewusst oder instinktiv, systematisch manipuliert, wird sie zu einer omnipräsenten, sich durch den Gebrauch sogar noch weiter schärfenden, Waffe für die Manipulatoren und zu einem intellektuellen Gefängnis für das Volk.

Die 17 Kapitel sind chronologisch aufgebaut und beginnen mit der Weimarer Zeit. Den Pluspunkt an Benutzerfreundlichkeit verdienen die bereits in die Überschriften integrierten Schlüsselbegriffe und -wendungen sowie die jedem Kapitel vorangestellte Binnengliederung, die (neben den Seitenzahlen) vor allem die besprochenen Ausdrücke, Redewendungen und die entsprechenden historischen Ereignisse auflistet. Wenn es in diesem Zusammenhang einen Minuspunkt zu vergeben gibt, dann dafür, dass im Anhang eine Liste dieser Ausdrücke und Redewendungen fehlt. Diese wäre vor allem interessant, um einerseits Auftreten und Verwendung der besprochenen Phänomene im Gesamtkontext aufzuzeigen und andererseits auch sehr hilfreich, um die für zahlreiche Begriffe wesentlichen semantischen Verengungen leichter rekonstruieren zu können, was das Buch als Nachschlagewerk noch effektiver machen würde.

Was bei Schlossers Studie von Beginn an – einmal mehr – deutlich wird, ist das ‚Erfolgsrezept‘, dem die NSDAP ihren Aufstieg und Hitler seine (zumindest bis Kriegsbeginn) umfassende Unterstützung der Massen verdankt, denn auch im Bereich der Sprache wussten die Wortführer bereits Vorhandenes zu nutzen und für ihre Zwecke zu adaptieren.

Die Tatsache, dass die Chronologie bereits in der Weimarer Zeit beginnt, macht deutlich, welches sprachliche Material als Startkapital herhalten musste; die Beibringung der relevanten geschichtlichen Ereignisse und deren Auswirkungen auf die Menschen illustriert eine wesentliche Funktion von Sprache, nämlich die, Befindlichkeiten des Einzelnen und des Kollektivs Ausdruck zu verleihen. Dass sich dies von Anbeginn an fast ausschließlich auf der emotionalen Ebene abspielt, die wiederum besonders empfänglich ist für semantische Verengungen, hätte durchaus noch etwas deutlicher herausgearbeitet werden können. Und spätestens an dieser Stelle sei auch darauf hingewiesen, dass der Rückgriff auf die Gebrüder Jacob und Wilhelm Grimm nicht nur in Bezug auf die fehlende Differenzierung der Begriffe „deutsch“ und „germanisch“ legitim ist, sondern auch als Beleg dafür dienen kann, dass sich zahlreiche im „Dritten Reich“ verwendete Begriffe (etwa „Gau“ oder „Sippe“) bereits – in einem wesentlich umfassenderen und wertfreien Kontext – im Grimm’schen Wörterbuch wiederfinden.

Tragisch ist die Erkenntnis, dass zahlreiche Initiativen, die, für sich betrachtet, erst einmal nichts Verwerfliches an sich haben, dennoch Teil eines perfiden Plans waren. Das wissen wir heute, weil wir die Historie umfassend rekonstruiert haben und weil wir vieles davon nachweisen und belegen können. Die wenigsten Menschen ahnten aber, zumindest bis 1939, nicht, dass sie belogen und missbraucht wurden von einem System, das sie zunächst als Erlösung empfanden. Als Beispiel mag die heute des öfteren als Indikator für Nazitreue missbrauchte KdF-Bewegung gelten, mit der das nationalsozialistische Regime den Menschen seit 1933 vor allem kostengünstige Urlaubsfreuden ermöglicht hat. Die linguistische Analyse von „Kraft durch Freude“ fördert zunächst einmal zutage, dass die FREUDE(n) des Urlaubs den Menschen im konkreten wie im übertragenen Sinne KRAFT spenden für ihren Alltag danach. Dazu ist Urlaub noch heute da. Und der humanistisch angehauchte Zeitgenosse denkt sogleich an Juvenals „mens sana in corpore sano“ und findet noch immer nichts Schlimmes daran, auf körperliche und geistige Gesundheit Wert zu legen. Was vielen Menschen damals nicht bewusst war, ist, dass das vordergründige Anliegen dieser und anderer Bewegungen zwar tatsächlich die körperliche Gesundheit der Bürger war, aber nur deshalb, weil nur körperlich robuste Menschen einen Krieg überstehen. Doch von Krieg sprach bis 1939 niemand der Verantwortlichen – im Gegenteil: Hitler, der in den ersten Jahren aufgrund seiner sozialen Erfolge und Maßnahmen (vor allem wegen der schnellen und drastischen Senkung der Arbeitslosigkeit oder wegen der Einführung des Ehestandsdarlehens) von der breiten Masse vor allem als Retter und Wohltäter wahrgenommen wurde, entwickelte auch eine diplomatisch-rhetorische Strategie, die darin bestand, bei jeder sich bietenden Gelegenheit seinen (und damit auch des Volkes) unbedingten Friedenswillen zu betonen.

Dieses Beispiel mag einen ungefähren Eindruck davon vermitteln, was im Kopf des aufmerksamen und durchaus sensibel-empathischen Lesers in sicherer zeitlicher Distanz vor sich geht, wenn er sich Seite für Seite und über 15 Kapitel hinweg mit Ungeheuerlichkeiten dieser Dimension auseinanderzusetzen hat.

Das letzte Kapitel schließlich ist dem Widerstand gewidmet. Dieser erweist sich aber auch in sprachlicher Hinsicht schnell als Chimäre, denn „den Widerstand“ im Sinne einer vernetzten Bewegung hat es nie gegeben, auch wenn wir das heute gerne so sehen möchten. Unter diesem Oberbegriff ist vielmehr eine Vielzahl kleiner, isoliert agierender Gruppen und Individuen unterschiedlichster Gesinnung zusammengefasst, deren Sprachgebrauch wesentlich heterogener war als der des NS-Regimes. Anders ausgedrückt: Weil es „den Widerstand“ nicht gab, gab es auch keine vereinheitlichte „Sprache des Widerstandes“, die sich der des „Dritten Reiches“ hätte entgegenstellen können.

Stattdessen stoßen wir auf die verhaltene Ausdrucksweise der beiden christlichen Kirchen, die sich genötigt sahen, gleichzeitig Diener mehrerer Herren zu sein. Oder wir erkennen den international-ideologischen Sprachgebrauch der im Untergrund agierenden Kommunisten (die bereits Gegner der Weimarer Republik waren), der sich um Abstrakta wie den auf Mussolinis Kampfbund zurückgehenden Begriff „Faschismus“ oder das bereits im 19. Jahrhundert entstandene Schlagwort „Imperialismus“ dreht. Dann wären noch die Sozialdemokraten zu nennen, denen die letzte freie Rede im Reichstag vergönnt war (Otto Wels am 23.03.1933), bevor sie ebenfalls in den Untergrund oder ins Exil gehen mussten, um von dort aus Schriften zu verfassen, die ausschließlich für Parteimitglieder und Sympathisanten, nicht aber für die Öffentlichkeit, bestimmt waren.

Weiter existierten Widerstandsgruppen, wie zum Beispiel der Kreisauer Kreis um die Grafen von Moltke und Yorck von Wartenburg, die vor allem Denkschriften und Aktionspläne für die Zeit nach dem „Dritten Reich“ entwarfen, sich aber 1941-43 von konkreten Widerstandsaktionen distanzierten. Erst 1944 schlossen sich einige von ihnen den Vorbereitungen des Stauffenberg-Attentats an, was das Ende dieser Gruppe und die Ermordung mehrerer Mitglieder zur Folge hatte.

Und schließlich sei auch auf studentische Widerstandsbewegungen verwiesen, allen voran die in München wirkende „Weiße Rose“, die anhand von mühsam gefertigten und vervielfältigten Flugblättern zunächst zum passiven, dann auch zum aktiven Widerstand aufrief. Die ersten vier dieser Schriften waren für die intellektuelle Oberschicht bestimmt und zeichneten sich durch eine entsprechend gehobene Sprache und zahlreiche Zitate aus Literatur und Philosophie aus. Erst das fünfte Flugblatt richtet sich – in einfachem, klaren Stil – an das gesamte Volk und wurde in rund 6.000 Exemplaren verteilt. Das sechste und letzte – ein verzweifelter Aufruf – wurde im Herbst 1943 (als die Mehrheit der Weiße-Rose-Aktivisten bereits hingerichtet war) in rund 1,5 Mio. Exemplaren von britischen Bombern über dem gesamten Land abgeworfen, ohne die Menschen jedoch wirklich erreicht zu haben.

Der abschließende Versuch einer Zusammenfassung verdeutlicht nochmals die sukzessive Ent-Individualisierung der Menschen: Denken und Handeln des Einzelnen waren den Interessen der omnipräsenten Volksgemeinschaft unterworfen – eine Situation, die sich die Nachgeborenen – also die allermeisten von uns – nicht einmal annähernd vorstellen können.

Die kontinuierliche und konsequente Manipulation der Sprache im Sinne der Ideologie führt letztendlich, so stellt es bereits der mehrfach bei Schlosser zitierte Victor Klemperer in seiner 1947 erschienen Sprachkritik „L[ingua] T[ertii] I[mperii] – Notizbuch eines Philologen“ fest, zu einer Verarmung der Sprache, die ihrer semantischen Vielfalt und ihrer heterogenen Wirkungsbereiche beraubt wurde. Das Schlimmste an dieser verarmten Sprache aber ist, dass sie auch nach Ende des „Dritten Reiches“ hier und anderswo weiterlebt.

Titelbild

Horst Dieter Schlosser: Sprache unterm Hakenkreuz. Eine andere Geschichte des Nationalsozialismus.
Böhlau Verlag, Köln 2013.
420 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783412210236

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