Segel setzen und mit Volldampf ins Leben

Literarisch unterwegs mit dem Schiff

Von Sylvia SchopfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sylvia Schopf

Schiffe, Boote oder Kanus ermöglichen es den Menschen schon seit Jahrtausenden, Waren zu transportieren, trennende Flüsse zu überqueren und Entfernungen zu überwinden. Und seit es Schiffe gibt, sind sie ein beliebter Schauplatz in der Literatur. Hier suchen die Reisenden und die Leser nach Abenteuern ebenso wie nach sich selbst. Die Seereise steht häufig für die Lebens- oder Seelenreise. In den unendlichen Weiten des Meeres muss sich ‚mensch‘ unbekannten Gefahren stellen. Man ist der unberechenbaren Natur ausgeliefert, begegnet der Einsamkeit,  Ängsten, Leidenschaften, den Fragen des Lebens und des eigenen Seins.

Eine Irrfahrt mit immer wieder neuen Herausforderungen

Vor mehr als 2500 Jahren entstand eine der ältesten Seefahrergeschichten: die „Odyssee“ des griechischen Dichters Homer. Sie wurde zum Synonym für eine lange Irrfahrt. Als Odysseus, Herrscher von Ithaka, nach dem siegreichen Krieg gegen Troja in seine Heimat zurückkehren will, lassen ihn Götter erst noch eine ziemlich lange Weile übers Meer irren. Immer wieder sind er und seine Mannschaft Herausforderungen und Gefahren ausgesetzt: Da ist der verlockende Gesang der Sirenen, denen sie widerstehen müssen. Die Seeungeheuer Skylla und Charybis lauern, und sie geraten in die Fänge eines menschenfressenden einäuigen Zyklopen. Am Ende landet der Held bei der schönen Nymphe Kalypso, die ihn zum Mann begehrt und nicht wieder weg lassen will. Doch dann greifen die obersten Götter ein und die Nymphe muss Odysseus ziehen lassen. Mit einem selbstgezimmerten Floß segelt der Held erneut hinaus aufs Meer und nimmt Kurs auf die heimatliche Insel. Doch seine Irrfahrt ist noch nicht zu Ende. Der Meeresgott Poseidon schickt einen heftigen Sturm. In der Nacherzählung von Gustav Schwab:

„Alle Winde pfiffen um das Floß des Odysseus her, daß diesem Herz und Knie zitterten und er zu jammern begann … Das Floß geriet in einen Wirbel; das Ruder fuhr ihm aus der Hand, das Floß war in Stücke gegangen, er selbst taumelte weit von dem erschütterten Fahrzeug; Mastbaum und Segelstangen trieben da und dort über das tobende Meer hin. Odysseus aber war in die Brandung untergetaucht, und das nasse Gewand zog ihn immer tiefer hinab. Endlich kam er wieder empor, spie das Salzwasser, das er geschluckt hatte, aus und schwamm den Trümmern des Floßes nach, deren größtes Stück er endlich auch glücklich erreichte und sich mitten darauf niederließ.“

Der Schiffbrüchige erreicht schließlich das rettende Ufer und hat Glück. Er wird an Land und dem Hof des Herrschers freundlich aufgenommen. Doch seine Heimreise ist damit erneut ins Stocken geraten und wieder muss sich Odyssseus Abenteuern und Herausforderungen stellen.

Eroberungen und Entdeckungen

Weit und endlos erscheint das Meer, wenn man es vom Land aus betrachtet. Für’s Auge stoßen irgendwo in der unendlichen Weite Himmel und Wasser zusammen. Das Ende der Welt? Oder geht es noch weiter? Ab dem 15. Jahrhundert zog es die Europäer, allen voran die Portugiesen und Spanier, hinaus in die Ferne, übers Meer, auf der Suche nach neuem Land und neuen Handelswegen. Einige dieser wagemutigen Seefahrer haben ihre Erlebnisse und Erfahrungen in Berichten oder Tagebüchern festgehalten, zum Beispiel Christoph Columbus. Er dokumentierte seine Fahrt ins Unbekannte akribisch in seinem Schiffstagebuch. So eine Fahrt ins Ungewisse, bei der man den Kräften der Natur ausgesetzt ist, das eigene Leben aufs Spiel setzt und Fremdem begegnet – das ist Stoff, der Spannung und Abenteuer verspricht! Keine Wunder also, dass Entdeckungsreisen von Christoph Columbus bis James Cook immer wieder literarisch verarbeitetet wurden und werden.

Auch die wohl bekannteste Schiffsmeuterei der Weltgeschichte, die sich im Jahr der französischen Revolution, genauer am 28. April 1789, auf einem englischen Segelschiff in der Südsee ereignete, ist ergiebiger Stoff für Romane und Filme; eine der berühmtesten Versionen ist der Abenteuerroman „Meuterei auf der Bounty“.

Um den englischen Seefahrer und Nordpolforscher John Franklin geht es in Sten Nadolnys Weltbesteller „Die Entdeckung der Langsamkeit“. Nadolny schreibt die Biografie des Seefahrers um zu einer Studie über die Zeit und die Langsamkeit. Bei Nadolny ist Franklin ein Mensch von extremer Langsamkeit. Diese behindert den jungen Mann erheblich, ermöglicht ihm aber auch, das einmal Erfasste detailgenau zu behalten. Auf der Suche nach einem Ort, wo ihn niemand zu langsam findet, entdeckt John Franklin das Meer und schließlich die Schiffahrt als sein Element. Er unternimmt alles, um auf ein Schiff zu kommen – und das schafft er schließlich auch. Auf seiner ersten Seereise von England nach Lissabon macht die Landratte seine ersten Erfahrungen mit der Schiffahrt:

„Am liebsten sah John zu, wenn die Geschwindigkeit gemessen wurde. Als er zum ersten Mal selbst messen durfte und gefühlvoll die Logrolle ablaufen ließ, war er endlich ganz und gar froh. Nach einem Vorlauf von achtzig Fuß stand das Scheit richtig, der Anfangsknoten flutschte heraus, und Sherard drehte das Glas um. Achtundzwanzig Sekunden liefen Sand und Leine, dann hielt John fest und prüfte. ‚Drei Knoten und ein halber, berühmt ist das nicht.̔ Er maß gleich noch einmal. John hätte sogar nachts Logleine und Sanduhr mit in die Koje genommen, wenn er hätte messen können, wie schnell ein Mensch schlief oder wieviel Fahrt seine Träume machten.“

Kapitän zu werden, das ist Johns großer Traum. Und das gelingt ihm auch. Unter seiner Leitung schickt die englische Krone im Frühjahr 1818 ein Expeditionsschiff los, das die Nordwestpassage, also die Durchfahrt zum Pazifik, finden soll. Eine abenteuerliche, risikoreiche und immer wieder auch lebensgefährliche Schiffsreise erwarten John Franklin – und die Leser.

Abenteurer auf hoher See – nur für Männer!

Die Seefahrt als Nervenkitzel mit ungewissem Ausgang ist eine männliche Domäne. Die Besatzung, die Leser und auch die Autoren von Seefahrtsgeschichten sind Männer. Vor allem in den Abenteuer-, Seefahrer- und Piratenromanen, die im 18. und 19. Jahrhundert Hochkonjunktur haben, kommen Frauen so gut wie gar nicht vor. Hartgesottene Männer und solche, die es werden wollen, suchen das Abenteuer auf hoher See. So auch Ismael, der Ich-Erzähler in Herman Melvilles weltberühmtem Roman „Moby Dick“. Für sein Werk konnte der Autor übrigens auf eigene Erfahrungen zurückgreifen: Er war Steward auf einem Passagierschiff und hatte zwei Reisen auf einem Walfangschiff mitgemacht. Seinen Ich-Erzähler Ismael lässt Melville darüber nachdenken, warum er auf einem Walfänger angeheuert hat:

„Von allen Beweggründen war sicher die überwältigende Vorstellung vom großen Wal der stärkste. Das riesenhafte, geheimnisvolle Ungetüm reizte meine Phantasie; dazu die fernen, wilden Meere, durch die er seinen Riesenleib wälzt wie eine Insel, und die unnennbaren Gefahren und die tausend Wunder der Südsee, das alles lockte mich unwiderstehlich, denn ich fahre für mein Leben gern in verbotenen Gewässern und gehe an den Küsten der Barbaren an Land. Gewiss, ich verachte nicht das Gute und Schöne, aber das Grauenhafte zieht mich unsagbar an. Aus diesen Gründen war mir die Fahrt auf einem Walfänger gerade recht. Die Tore zu einer Wunderwelt taten sich auf. Ich stopfte meine paar Hemden in einen alten Seesack, nahm ihn unter den Arm und brach auf nach Kap Hoorn und dem Pazifik.“

Einsam! Robinson & Co

Ein Unfall mit dem Schiff auf hoher See – und der Überlebende treibt ziellos auf dem Meer. Weit und breit nichts als Wasser. Welche Erlösung, wenn dann endlich Land in Sicht kommt. Und dort hofft der Schiffbrüchige, Hilfe zu finden. Robinson Crusoe, Haupt- und Titelfigur einer bis heute gerne gelesenen Abenteuergeschichte aus dem Seefahrtsmilieu, verschlägt es auf eine einsame Insel und ein langer, zäher Kampf ums Überleben beginnt. In Anlehnung an Daniel Defoes Roman wurde die Robinsonade zu einem feststehenden Begriff, auch in der Literatur.

Eine ungewöhnliche, zudem skurrile und äußerst amüsante Robinsonade hat Yann Martel vor einigen Jahren geschrieben. In seinem preisgekrönten und inzwischen verfilmten Roman „Schiffbruch mit Tiger“ ist das Eiland ein Rettungsboot, das nach einem Schiffbruch ziellos auf dem offenen Meer treibt. Freytag heißt hier Richard Parker und ist ein ausgewachsener bengalischer Tiger. Ein Mensch zusammen mit einem Tiger auf einem Rettungsboot! Das sind keine guten Aussichten für den Jungen Pi Molitor, den einzigen menschlichen Überlebenden der Schiffskatastrophe und Ich-Erzähler dieser wundersam komischen Geschichte. Tja, und wie schafft man es, an der Seite eines Tigers zu überleben?

„Ich musste ihn zähmen….. Es ging nicht darum, ob er oder ich durchkam, sondern wir mussten beide durchkommen. Wir saßen, und das nicht nur im übertragenen, sondern auch im wahrsten Sinne des Wortes, im selben Boot. Wir mussten miteinander leben – oder miteinander sterben. (…) Etwas in mir war froh, dass Richard Parker da war. Etwas in mir wollte nicht, dass Richard Parker starb, denn dann blieb ich allein zurück, allein mit meiner Verzweiflung, und das war ein Feind, der noch unbezwingbarer war als ein Tiger. Wenn ich überhaupt noch den Willen zum Leben hatte, dann verdankte ich ihn Richard Parker. Er sorgte dafür, dass ich nicht zu viel an meine Familie dachte, an das entsetzliche Unglück, das mir widerfahren war. Er drängte mich zum Leben. Ich hasste ihn dafür, aber zugleich war ich ihm auch dankbar.“

Gemeinsam oder alleine

An kaum einem anderen Ort ist Zusammenarbeit so entscheidend wie auf einem Schiff. Und entsprechend hart ist es, alleine den Gewalten des Meeres ausgesetzt zu sein – so wie Ernest Hemingways alter Fischer in der vielfach ausgezeichneten und auch verfilmten Novelle „Der alte Mann und das Meer“:
„Er war ein alter Mann, der allein in einem kleinen Boot im Golfstrom fischte, und er war jetzt vierundachtzig Tage hintereinander hinausgefahren, ohne einen Fisch zu fangen.“

In der Hoffnung doch noch einen Fang zu machen, fährt der Alte noch einmal alleine hinaus aufs Meer – und dann passiert das Unglaubliche:

„Er sah, während er seine Leinen beobachtete, wie einer der ausgeworfenen frischen Stöcke ruckartig eindippte. ‘Ja’, sagte er, ‘ja’, und holte die Riemen ein …. Er spürte weder Druck noch Gewicht, und er hielt die Leine locker. Dann kam es wieder (…) und er wußte genau, was es war. In hundert Faden Tiefe fraß ein Marlin die Sardinen ab. (….) Dann geschah nichts. ,Los, komm’, sagte der alte Mann laut. ,Mach noch eine Wendung. Riech noch mal. Sind sie nicht prachtvoll? Friß sie nur ordentlich ab, und dann gibt’s den Thunfisch. Fest und kalt und prachtvoll. Genier dich nicht, Fisch. Friß sie!’“

Und der Fisch beißt tatsächlich an. Doch nun beginnt ein dramatischer Kampf zwischen dem Alten und dem Fisch an der Angel. Im Laufe der nächsten Tage entwickelt der alte Fischer eine fast freundschaftliche und zärtliche Beziehung zu dem Fisch. Er siegt – und doch kommt er am Ende mit leeren Händen zurück. Haifische! Gegen sie hatte er keine Chance.

Die Kreuzfahrt – Vergnügungsreisen besonderer Art

Nicht nur Mühen und Nöte bietet das Meer, sondern in neuerer Zeit auch jede Menge Vergnügungen. Zumindest für diejenigen, die eine Kreuzfahrt machen. Diese Reiseform boomt: Kreuzfahrten auf Flüssen ebenso wie auf Meeren. Riesige Schiffe, die die Einwohnerzahl eines ganzen Ortes für begrenzte Zeit aufnehmen können. Sie sind ein Ort des Luxus‘, ein eigener Kosmos für eine exklusive, geschlossene Gesellschaft. Und das macht das Kreuzfahrtschiff auch zu einem reizvollen Ort für die Literatur. Schon Agatha Christie hat in ihrem Kriminalroman „Tod auf dem Nil“ die Abgeschlossenheit eines Schiffes genutzt und lässt dort, mitten in der vornehmen englischen Gesellschaft, einen kaltblütigen Mord geschehen. Der zeitgenössische Autor Matthias Politycki, der als Recherche für seinen Reiseroman „In 180 Tagen um die Welt“ selbst an einer Kreuzfahrt teilnahm, schickt einen einfachen Finanzbeamten aus dem bayerischen Oberviechtach auf große Fahrt. Bissig und ironisch erzählt Politycki von der Kreuzfahrt und ihren Reisenden. Und immer wieder darf der Leser Gesprächen dieser illustren Gesellschaft lauschen:

„Und was haben Sie gestern Schönes gemacht?“
Gestern? Wo waren wir eigentlich -? Ach ja, natürlich! Die gute Frau Stäblein hat sich im Basar von Kairouan, „alles für nur ein Dinar!“, einen gewaltigen Schildkrötenpanzer als ‚Bio-Wok‘ andrehen lassen; Sarah hat von ihrem Ausflug …. ein komplettes Fußbodenmosaik mitgebracht, mindestens UNESCO-Weltruinenerbe. Im Grunde habe sie’s nur vom Boden auflesen müssen, es sei nicht mal abgesperrt gewesen. Ansonsten immer am Schmollen und Rumzicken, legt sie uns jetzt bestens gelaunt das Mosaik zwischen den Liegestühlen aus; Frau Eschenbrenner, die sich neugierig hochrappelt und dann beinahe hineintritt: ‘Guck mal, René! Im nächsten Jahr buchen wir das auch!’“

Alles buchbar, planbar, abgesichert. Die Welt heute: vermessen, eingeordnet, kartografiert und technisiert. Abenteuer- und Entdeckerreisen oder auch dramatische Schiffskatastrophen wie der Untergang der Titanic gehören der Vergangenheit an. Bleibt den Literaten von heute nur noch der Blick zurück (wie Sten Nadolny, Daniel Kehlmann mit seiner „Vermessung der Welt“ oder Raoul Schrott mit seinem Abenteuerroman „Tristan da Cunha“) oder die Vergnügungsreise auf Luxusdampfern. Doch was sich dort abspielt, mutet banal und alltäglich an. Dem begegnen manche Autoren mit bittersüßer Ironie: „Schrecklich amüsant – aber in Zukunft ohne mich“ lautet zum Beispiel der Titel des Kreuzfahrtromans von David Forster Wallace. Auf den schwimmenden Vergnügnungscentern mit Heile-Welt-Ambiente ist kein Raum mehr für Seelen- und Lebensreisen wie sie einst Odysseus oder Hemmingways alter Fischer machten. Oder auch Sten Nadolnys Nordpolforscher John Franklin: „Er hatte nur die Sehnsucht, unterwegs zu bleiben … auf Entdeckungsreise, bis das Leben vorbei war.“

Anmerkung der Redaktion: Der Essay ist ein Nachtrag zum Reise-Schwerpunkt in der September-Ausgabe 2013 von literaturkritik.de