Kein Sieg des Rechtes

In Linwood Barclays Thriller „Frag die Toten“ wird eine Hellseherin einmal ernst genommen

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Keisha Ceylon – Barclay-Lesern ist die junge Frau bereits aus dessen Thrillerdebüt „Ohne ein Wort“ (2007) bekannt – beutet die Gutgläubigkeit ihrer Mitmenschen und deren Hang zu Okkultem jeder Art aus. Als Medium, das sich die Fähigkeit zuschreibt, den Kontakt zu Verstorbenen oder Verschwundenen herstellen zu können, erschleicht sie sich das Vertrauen von deren Angehörigen. Gesalzen sind die Preise, die sie für ihre Hellseherei verlangt, allein sie scheinen gerechtfertigt zu sein durch eine ganze Reihe von Erfolgen, mit denen es Keisha sogar bis in die Medien geschafft hat. Wendell Garfield, der allem Übersinnlichen ausgesprochen skeptisch gegenübersteht, fällt es schwer, der sich ihm aufdrängenden Helferin die Tür nicht gleich wieder vor der Nase zuzuschlagen. Denn er weiß mehr über das Verschwinden seiner Frau Ellie, als die verzweifelten öffentlichen Aufrufe an die seit Tagen Vermisste ahnen lassen.

Dass es mit der Hellsichtigkeit von Keisha nicht allzu weit her ist, bekommt der Leser bereits in Kapitel Eins des so spannenden wie amüsanten neuen Romans von Linwood Barclay mit. Denn natürlich ist es ein abgekartetes Spiel, wenn das Medium die verzweifelten Eltern eines verschwundenen jungen Mannes nach dem Berühren von einigen persönlichen Dingen stracks zu dem Haus führt, in dem sich der Bursche mithilfe von Mutters Schlaftabletten gerade aus dem Leben schleichen will. Doch blind vor Glück, ihren missratenen Filius halbwegs gesund wieder in die elterlichen Arme schließen zu können, übersehen die um 5.000 Dollar Ärmeren glatt die Begeisterung, mit dem sich Keisha und der heimgekehrte Sohn im Geiste schon einmal das saftige Honorar teilen.

„Frag die Toten“ ist ein Roman, der nach der Devise ‚Es kommt immer anders, als man denkt bzw. plant‘ gebaut ist. Und Linwood Barclay beherrscht die Methode, seine Helden in ständig neue Missgeschicke zu verwickeln. So bringt gerade ihr Bemühen, die Aussagen zu der verschwundenen Ellie Garfield so allgemein wie möglich zu halten, Keisha Ceylon in die Bredouille. Denn ganz zufällig landet sie nicht allzu weit von einer Wahrheit entfernt, an deren Bekanntwerden die beiden Hinterbliebenen keinerlei Interesse haben. Doch auch nachdem sie den heimtückischen Mordversuch Garfields abgewehrt hat, indem sie die Täter-Opfer-Rollen einfach auf den Kopf stellte, kann Keisha nicht mehr ruhig schlafen. Denn nun hat sie die mit allen Wassern gewaschene Polizistin Rona Wedmore am Hals, die es nicht nur versteht, eiskalt zu kombinieren, sondern auch die in den Fall Verwickelten geschickt gegeneinander auszuspielen.

Wenn dann schließlich noch Keishas etwas minderbemittelter Freund Kirk und Wendells Schwester Gail in den Fall mit je eigenen Interessen eingreifen und sich zudem herausstellt, dass der Home-Depot-Angestellte Garfield seine Frau seit geraumer Zeit mit einer Kollegin betrogen hat und der Anteil seiner schwangeren Tochter Melissa am Verschwinden der Mutter größer ist als anfangs gedacht, könnten sich bei einem weniger geschickten Autor leicht die Erzählfäden verwirren. Linwood Barclay freilich verliert an keiner Stelle die Übersicht und erzählt seine Geschichte bis zu einem Schluss, an dem sich für seine Hauptgestalt nicht die Gefängnistore öffnen, sondern der imaginäre Durchgang zu einem neuen – vielleicht sogar ehrlicheren – Leben sichtbar wird.

„Frag die Toten“ erinnert gelegentlich an Alfred Hitchcocks Film „Familiengrab“ (USA 1990). Hier wie da der souveräne Umgang mit der erzählten Geschichte. Hier wie da der unwiderstehliche, häufig tiefschwarze Humor. Hier wie da die spürbare Sympathie für die kleinen Leute und ihre Mühen und Tricks im täglichen Überlebenskampf. Und hier wie da kein Sieg des Rechts am Ende, aber auch nicht das Gefühl beim Leser, mit den eigenen Sympathien auf der falschen Seite zu stehen.

Titelbild

Linwood Barclay: Frag die Toten. Thriller.
Droemersche Verlagsanstalt, München 2013.
302 Seiten, 14,99 EUR.
ISBN-13: 9783426213711

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