Wenn die Spinne „Hallo“ sagt

„Drachen, Doppelgänger und Dämonen“: Der Neurologe Oliver Sacks erzählt von Menschen mit Halluzinationen

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Das fragen sich nicht nur radikale Konstruktivisten, sondern auch Menschen, die unter Halluzinationen leiden. Als Oliver Sacks in den 1960er-Jahren begann, mit Drogen zu experimentieren, nahm er einmal 20 Pillen eines mit Belladonna verwandten Parkinson-Medikaments. Als der Neurologe noch auf die Wirkung wartete, klopfte es: Ein befreundetes Pärchen stand wie häufig an Sonntagvormittagen vor seiner Tür. Sacks schickte die beiden ins Wohnzimmer, während er für sie in der Küche Eier mit Speck zubereitete, man plauderte, und als er mit den Tellern ins Wohnzimmer kam, waren seine Freunde fort. Tatsächlich waren sie nie dagewesen.

Eine schockierende Erkenntnis für den damaligen Assistenzarzt – die ihn in der Folge aber nicht von einer veritablen Drogenkarriere abhielt, Delirium tremens und Therapie inklusive. Nachzulesen ist Sacks wilde Vergangenheit im Kapitel „Veränderte Bewusstseinszustände“ seines neuen Buches „Drachen, Doppelgänger und Dämonen“ über Menschen mit Halluzinationen. Für den Wissenschaftler war das Erlebnis jedoch aufschlussreich: Schließlich „hatte es für die Annahme, die ganze Unterhaltung [...] sei von meinem Gehirn frei erfunden worden, nicht den geringsten Anhaltspunkt gegeben.“

Dass Halluzinationen überaus real anmuten, unterscheidet sie von den Vorstellungsbildern der Fantasie. Und ebenso, dass sie nicht aktiv erzeugt werden, sondern man ihnen passiv ausgeliefert ist. Wenn Betroffene sie dennoch meist rasch als Trugbilder erkennen, so aufgrund ihres häufig fantastischen Gehalts: In der Wirklichkeit wuchern nun einmal nicht Rosen aus Gesichtern, sagen Spinnen an der Küchenwand nicht „Hallo“ und können sich Menschen auch nicht plötzlich vervielfältigen wie Agent Smith in „Matrix“.

Halluzinationen sind so etwas wie das verbindende Element der Bücher des weltberühmten britischen Neurologen, der in diesem Jahr achtzig wird. Viele der von Sacks in den 1970er-Jahren mit L-Dopa wieder ins Leben zurückgeholten Schläfer („Zeit des Erwachens“) begannen als Nebenwirkung zu halluzinieren. Von musikalischen Halluzinationen handelt „Der einarmige Pianist“, und dass einem Teile des eigenen Körpers als fremde, unbeseelte Dinge erscheinen können, erlebte Sacks nach einem Bergunfall („Der Tag, an dem mein Bein fortging“). Nur konsequent also, dass der Mediziner diesem Faszinosum nun ein eigenes Buch widmet, das wieder einmal auf die bewährte Mischung aus Fallgeschichten aus der eigenen Praxis, Selbsterlebtem, Fachwissen und historischen Fällen setzt.

Sacks zentrales Motiv ist es, Halluzinationen von dem Stigma zu befreien, wer Stimmen höre oder unter Phantomschmerzen leide, sei verrückt – ein Grund, warum Betroffene ihre beängstigenden Wahrnehmungen oft lange verschweigen. Anders als Träume sind Halluzinationen auch kein Königsweg zum Unbewussten, ist sich Sacks sicher und verweist auf bildgebende Verfahren, mit denen sich bei Patienten die jeweiligen (über-)aktivierten Gehirnareale identifizieren lassen, die für den Anblick deformierter Gesichter oder bizarrer Schriftzeichen verantwortlich sind. Auslöser für solche neuronalen Erregungsmuster kann eine Migräneattacke ebenso sein wie Epilepsie.

Auch anhaltender Reizentzug lässt das Gehirn Halluzinationen produzieren, wie seit jeher Piloten oder Seefahrer wissen. Dazu gehört auch das Charles-Bonnet-Syndrom, bei dem Menschen, die erblinden, Halluzinationen erleben. Wie Rosalie, eine 90-jährige Patientin, der im Pflegeheim ständig Menschen in leuchtenden morgenländischen Gewändern begegneten. Gerade CBS-Halluzinationen können beängstigend und lästig sein, aber auch einfach nur unterhaltsam oder tröstlich, betont Sacks.

In 15 Kapiteln, geordnet nach Sinnesmodalitäten und speziellen Erkrankungen, erzählt der Neurologe von Menschen, die immerzu verfaulte Eier riechen oder „White Christmas“ von Bing Crosby hören, und vermutet in Halluzinationen eine Inspirationsquelle für Kunst und Religion. Doch überträgt sich seine schier grenzenlose Faszination für diese „besondere Kategorie des Bewusstseins“ nur teilweise auf den Leser. Die Aneinanderreihung von Fallgeschichten ermüdet, zumal wenn selbst hinter den als Offenbarungen erlebten Anfällen von Epileptikern wie Fjodor Michailowitsch Dostojewski letztlich nur ein paar überdrehte Neuronen stecken sollen. Problematischer als die ungewollte Banalisierung des Phänomens erscheint aber seine einseitige Entstigmatisierung: Lässt der Autor ausgerechnet die Halluzinationen von Schizophrenie-Patienten wirklich nur deshalb aus, weil sie „ein eigenes Buch“ verlangten, wie er eingangs schreibt – oder weil diese gezeigt hätten, dass die Trugbilder manchmal eben doch etwas mit Wahnsinn zu tun haben?

Titelbild

Oliver Sacks: Drachen, Doppelgänger und Dämonen. Über Menschen mit Halluzinationen.
Übersetzt aus dem Englischen von Hainer Kober.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2013.
350 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783498064204

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