Literaturgeschichte als Kulturgeschichte

Zu einer Edition der Schriften Johann J. Eschenburgs

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Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die englische Literatur des 14. Jahrhunderts wird in der Literaturgeschichtsschreibung traditionell als erste Blütezeit volkssprachiger Dichtung angesehen, in der einflussreiche Werke wie William Langlands allegorische Traumvision „Piers Plowman“, der alliterative Ritterroman „Sir Gawain and the Green Knight“ oder die Texte Geoffrey Chaucers entstehen konnten. Kultur und Literatur des 15. Jahrhunderts galten dagegen häufig als Rückfall hinter die Qualitäten der ‚Chaucerzeit‘, als uninspiriert, barbarisch und langweilig. Ähnlich der Aufteilung europäischer Literatur- und Kulturgeschichte in Antike, Mittelalter und Neuzeit etablierte sich so die Auffassung einer ‚klassischen‘ Epoche der englischen Dichtung im 14. Jahrhundert, gefolgt von einer Rückentwicklung im 15. Jahrhundert sowie der Wiederauferstehung volkssprachiger Literatur während der englischen Renaissance unter den Tudor-Herrschern im 16. und 17. Jahrhundert.

Dass die Literatur dieser Epochen auch im deutschen Sprachraum bereits früh Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzung war, belegen die Arbeiten des Braunschweiger Schriftstellers und Gelehrten Johann Joachim Eschenburg (1743-1820), dessen Essays und Übersetzungen nun in Auswahl in einer neuen Edition vorliegen. Als Professor für schöne Literatur und Philosophie am Collegium Carolinum in Braunschweig pflegte Eschenburg regelmäßigen Kontakt zu englischen Studenten und verfasste Vorträge und Aufsätze zur englischen Literaturgeschichte. Sein Interesse an der Literatur und Kultur Englands führte darüber hinaus zu zahlreichen Übersetzungen englischer Autoren insbesondere des 16. und 17. Jahrhunderts, etwa Edmund Spenser, William Shakespeare oder Alexander Pope.

Der nun von Till Kinzel herausgegebene und mit einem Nachwort versehene Band illustriert Eschenburgs Tätigkeitsfeld exemplarisch, indem er dessen Essay über ‚Gottfried‘ Chaucer, der für ihn „freylich nicht der einzige, aber unleugbar bey weitem der größte Dichter dieses Zeitpunkts“ ist, sowie seinen „Abriß der Geschichte der englischen Poesie“ vom 11. zum 16. Jahrhundert umfasst. Da zudem die Probe einer Übersetzung des ersten Gesangs im ersten Buch von Spensers Versepos „The Faerie Queene“ (Buch I-III erschienen 1590) und die Übertragung von Popes „Essay on Criticism“ (1711) ins Deutsche enthalten sind, vermittelt die Edition gleichermaßen einen Einblick in Eschenburgs Übersetzungspraxis. Die Konzentration auf Eschenburgs Beschäftigung mit der älteren englischen Literatur wird des weiteren angereichert durch seine Reaktion auf Voltaires Kritik an den Dramen William Shakespeares.

Die ausgewählten Texte folgen dabei stets dem Leitgedanken, das literarische Schaffen eines Autors könne nur unter Berücksichtigung der jeweiligen zeitgenössischen kulturellen und gesellschaftlichen Zusammenhänge angemessen beurteilt werden. So beginnt Eschenburg seine Abhandlung zu Chaucer, indem er das „Sittengemählde des vierzehnten Jahrhunderts“ skizziert und die Qualität von Chaucers Dichtung als Ausdruck der „glänzendste[n] Periode des Ritterwesens in England“ unter dem damaligen König Eduard III. darstellt. Dieses Verständnis der Literaturgeschichte als Kulturgeschichte erlaubt es Eschenburg, aus literarischen Texten Rückschlüsse auf deren zeitgenössischen kulturellen Kontext zu ziehen. Die Beschreibung antiker Theaterpraxis in Lydgates „Troy Book“ (verfasst ca. 1412-1420) hebt er dementsprechend hervor, „weil sie nicht sowohl Eigenheiten des Theaterwesens zu unsers Dichters Zeiten enthält, als vielmehr einen Beweis giebt, daß dergleichen damals wenig oder gar nicht vorhanden war“. Dadurch vermitteln Eschenburgs Überlegungen nicht nur eine Vorstellung des Charakters der Literaturgeschichtsschreibung im späten 18. Jahrhundert, sondern ermöglichen auch, die damalige Rolle der Literaturwissenschaft bei der Gewinnung kulturgeschichtlicher Erkenntnisse besser zu verstehen.

Dem Prinzip, Literatur sei in ihren jeweiligen zeitlichen und kulturellen Zusammenhang einzubetten, folgen auch die im Band versammelten Übersetzungen sowie Eschenburgs Reaktion auf Voltaires Kritik an Shakespeare. Tatsächlich wird dieses Prinzip in Popes „Essay on Criticism“ deutlich formuliert, da bei der Beurteilung von Dichtung „Inhalt, Zweck, Religion und Land, / Und das Genie der Zeit“ eines Werkes zu beachten seien. Eschenburgs Übersetzung von Popes Essay kann daher durchaus als Bekenntnis zu dessen literaturkritischen Überzeugungen gesehen werden.

Die Vernachlässigung der Einbettung literarischer Texte in ihren jeweils zeitgenössischen kulturellen Kontext ist dann auch ein wesentlicher Aspekt in der Reaktion Eschenburgs auf Voltaires Abwertung der Dramen Shakespeares. So verweist er in seiner Antwort auf Voltaires Kritik darauf, dass viele der von ihm beanstandeten Stellen in Shakespeares Texten „aus dem ganzen Karakter seines Genies, seiner Schreibart, seiner Zeiten, und der damaligen Sitten, gar leicht zu vertheidigen“ seien. Die Kenntnis der Kulturgeschichte wird hierdurch zur wesentlichen Voraussetzung angemessener Literaturkritik erhoben.

Insgesamt bietet die im Band versammelte Auswahl von Eschenburgs Essays und Übersetzungen einen präzisen Einblick in das Schaffen des Braunschweiger Gelehrten. Für detaillierte Untersuchungen zu Eschenburgs Werken wäre neben dem vorhandenen Nachwort ein Apparat mit erläuternden Kommentaren des Herausgebers nützlich gewesen. Allerdings hätte solch ein Kommentarapparat die Sammlung ihres ohne Zweifel gelungenen handlichen Formats beraubt.

Titelbild

Johann Joachim Eschenburg: Von Chaucer zu Pope. Essays und Übersetzungen zur englischen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit.
Wehrhahn Verlag, Hannover 2013.
164 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783865252715

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