Über Wahrheit und Lüge im außerjuristischen Sinne
Ferdinand von Schirachs Roman „Tabu“ droht unter seinem eigenen Gewicht zu zerbrechen
Von Manuel Bauer
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseFerdinand von Schirach macht es seinen Lesern mit seinem neuen Roman nicht leicht. Das ist zunächst keineswegs verwerflich, man nimmt gerne ein wenig gedankliche Anstrengung bei der Lektüre in Kauf. Es bleibt aber der Verdacht, dass Schirach es sich selbst zu leicht gemacht hat. Der Verdacht, dass der Autor es nicht verstanden hat, seinen Roman hinter zahlreichen geraunten Andeutungen inhaltlich und formal abzurunden. Nicht jeder Faden, der keine Anknüpfung findet, ist ein Indiz großer Kunst, nicht jede beiläufige Bemerkung, die sich bedeutungsschwanger gibt, erträgt das Gewicht, das sie sich selbst aufbürdet, nicht jede Beobachtung bringt tatsächlich etwas zum Vorschein. Sicher, das mag gewollt sein, und ob es opportun ist, nach der Postmoderne überhaupt noch formale und inhaltliche Abrundung einzufordern, ist eine andere Frage. Zu einem zünftigen postmodernen Verwirrspiel, zu dem etwa Paul Auster den Kriminalroman (und dieses Genre gibt letztlich den Erwartungsrahmen vor) zuweilen machte, reicht es dann aber auch nicht. Aber der Reihe nach.
Mit seinen Büchern „Verbrechen“ (2009) und „Schuld“ (2010) ist Ferdinand von Schirach zum Star geworden. Der erfolgreiche Strafverteidiger schaffte es, ein großes Lesepublikum für die andere Seite der Kriminalerzählung zu interessieren, bei der nicht die Auflösung eines Falles, sondern die Vorgeschichte eines Verbrechens und die menschlichen Tragödien auf Seiten der Täter im Mittelpunkt stehen. Das alles hatte den Vorzug, Erwartungen an Authentizität – schließlich könnte es sich ja so oder so ähnlich in Schirachs eigener Berufspraxis zugetragen haben – ebenso zu erfüllen wie solche, die auf ein avanciertes Verhältnis von Fakt und Fiktion abzielen. Schirachs knappe, unsentimentale Prosa (keine Besprechung kommt ohne die Bezeichnung „lakonisch“ aus) bot einen ungewöhnlichen Sound, der trotz seiner Eingängigkeit nicht ohne Verstörungen daherkam.
Als er 2011 in „Der Fall Collini“ das für seine kurzen ‚Stories‘ bewährte Modell erstmals im größeren Rahmen anwendete, regten sich Zweifel am literarischen Talent des Verfassers. Für die Distanz eines Romans wirkte Schirachs Poetik doch arg strapaziert, seine erzählerischen Mittel zu limitiert. Auch bei seinem neuen Roman „Tabu“ kann er die bekannten Probleme nicht bändigen. Die ersten Reaktionen in den großen Feuilletons waren, man kann es nicht anders sagen, vernichtend. Noch immer wirkt das für die kleine Form so gut funktionierende Erzählmodell im größeren Rahmen zu dürftig. Schirach bleibt bei seinem Metier – Verbrechen, Schuld, Fragen des Rechts und allerlei damit verbundene moralische Implikationen. Da hat einer seine Nische gefunden und schert sich nicht um Innovationen. Wozu auch, das Buch verkauft sich ja wieder anständig. Für einen weiteren Verriss ist also alles angerichtet. Doch auch hier gilt: so einfach macht es Schirach seinen Lesern, auch seinen Rezensenten nicht.
Noch bevor die Handlung einsetzt, markiert Schirach durch Verweise auf die Farbenlehre von Helmholtz und Daguerres Erfindung der Fotografie doppelt – und damit etwas aufdringlich –, was das eigentliche Thema des Buches sein soll. Optische Phänomene, Probleme der Wahrnehmung und der Erkenntnis. Schirachs Protagonist Sebastian von Eschburg ist Fotograf. Wir haben es mit grundsätzlichen Fragen zum Verhältnis der Kunst zur Wirklichkeit, von Fakt und Fiktion, von Mimesis und Manipulation, von Verfremdung und Wahrheit und mit der bildlichen, medialen Vermittlung von Tatsachen zu tun. Dieser Themenkomplex ist nicht nur schwierig, sondern im Zusammenhang mit Schirach und seiner bisherigen Rezeption alles andere als unschuldig. Waren die Verbrechens-Stories von Anspielungen auf fundamentale zeichen- und erkenntnistheoretische Probleme flankierte Reflexionen über das Recht, tritt der Autor nun in die Phase der Selbstreflexion ein. Es ist nicht mehr nur eine hintergründige poetologische Frage, was authentisch und was fingiert ist. Diese Frage wird vielmehr ins Zentrum des Erzählgeschehens gerückt. Damit ist das Dilemma dieses Buches greifbar. Der Autor ist für den mit feiner Ironie platzierten Kunstgriff zu loben, die Auseinandersetzung um die Funktionsweise seiner bisherigen Texte derart zu reflektieren; allerdings erdrückt die Gedankenlast das fragile literarische Gerüst.
Sebastian von Eschburg entstammt einer Adelsfamilie in finanziellen Nöten. Seine Kindheit und Jugend verbringt er auf dem familiären Anwesen an einem bayrischen See und einem Internat in der Schweiz. Von seinen Eltern bekommt er wenig Aufmerksamkeit, die Mutter interessiert sich nur für Pferde, der Vater trinkt und bringt sich alsbald um. Kurz und gut: Sebastian hat psychische Probleme, tatsächliche und bisweilen wohl auch nur eingebildete Erlebnisse mit Frauen und macht Karriere als Fotokünstler.
Die sich mittels einzelner knapper Szenen zu einiger Ausführlichkeit aufschwingende Schilderung der Lebensumstände des Protagonisten führt Schirach so weit weg von der Verbrechens-Thematik wie noch kein Text zuvor. Zugleich ist dieser Teil des Romans, der sich mit der Kindheit und Karriere des Fotografen beschäftigt, von einer Poetik des Fotografischen geprägt. Die geschilderten Szenen ähneln alten Fotografien, deren Zusammenhang sich nicht recht erschließt, die aber alle im gleichen Album enthalten sind. Die verwaschenen, bereits farblosen Erinnerungsbilder transportieren selbst keine Emotionen, wollen aber über die Fixierung des scheinbar Nebensächlichen den Leser emotionalisieren. So wie sich der Protagonist die Fingerkuppe abschneiden muss, um sich lebendig zu fühlen, weil ihm alles unwirklich erscheint, so braucht auch der Leser derlei kleinere Schockmomente, um den dargebotenen Bildern nicht in einem Nebel von Gleichmut zu begegnen. Denn wie die einzelnen Szenen verblichenen Bildern gleichen, ist auch Schirachs Schreibweise ohne schillernde Farben, ohne Elemente, die diese Prosa „lebendig“ erscheinen lassen. Man mag das als glasklare Lakonie feiern oder als handwerklichen Mangel begreifen. Es ist zunächst ein adäquater Ausdruck der Eintönigkeit einer von emotionalen Ausbrüchen streng abgeschiedenen Kindheit in einem freudlosen Elternhaus und einem Klosterinternat. Tristesse als Effekt des Erzählens ist dem Erzählten angemessen. Wer einen Kriminalroman erwartet, der von Spannung, Detektion und funkelnden Beschreibungen lebt, wird dies als Langeweile empfinden.
Die zweite Hälfte des Romans ist dann, wie um zuvor unzufriedene Leser zu versöhnen, doch wieder um ein Verbrechen gruppiert. Sebastian von Eschburg wird als Täter verdächtigt, die Indizien sind erdrückend. Auch dieses Verbrechen fügt sich ein in die großangelegte Versuchsanordnung über Wahrheit und Fiktion, Wirklichkeit und Simulation. Im Zuge der Vernehmungen des Verdächtigen kommt es zum titelgebenden Tabu: der ermittelnde Polizist, von der Schuld Sebastians überzeugt, droht ihm mit Folter, um eine Aussage zu erzwingen. Die Folterthematik, so wichtig ihre literarische Aufarbeitung auch ist, wird recht bemüht in den Vordergrund gedrängt. Sie gewährt dem knorrigen Anwalt, dem Schirach einen späten Auftritt verschafft (und der dieses Mal nicht mit ihm selbst zu verwechseln ist), die Möglichkeit zu einigen rechtsphilosophischen Betrachtungen.
Im Ganzen handelt es sich, trotz einiger platter Schilderungen, eindimensionaler Figuren und gestelzter Dialoge, um eine durchaus unterhaltsame Lektüre. Was bleibt ist dennoch der Eindruck, dass ein ambitioniertes Werk vorgelegt wurde, das seine eigenen Maßstäbe nicht einzuhalten vermag und unter der Last seiner Ideen leidet. Den Nachweis, einen überzeugenden Roman schreiben zu können, bleibt Schirach erneut schuldig. Er macht es sich zu leicht, indem er nach einem Schritt ins Unbekannte rasch wieder auf vertrauten Boden zurückkehrt und indem er darauf vertraut, die mitunter eher vermutete als literarisch eingeholte Gedankenschwere seiner Themen und die andeutungsschwangere Poesie seiner minimalistischen Prosa werde die Lücken in der Komposition schon zudecken. Es wird spannend zu beobachten sein, ob Schirach bei seinem nächsten Buch den Mut aufbringt, sich noch konsequenter von seiner klassischen Thematik zu entfernen – oder ob er seine Erfolgsformel ein weiteres Mal bemüht, ob Ferdinand von Schirach also ein interessanter Autor ist oder ein sich wiederholender Erfolgsschriftsteller mit einem zunehmend abgeschmackten Rezept. „Tabu“ legt in beide Richtungen jeweils den halben Weg zurück und muss so jedes Ziel verfehlen. Ob fahrlässig oder mit Vorsatz, ist nicht abschließend zu ermitteln.
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