Kracauers Original – Adornos Variation
Die aufschlussreiche zweite Ausgabe von Siegfried Kracauers „Totalitäre Propaganda“ durch Bernd Stiegler
Von Stephan Krause
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEin mit wertvollem Material angefülltes Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft liegt mit Siegfried Kracauers „Totalitäre Propaganda“ vor. Bernd Stiegler, der zugleich gemeinsam mit Christian Fleck Herausgeber des Bandes 2.2 der Werke Siegfried Kracauers ist, hat es soeben vorgelegt.
Der Band enthält die Langfassung von Kracauers Studie nach der Textgestalt des Werke-Bandes. Ergänzt wird sie diesmal jedoch nicht nur durch das Adorno’sche Gutachten dazu, das dieser 1938 für das Institut für Sozialforschung verfasst hatte, sondern zudem durch Kracauers Vorstudien und die durch Adorno auf der Grundlage von Kracauers Studie erstellte Fassung. Damit werden Kracauers umfangreiche Vorarbeiten für „Totalitäre Propaganda“ und die unmittelbare Rezeption und Weiterverarbeitung der Studie durch Adorno sehr gut sichtbar. Zusätzlich liefert Stieglers Nachwort den werkhistorisch-biographischen Kontext dazu. Den Band runden eine Reihe von Abbildungen der Manuskripte und Notizen Kracauers sowie des Typoskripts von Adornos Umarbeitung ab.
Was mit dieser zusätzlichen Ausgabe von „Totalitäre Propaganda“ möglich wird, geht in diesem Sinn über den Band der Werkausgabe hinaus. Dieser enthält „aus Umfangsgründen“, wie Stiegler bemerkt, weder die Vorarbeiten Kracauers noch den Adorno-Text. Gerade letzterer aber erlaubt weitere Kontextualisierungen und fügt der Veröffentlichungsgeschichte von Kracauers Studie – die bis 2012 eine Geschichte der Nicht-Veröffentlichung war – neben den Vorstudien einen wichtigen Baustein hinzu. Adornos Gutachten zeigt ein sehr kritisches Urteil – das aber Kracauers vorurteilshafte und simplifizierende Perspektive auf die Homosexualität allenfalls andeutet – und schlägt weitgehende Streichungen und eine grundlegende Umarbeitung vor, für die sich Adorno selbst anbietet. Im direkten Vergleich zeigt sich etwa, in welcher Weise Adorno Kracauers Arbeit in die Zeitschrift des Instituts für Sozialforschung einzupassen gedachte. Einige exemplarische Einblicke mögen dies abbilden. Stiegler zitiert im Nachwort aus einem Brief Adornos, nach dem von Kracauers Text nicht viel mehr als die Joseph-Goebbels- und Adolf-Hitler-Zitate geblieben seien. Dies trifft es durchaus. Während Kracauer über weite Strecken analytisch, in anderen Passagen deskriptiv vorgeht, lässt sich an Adornos Aufsatz sehr deutlich die Einspannung in sein begriffliches System erkennen. Kracauer zeigt die Funktionsweise von ‚totalitärer Propaganda‘ auf, während Adorno eher eine essayistische Wertung vornimmt, die ganz offensichtlich auf der Lektüre von Kracauers Studie beruht, die Adorno jedoch so nicht wiedergibt. Zum Teil weist dies gar Ungenauigkeiten auf. So verwendet Adorno mal die Fügung „autoritäre“ mal „totalitäre Propaganda“, während Kracauer konsequent von „totalitärer Propaganda“ spricht. Der Begriff ‚Reklame‘ taucht bei Adorno auf, spielt aber für Kracauers Studie eigentlich keine Rolle. Zudem findet sich in der Adorno-Version dessen nachgestelltes Reflexivpronomen, eine stilistische Eigenheit, die Kracauers Text freilich nicht besitzt. An einer Stelle formuliert Kracauer: „Ein Witzblatt, das in Wirklichkeit umschlägt, muß den Geist mit Grauen erfüllen.“ Bei Adorno heißt es als Variation darauf: „Die Witzblattfigur als gesellschaftliche Macht, verbreitet offenes Grauen.“ Für Adornos Arbeit mit Kracauers „Totalitäre Propaganda“ ist dies typisch. Adornos um vier Fünftel kürzerer Text ist eigentlich keine Kurzfassung, sondern stellt eine Variation auf Kracauers Studie dar. Kracauers brieflich gegenüber Adorno geäußerter Eindruck erscheint daher völlig verständlich:
„Du hast in Wahrheit mein Manuskript nicht redigiert, sondern es als Unterlage für eine eigene Arbeit benutzt.“
Der Band macht mit editorischer Präzision dieses enge Verhältnis von Kracauers Studie und Adornos Bearbeitung bestens nachvollziehbar. Dies gehört unbedingt zur Problemgeschichte der Kracauer’schen Arbeit, die dieser Band – gerade auch neben Werke 2.2 – um wesentliche Einblicke erweitert.
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