Schreiben als Spionage

Über Ian McEwans neuen Roman „Sweet Tooth“

Von Carina BergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Carina Berg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit nunmehr einigen Monaten scheint kein Nachrichtenformat mehr ohne den Ruf „Spionage! Abhöraktionen!“ auskommen zu wollen. Edward Snowden hat mit der Veröffentlichung geheimer Unterlagen der US-amerikanischen Sicherheitsbehörde NSA eine gewaltige Diskussion um das Verhältnis von bürgerlicher Privatsphäre und staatlichem Eingriff ins Rollen gebracht und nun soll auch das MI5 das Berliner Regierungsviertel belauschen – Szenarien, von denen McEwans neuer Roman „Sweet Tooth“ gar nicht weit entfernt ist.

„Sweet Tooth“ – in der im Oktober erschienenen deutschen Übersetzung von Werner Schmitz lautet der Titel „Honig“ – versetzt den Leser zurück in das Großbritannien der 70er Jahre. Es ist die Zeit des Kalten Krieges, der Konfrontation der beiden großen Systeme, Kapitalismus und Kommunismus, und das goldene Zeitalter der Geheimdienste. Dabei entwickelt der Roman einen greifbaren historischen Kontext: Er präsentiert ein desolates England, das geradewegs auf eine allumfassende wirtschaftliche und politische Paralyse zusteuert. Vor diesem Hintergrund entspinnt sich ein klug angelegter Plot. Serena Frome („reimt sich auf Ruhm“), eine junge Cambridge Absolventin aus gutem anglikanischem Hause, aus deren Perspektive erzählt wird, gelangt über ihren älteren Liebhaber, Professor Canning, zum MI5. Jedoch sind ihre Aufgaben beim Geheimdienst mehr als ernüchternd. Serena ist eine von unzähligen unterbezahlten Büroangestellten, die Mitgliederlisten von Kreisverbänden der Kommunistischen Partei Englands anlegen, Memos von Vorgesetzten abtippen und sklavisch Anfragen in der Registratur bearbeiten. Und dennoch betrachtet sie ihren Job mit einer merkwürdigen Mischung aus patriotischem Pflichtgefühl und Schicksalsergebenheit. Es wird schnell deutlich, dass dieser Roman keine differenzierten Agentenpsychogramme eines John Le Carré oder romantisierende Geheimdienstgeschichten à la Ian Fleming bietet; kleinere Episoden über Machtstrukturen oder Liebeleien innerhalb des Geheimdienstes klingen zuweilen ein wenig nach schalem, abgestandenem Agentenroman. Doch ist auch das eigentliche Thema des Romans nicht die Spionage und das MI5: McEwan verlagert die Thematik der Manipulation, des Beobachtens und Beobachtet-Werdens auf die Ebene der Literatur selbst und macht „Sweet Tooth“ so zu einem Roman über das Lesen von Romanen, der die Analogie zwischen Lesen und Spionage produktiv zu nutzen weiß.

Serena ist eine Vielleserin und hätte, wäre es nach ihr und nicht nach den konservativen Vorstellungen ihres Elternhauses gegangen, Literatur statt Mathematik studiert. Da kommt ihr der erste richtige Geheimauftrag, die Teilnahme am Programm „Sweet Tooth“, mehr als gelegen. Ideologienahe, das heißt liberale englische Schriftsteller, sollen durch Scheinstipendien gefördert werden, um so auch literarische Diskurse in die richtige, das heißt westliche, Richtung lenken zu können (dieses Handlungselement ist nebenbei bemerkt gar nicht so weit hergeholt; beispielsweise finanzierte die CIA verdeckt die Kulturzeitschrift „Encounter“ und war auch, neben dem britischen Geheimdienst, an der Verbreitung von Übersetzungen von Orwells „Animal Farm“ beteiligt). Serena wird auf den Literaturwissenschaftler Tom Haley angesetzt, der das großzügige Stipendienangebot selbstverständlich annimmt.

Ziemlich schnell entwickelt sich aus diesem ersten Kontakt eine fatale Liebesbeziehung, die sich aus Naivität, Eitelkeit und Selbstüberschätzung speist. Tom ist geschmeichelt, sieht sich in seinen schriftstellerischen Ambitionen bestätigt und Serena lässt sich nur zu gerne von einem weiteren älteren Mann verführen, dem sie sich in ihrer Tarnung als ‚Geheimagentin‘ überlegen glaubt. In ihrer Naivität – Serena leidet an einem fast schon hinreißenden Missverständnis von Wirklichkeit und Fiktion – fühlt sie sich zu Tom Haley hingezogen, weil er als Autor eine Form von Macht verkörpert. Genau so, wie sie, die gierige Leserin, nur realistisch welthaltige Roman verschlingt, da genaue Beschreibungen von Charakteren, Orten und historischem Kontext für sie Qualitätsmerkmale eines guten Romans sind, stellt sie sich vor, dass ihre eigene Welt literarisches Material sein, dass Tom sie und ihre gemeinsamen Erlebnisse jederzeit zu einer Erzählung verarbeiten könne. Sein Schreiben übt einen beträchtlichen Reiz auf sie aus, beispielsweise malt sie sich nach ihrem ersten, missglückten sexuellen Kontakt mit Tom aus „wie er, sobald wir fertig wären, Notizbuch und Bleistift aus seiner Jacke nehmen würde“. Literatur ist für Serena eine Art von Voyeurismus; Texte spiegeln für sie nicht nur die reale Erfahrungswelt wider, sondern sie lassen auch Rückschlüsse auf die Person des Autors zu. So deduziert sie beispielsweise Charaktereigenschaften und andere Neigungen aus den Kurzgeschichten, die Tom bereits vor „Sweet Tooth“ geschrieben hat. Als Schnellleserin ist Serena wohl der Alptraum jedes großen Stilisten und Atmosphärikers.

Dieses undifferenzierte Verständnis von Literatur wird im Verlauf des Romans bis ins Paradoxe gesteigert. Tom, in der Rolle des gebildeten Literaturwissenschaftlers, unterrichtet Serena über postmoderne Erzählexperimente, die sie jedoch ablehnt, weil Autor und Leser einen simplen Vertrag einhalten müssten: Kein einziges Romanelement dürfe sich „einfach so, aus einer Schriftstellerlaune heraus, in die Luft auflösen“. Sie hat keinen Zugang zu experimentellen literarischen Formen, sie lechzt nach „naivem Realismus“. Doch ist es gerade ihre Figur, die Teil eines umfassenden narrativen Kurzschlusses wird. Als die Beziehung zwischen Serena und Tom in dem zu erwartenden Fiasko endet und zum Gegenstand der Boulevardzeitungen wird („Haleys Sexy Spionin“), bricht die Erzählung aus Serenas Perspektive ab und wird durch einen Brief von Tom kommentiert, der dem Leser, in bekannter McEwanscher Manier, den Boden unter den Füßen entzieht. Serenas Erzählung ist in Wirklichkeit Toms Erzählung; er hat das Spiel längst durchschaut und wird selbst zum Berichterstatter und Spion, indem er in die Rolle seiner Geliebten geschlüpft ist und die Geschehnisse aus ihrer Perspektive schildert. Und so löst sich Serena, die leicht neurotische junge Frau, die Romanexperimente verabscheut, selbst in Luft auf; das Fiktive entpuppt sich – entgegen ihren Wünschen – nun auch für den Leser von „Sweet Tooth“ als keineswegs widerspruchsfrei und stabil.

Man mag sagen, der metafiktionale Twist am Ende von „Sweet Tooth“ sei zu erwarten gewesen, sei ein nun doch alt bekannter Taschenspielertrick, zumal wenn man sich das Ende von McEwans Erfolgsroman „Atonement“ („Abbitte“) in Erinnerung ruft. Gleichwohl ist McEwan ein großartiger Erzähler, der seinen Roman mit größtem handwerklichen Geschick und Bedacht anlegt, dem Leser vereinzelte Fährten auslegt, die bei wiederholter Lektüre die Thematik um Spionage und Schreiben sogar noch enger zusammenführen. Die Verflechtung dieser beiden Gegenstände bezieht auch immer den Leser und den Rezeptionsvorgang mit ein, da McEwan über die Figur Serenas mit Leseerwartung, Lesehaltung und deduktiven Fehlschlüssen zwischen Autor, Intention und Werk spielt.

Von diesem Gesichtspunkt aus ist „Sweet Tooth“ auch ein Roman mit autobiografischen Tendenzen. In der Gestalt von Tom Haley taucht McEwan in seine eigene literarische Vergangenheit ab und schreibt sich selbst als Autor in den Text ein. Die Kurzgeschichte von Tom Haley, die von dem morbiden Verhältnis eines Mannes zu einer Schaufensterpuppe handelt, ist das Wiederaufgreifen von McEwans eigener frühen Erzählung „Dead as They Come“; sie wird bruchstückhaft von Serena nacherzählt und zitiert. Auch der Inhalt der Dystopie, mit der Haley im Roman den renommierten Jane-Austen-Preis gewinnt, beruht auf „Two Fragments“, einer Kurzgeschichte McEwans, die wie „Dead as They Come“ in der Sammlung „In Between the Sheets“ erschien. Ob kluges Selbstzitat für den Kenner seines Werkes oder literarischer Revisionismus früher Schreibprojekte – McEwan weiß seine Karten geschickt auszuspielen und zu einem guten Blatt zusammenzufügen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Ian McEwan: Sweet Tooth.
Jonathan Cape Ltd, Zürich 2012.
366 Seiten, 18,95 EUR.
ISBN-13: 9780224097376

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Titelbild

Ian McEwan: Honig.
Übersetzt aus dem Englischen von Werner Schmitz.
Diogenes Verlag, Zürich 2013.
462 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783257068740

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