Henry, wo sind die Pilze?

Über Peter Handkes „Versuch über den Pilznarren“

Von Simone SchröderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simone Schröder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Gartentisch voller Fallobst, Bücherstapel auf Möbeln und ein Paar Hände, die Pilze mit einem Messer säubern. Enthalten sind diese Fotos in einem Bildband von Lilian Birnbaum mit dem programmatischen Titel  „Peter Handke: Portrait des Dichters in seiner Abwesenheit“. Nicht der Schriftsteller als Person wird darin gezeigt, sondern sein Haus im Pariser Vorort Chaville. Suchte man eine Illustration für „Versuch über den Pilznarren“, drängte sich jene Aufnahme geradezu auf. Nicht nur bildet sie ab, worum es in diesem Essay geht – um Pilze, insbesondere Steinpilze –, sie illustriert auf ihre Weise auch die Poetik des Textes. So wie das Bild nämlich nur Handkes Hände, vor allem aber den Tisch und die Pilze zeigt, spielt auch der „Versuch über den Pilznarren“ mit der Abwesenheit Peter Handkes. In diesem fünften und (angeblich) letzten Band seiner Reihe mit Versuchen erzählt der Autor (angeblich) gar nicht von sich selbst, sondern von der eigensinnigen Begeisterung eines Freundes aus Kindestagen. Aber natürlich ist dieser Freund zugleich Handkes Spiegelbild. Beide sind im gleichen Kärntner Dorf an der slowenischen Grenze aufgewachsen, beide haben ein Jurastudium absolviert und beide verbringen seit jeher viel Zeit in der Natur und mit ihr. Weil er Pilze nicht nur gerne sammelt, sondern ihnen regelrecht verfallen ist, nennt Handke seinen Freund, den „Pilznarren“. Als dieser eines Tages von einem Gang in die Pilze nicht zurückkehrt, beginnt Handke einen Essay über ihn und seine Pilzleidenschaft zu schreiben. In indirekte Rede umgeformt gibt er an uns weiter, was sein Freund ihm über Pilze erzählt hat. Handke ist Zuhörer und Überlieferer. Er erzählt aus einer Ich-Perspektive wie sie für den Essay seit Michel de Montaigne charakteristisch ist, und spricht doch nicht von sich. Sein Schreiben ist Bewältigungsstrategie und Vergegenwärtigungsversuch zugleich: Der Freund soll qua Literatur zurückgewonnen werden.

Im Zuge dessen beschreibt er ein langsames Entgleiten. Handkes Freund entgleitet beim ständig wiederholten Gang in die Pilze nicht nur sein Anwaltsberuf, er vergisst auch seine Familie. Einmal trifft er seine Frau zufällig im Wald, doch er erkennt sie nicht, weil er nur Augen für die Pilze in ihren Händen hat. Als sie mit dem gemeinsamen Kind auszieht, gibt er seinen Beruf auf und wendet sich ganz den Pilzen zu. Jeder gefundene Pilz ist für ihn eine Epiphanie, eine plötzliche Offenbarung der Mannigfaltigkeit und Schönheit der Natur, die so als Gegenort zur bürgerlichen Berufslaufbahn des „Pilznarren“ erscheint. Als Anwalt ist der Freund „unterwegs bei internationalen Strafgerichten“ gewesen. Der berufliche Erfolg scheint ihn indessen ebenso wenig zu erfüllen, wie seine Familie, um nur zwei der am weitesten verbreiteten Erfüllungsnarrationen unserer Zeit herbeizuzitieren. Eine Art der Transzendenz findet er erst durch das In-der-Natur-Sein. Einmal sitzt er auf einer Wiese neben einem Pilz.

„Eine Gruppe von Bergradfahrern schob ihre Gestelle hügelauf, und wie er da saß, unwillkürlich vor den Pilz gerückt, den sie auch so übersehen hätten (aber wer weiß?), geschah es zum ersten Mal, daß er von solchen Unbekannten gegrüßt wurde, und das nicht, weil er in Anzug und Krawatte war, und er grüßte zurück – oder hatte das beiderseitige Grüßen sich nicht gleichzeitig ereignet, so selbstverständlich wie nur etwas? Mit dem kleinen Schatzfund hat sich in ihm ein ‚Ich bin da! Ich bin mit da!‘ oder einfach bloß ‚Da!‘ ereignet, wie noch keines je zuvor.“

Diese Situation ist für den Essay geradezu paradigmatisch. Sie illustriert, was das Schöne, das Zeitgemäße an Handkes Essay ist. Denn das epiphanische Naturerleben geschieht nicht etwa in abgeschiedenen Wäldern, sondern in einer hybriden, von Kultur durchdrungenen Natur, wie sie uns im 21. Jahrhundert in weiten Teilen des dicht besiedelten Europas inzwischen fast ausschließlich begegnet. In dieser Natur sind nicht nur „Bergradfahrer“ unterwegs, es ist dort auch „von den Autobahnen und Peripherieschnellstraßen jenseits der Wälder ein […] Brausen, Dröhnen und Röhren“ zu hören, das ebenfalls einfach so „da“ ist, ohne zu stören.

Für den Pilznarren, und das ist die tragische Wendung dieser Erzählung, bewirkt der regelmäßige Gang in die Pilze längerfristig gesehen aber keine Erlösungserfahrung, sondern eine regelrechte Sucht nach immer neuen Epiphanien. Er sucht an immer wieder anderen Orten nach Pilzen und verliert sich dabei in der Natur; er wandert tagelang durch den Wald, träumt davon, dass ihm Pilze aus dem Körper wachsen und flüchtet an Orte, wo es eigentlich keine Pilze geben sollte, und wo er schließlich doch nach ihnen Ausschau hält: „am Fuß der Kathedralen, in den Stadien, sogar, sage und schreibe, bei Bootsfahrten auf den Flüssen, zwischen den Schienen der Untergrundbahnen, auf den vegetationslosesten Friedhöfen“.

Dieser Suchbewegung entspricht die offene, assoziative Form des Essays, der sich in Umwegen und Abschweifungen ergeht. Er wolle, schreibt Handke, nicht als „zünftiger Jurist“ erzählen, der er trotz desselben Studiums wie sein Freund nicht geworden sei, sondern werde „ungegliedert“ beschreiben, wie das Pilzbuch ihm „regellos durch das Gedächtnis zieht“. Darin gleicht Handkes Poetik den Spaziergängen seines Freundes. So wie dessen Suchschritt „immer wieder nah am Stehenbleiben war, und doch quer durch Baum- und Buschwerk, niemals ins Stocken geriet, vielmehr in einem fort sich gleichmäßig weiterspann“, so ist auch dieser Essay erzählt. Es ist ein gleichmäßig kreisendes Erzählen, das Beobachtungen in der Natur zum Ausgangspunkt für weitere Beschreibungen nimmt. Man kennt dieses Schreibverfahren der Naturessayistik nicht nur aus anderen Büchern Handkes, sondern auch aus dem amerikanischen Nature Writing und so überrascht es nicht, als die Namen Henry David Thoreau und Walt Whitman fallen. Die Frage, weshalb diese beiden „großen Waldläufer der vergangenen Jahrhunderte“ eigentlich nie über Pilze geschrieben haben, steht ziemlich am Ende von „Versuch über den Pilznarren“: „Warum hast du Bäume nur zur Gymnastik verwendet, um nach deinem Schlaganfall wieder gelenkig zu werden, Walt? Warum hast du, Henry, in den Wäldern von Maine und Massachusetts nur Pflanzen bestimmt?“ Dass Pilze in „Walden; or Life in the Woods“, dem berühmtesten Naturessay aller Zeiten, nicht vorkommen, ist tatsächlich erstaunlich, hängt aber vielleicht damit zusammen, dass sie traditionell weniger dem Naturschönen als dem -hässlichen zugerechnet wurden und dass Thoreaus deskriptiver Blick diese Diskurskategorie bewusst oder unbewusst ebenso reproduzierte wie neu auf die Gesellschaft seiner Zeit bezog.

Mit Thoreau verbindet Handke nicht nur die Essayform, das Nachvollziehen der Jahreszeiten und die Umbenennung von Arten (einen Pfifferling nennt der Pilznarr zum Beispiel „Erdschmetterling“ oder „Erdfalterchen“, weil das besser zu seinem Aussehen passt), sondern auch die Idee, aus der Arbeitswelt auszusteigen. Vom Walden Pond, an dem Thoreau von 1845 bis 1847 das Experiment eines selbstbestimmten Lebens in der Natur unternahm, führt eine Spur in Handkes Pilzwälder. Handkes Freund gibt seinen Beruf als Anwalt unreflektierter auf als Thoreau, der nachweislich in die Natur zog, um die „essential facts of life“ zu lernen, doch die Parallelen sind unübersehbar. Maßgeblich für beide ist insbesondere die Idee einer unkultivierten Natur, wie Thoreau sie in seiner Beschimpfung der Landwirte evoziert: „the farmer leads the meanest of lives. He knows Nature but as a robber.“ Für den Pilznarren sind Steinpilze die „Last Wilderness“, weil sie sich nämlich als einzige Gewächse auf Erden „nicht und nicht züchten, nicht und nicht zivilisieren, geschweige denn domestizieren ließen“ und sich so dem menschlichen Verfügungswillen entziehen.

Dasselbe ließe sich über die Essayform sagen. Essays verkaufen sich in der Regel schlecht, zumindest schlechter als die meisten Romane und obwohl Handkes Essay eine Geschichte erzählt, ist der „Versuch über den Pilznarren“ kein Buch, das man wegen des eigentlich verrückten Plots liest. Und auch wenn sich ein Essayband von Peter Handke sicher immer noch besser verkauft als ein durchschnittlicher Roman, widerstrebt die Form doch der leicht zu konsumierenden Lektüre. Daran ändert auch der märchenhaft gute Ausgang nichts: Am Schluss sitzen Handke, sein Freund und dessen Frau zu dritt in einem Gasthaus und feiern den Geburtstag des Pilznarren, der als wieder-aus-den-Wäldern-Aufgetauchter zugleich eine Art Wiedergeborener ist. „Aber ist das am Ende nicht zu viel des Märchens?“, fragt Handke. Mag sein, doch dann ist es auch der fünfte Versuchsband und das „Märchenmoment“ ist, wie Handke schreibt, neben Wasser, Feuer, Luft und Erde „das fünfte, das Zusatz-Element.“

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Peter Handke: Versuch über den Pilznarren. Eine Geschichte für sich.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013.
215 Seiten, 17,95 EUR.
ISBN-13: 9783518423837

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