Diderots Weg zum „Revolutionär“

Über Gianluigi Goggis Studie „De l’Encyclopédie à l’éloquence républicaine. Étude sur Diderot et autour de Diderot“

Von Caroline MannweilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Caroline Mannweiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Studie zu Diderot und rund um Diderot“, so lautet der sehr treffende Untertitel zu Gianluigi Goggis Studie „Von der Encyclopédie zur republikanischen Eloquenz“, in der der italienische Diderot-Spezialist ein textuelles und historisches Panorama aufzeigt, das es erlaubt, Diderots Wendung zum „Revolutionär“ nachzuvollziehen – wobei eine solche Umschreibung wie „Wendung zum Revolutionär“ viel zu grob und vereinfachend ist, als dass sie in Zusammenhang mit Goggis Studie Verwendung finden sollte. Zwar stehen im Zentrum von Goggis Studie in der Tat diejenigen Entwicklungen im Werk Diderots, die eine zunehmend affirmative Haltung zu revolutionären Umstürzen erkennen lassen – Entwicklungen, die ihren vielleicht deutlichsten Ausdruck in Diderots Beteiligung an Raynals „Histoire des deux Indes“ finden, einer als faktenreichen Kolonialgeschichte geplanten Publikation, aus der Diderot „un livre qui fait naître des Brutus“ („ein Buch, das Brutusse hervorbringt“) machte. Doch Goggi begnügt sich keineswegs damit, diese Entwicklungen nachzuzeichnen und durch entsprechende Belege aus Diderots Werk zu illustrieren. Vielmehr stellt er die Originalität und mögliche Beweggründe von Diderots Positionierung heraus, indem er minutiös den Kontext aufarbeitet, in dem sich Diderot bewegt und von dem er sich abgrenzt.

Diesen Kontext bilden dabei in erster Linie Texte, von Hobbes, Locke, Hume, Spinoza, Adam Smith, d’Holbach, Helvétius, Galiani, Voltaire, Rousseau, Raynal, Macchiavelli, Thomas Morus und Lévesque de Pouilly, um die wichtigsten zu nennen. Was in dieser Reihung zusammenhanglos wirken mag, stellt sich dabei in der Studie als sehr plastischer Textkosmos dar, da Goggi nicht nur im Text und in den Fußnoten sorgfältig zitiert, sondern auch nach jedem Kapitel einen Anhang bietet, in dem die Quellen und die darauf Bezug nehmenden Diderot-Passagen einander gegenübergestellt werden. Der Vorteil dieser Vorgehensweise liegt auf der Hand: Goggi überredet seinen Leser nicht, ihm seine Thesen abzunehmen, er bietet ihm vielmehr die Gelegenheit, sich ein Bild zu machen. Dies tut natürlich in gewissem Sinne jede wissenschaftliche Studie, die, da sie ihre Quellen angibt, zumindest „pro forma“ das Prinzip der Nachvollziehbarkeit unterstützt, aber nicht zuletzt einige Fußnoten Goggis machen deutlich, dass es ihm auch um die mit diesen Formalia verbundene Redlichkeit zu tun ist: Nachdem er ausführlich darlegt, wie Diderot sich auf subtile Weise von Voltaire als vorbildlichem Historiker und Philosophen absetzt, indem er dessen „Essais sur les moeurs“ für seine supranationale herrschaftskritische Haltung lobt, die dieser in der von Diderot beschriebenen Form gar nicht enthält, setzt Goggi unter diese Ausführungen eine Fußnote mit einer Passage aus Diderots „Salons von 1767“: „Voltaire fait l’histoire comme les grands statuaires anciens faisaient le buste, comme les peintres savants de nos jours font le portrait. Il agrandit, il exagère, il corrige les formes. A-t-il raison ? A-t-il tort ? Il a tort pour le pédant, il a raison pour l’homme de goût. Tort ou raison, c’est la figure qu’il a peinte qui restera dans la mémoire des hommes à venir.“ („Voltaire macht Geschichte wie die großen Bildhauer der Antike ihre Büsten, wie die gebildeten Maler unserer Zeit ihre Porträts. Er vergrößert, er übertreibt, er korrigiert die Formen. Hat er Recht? Hat er Unrecht? Er hat Unrecht in den Augen des Pedanten, er hat Recht in den Augen des Menschen mit Geschmack. Ob Recht oder Unrecht, es ist die Figur, die er gezeichnet hat, die im Gedächtnis der Nachwelt bleiben wird.“) Mit diesem Zitat widerlegt Goggi nicht das zuvor Gesagte, aber er erweitert das „Bild“, verschweigt nicht die Komplexität, die das Verhältnis zwischen Diderot und Voltaire (nicht nur in der Frage der Geschichtsschreibung) aufweist.

Dass das Gesamtbild, das Goggis Studie zeichnen möchte, bei aller Komplexität vorstellbar bleibt, dafür sorgen seine deutlich umrissenen Grundzüge: Zu diesen gehört der Umschwung, der sich für die an der Encyclopédie beteiligten Philosophen um das Jahr 1759 abzeichnete, als das Unternehmen auf der Kippe stand und der Rückhalt von Seiten der Mächtigen schwand. Goggi sieht hier, wie viele andere Diderotforscher, einen Bruch, der dazu führte, dass die Philosophen zunehmend nicht mehr nur mit der Kirche in Frontstellung traten, sondern auch mit den weltlichen Autoritäten, nachdem das Unternehmen der Encyclopédie zunächst als ein Unternehmen begonnen hatte, das Herrschaft zwar kritisierte, aber eher in „zivilisierender“, denn in „umstürzlerischer“ Absicht. Interessant an Goggis Studie ist nun aber, wie sie diesen Bruch mit dem Erstarken der Rhetorik und der republikanischen Eloquenz bei Diderot verbindet. Zum einen stellt Goggi diese als Folge eines Verlustes dar, denn mit der Krise der Encyclopédie war zugleich das Vertrauen der Philosophen in die „Durchlässigkeit“ ihrer Unternehmung geschwunden, d.h. in die „emanzipatorische“ Kraft der Darstellung von Zusammenhängen. Rhetorik konnte in dieser Situation hilfreich werden, um Botschaften zu vermitteln, zumal, und das ist die zweite Folge des Bruchs und der Enttäuschung über die Machthaber, nicht mehr Herrschende als Adressaten von Aufklärung galten, sondern zumindest prinzipiell „alle“ Menschen. Problematisch ist nun aber, dass zu diesem Zwecke auf republikanische Rhetorik zurückgegriffen wurde, mit der immer auch die Dichotomie Antike-Moderne mitgeführt ist, wobei die Moderne grob gesprochen für ein Paradigma stand, in dem „immer nur von Geld und Handel“ die Rede ist, wie es Rousseau formulierte, und die Antike, der die republikanische Rhetorik entstammt, für eines, in dem Tugend und Moral im Zentrum aller Rede stehen. Dass Diderot, der mit seiner Encyclopédie ein dezidiert modernes, technische Rationalität förderndes Unternehmen eingeleitet hatte, mit seinem Rekurs auf republikanische Eloquenz keine nostalgische Rückkehr zu antiker Tugend und Moral antreten wollte, wie Goggi postuliert, ist unmittelbar plausibel. Noch plausibler wird diese Annahme aber dadurch, dass Goggi es vermag, den Gegenwarts- und letztlich Zukunftsbezug von Diderots Einsatz der republikanischen Eloquenz herauszuarbeiten.

Dazu dient ihm nicht zuletzt die umfassende Darstellung der englischen Verhältnisse, die im Frankreich des 18. Jahrhunderts zentraler Bezugspunkt für Fragen rund um politische Reformen waren. Insbesondere in Diderots emphatischer, den Einsatz für die Freiheit lobenden Unterstützung des königskritischen Whig-Politikers John Wilkes wird der „tagespolitische“ Hintergrund von Diderots Überlegungen zu politischen Revolutionen greifbar. Und wiewohl Diderot keineswegs der einzige Unterstützer Wilkes in Frankreich war, so wird im detaillierten Vergleich der Reaktionen auf Wilkes, die Goggi unternimmt, doch deutlich, wie originell Diderots Position zu politisch revolutionären Tendenzen war. Aufschlussreich ist hier unter anderem der subtile Kontrast zum von Diderot geschätzten Abbé Galiani. Dieser lehnte Wilkes vor allem deshalb ab, weil er in der populären Unterstützung des „Verfolgten“ eine Instrumentalisierung von Menschen wähnte, die letztlich doch nur wieder den Mächtigen in die Hände spielte. Auch die der Instrumentalisierung dienende Rhetorik war dem an rationalen Lösungen interessierten Galiani zuwider. Umschwünge, so meinte dieser, dürften nur allmählich und nie auf direktem, geraden Wege stattfinden.

Anders Diderot: Nach langjährigen Reflexionen kam dieser, wie Goggi nachzeichnet, zu dem Schluss, dass es manchmal vorzuziehen sei, das momentane Übel einer Revolution auf sich zu nehmen, um danach eine lange Periode der Besserung herbeizuführen. Über die Gefahren und Leiden, die ein revolutionärer Umsturz mit sich bringt, war sich Diderot dabei bewusst, aber im Unterschied zu vielen Zeitgenossen und politischen Denkern gelangte Diderot, wie Goggi überzeugend darlegt, zu einer Auffassung, die dem anarchischen Moment, das jede Revolution ausmacht, nicht nur zerstörerische, sondern auch regenerative Qualitäten zusprach. Dies ist insofern originell, als es einer zu Zeiten Diderots topischen Argumentation widersprach, die es für grundsätzlich falsch hielt, einer Bevölkerung die Leiden einer Revolution zuzumuten, von der erst kommende Generationen profitieren würden. Diderot hat diese Bedenken selbst mehrfach geäußert. Doch im gleichen Zitat, in dem er diese Bedenken äußert, bedenkt er auch das englische Beispiel, in dem nicht zuletzt religiöser Fanatismus dazu führte, das Volk zu Veränderungen zu verleiten, die möglicherweise eine Besserung der Verhältnisse bedeuten. Wie unschwer zu erkennen ist, kommt hier auch wieder dem Moment der Rhetorik eine wichtige Rolle zu:  Denn was bei Diderot zum Katalysator für letztlich positive Dynamiken werden kann – der „Enthusiasmus des Fanatismus“ – ist für Galiani, aber auch für die englischen Beobachter Hobbes und später auch für Hume einer der Hauptgründe, solche Bewegungen rundweg abzulehnen.

Gerade die Rezeption Hobbes durch Diderot ist dabei ein gutes Beispiel für Goggis Verfahren. Zunächst geht er auf die positive Bewertung Hobbes durch Diderot im entsprechenden Encyclopédie-Artikel ein, zeichnet dann aber die Veränderung nach, die Diderot in Bezug auf Hobbes durchläuft, und zwar durch die minutiöse Analyse des Medea-Mythos, den Hobbes im „De Cive“ verwendet und den Diderot später, allerdings in veränderter Form, in einem Brief an Wilkes, in der „Réfutation d’Helvétius“, aber auch in der „Histoire des deux Indes“ zitiert. Während Hobbes das Bild der Töchter des Pelias, die diesen, im Glauben ihn zu verjüngen, zerschneiden und kochen, als negatives Abschreckungsszenario zeichnet, das aufzeigen soll, welchen verheerenden Illusionen Menschen unterliegen, die glauben, einen Staat „verändern oder reformieren“ zu können, erhält das Bild bei Diderot eine tendenziell positive Konnotation, sofern es aufzeigt, dass es nötig sein kann, eine Struktur zu zerstören, um sie zu erneuern. Die ausführlichen Zitate, die Goggi zur Stützung seiner These anführt, erlauben es dabei, seine Interpretation nachzuvollziehen und bewahren auch davor, Diderot als enthusiastischen Revolutionär zu lesen. Revolution ist für Diderot eher ein „notwendiges Übel“, wenn ein Staat nicht mehr anders zu verändern ist und findet auch nicht durch einen Geniestreich statt, sondern als langwieriger Prozess. Dass dieser Prozess dabei nicht dadurch zustande kommt, dass Philosophen ihn herbeireden, auch dies erkannte Diderot sehr klar: Nur das Intolerable der Zustände bringe ein Volk dazu, sich aufzulehnen.

Dass Diderot gleichwohl sehr präzise Vorstellungen davon entwickelt, was die Philosophie angesichts der politischen Entwicklungen leisten kann, wird bei der Lektüre Goggis Studie jedoch durchaus deutlich. Und auch, wie Diderot dabei aus dem Vollen der Philosophie zu schöpfen weiß: So weist Goggi nach, wie Diderot im Rückgriff auf Spinoza eine Alternativposition zu Rousseaus und Hobbes Auffassung vom Menschen und dessen Gesellschaftsfähigkeit entwickelt. Zwischen dem Hobbes Position verkürzenden „homo homini lupus“ und dem „bon sauvage“ Rousseaus führt Spinozas, nicht zuletzt auf Hobbes anspielende, Formulierung „homo homini Deus“ Diderot weiter, weil sie ihm erlaubt, die Gesellschaftsfähigkeit des Menschen zu denken, ohne dabei das Primat des „Selbsterhaltungstriebes“ aufgeben zu müssen.

Eine Alternative, die auch insofern für Diderot attraktiv ist, als er sich damit, wie Goggi ausführt, von den englischen Philosophen abgrenzen kann, die neben dem „Egoismus“ eine zweite „angeborene“ Eigenschaft, eine Art ausgleichende Empathie annehmen müssen, um die Gesellschaftsfähigkeit des Menschen zu erklären. Diese im 18. Jahrhundert übliche dualistische Vorstellung, der Diderot in seinem bürgerlichen Drama „Le père de famille“ selbst noch anhing, lehnte Diderot zunehmend ab, weil sie seiner materialistischen, monistischen Philosophie widersprach, der zufolge auch die, von Diderot keineswegs angezweifelten, empathischen Fähigkeiten des Menschen letztlich auf dessen Selbsterhaltungstrieb zurückzuführen waren. Den von Francis Hutcheson und Adam Smith postulierten „Sinn für Moral“, der dem Menschen eigen sei, hält Diderot demnach im „Salon von 1767“ für eine eher im Bereich der Poesie brauchbare Vorstellung, aber für philosophisch nicht haltbar: „Tout est expérimental en nous.“ Es ist also gar nicht nötig, einen Sinn für Moral zu postulieren, es genügt, davon auszugehen, dass Kinder sozial verträgliches Handeln lernen, weil sie sehen, dass dieses Verhalten geschätzt wird – und es ihnen nützt, geschätzt zu werden.

Dass Diderot mit einer solchen Position immer auch die rousseauistische Vorstellung einer Fundierung der Moral im Gewissen einer Person konterkariert, wird in Goggis Studie mehrfach deutlich. Ebenso wie der positivere Bezug zur Soziabilität, der Diderot von Rousseau abhebt und für den der Philosoph, wie Goggi überzeugend darlegt, Unterstützung bei Spinoza erhält, der die Soziabilität als dem Menschen dienlich darstellt, da sie den gemeinsamen Kampf gegen die Bedrohungen der Natur unterstützt. Dass damit noch keineswegs gesagt ist, dass Soziabilität eine uneingeschränkt positive Konnotation bei Diderot erhält, macht Goggi dabei gleich im ersten Kapitel deutlich, in seiner Analyse des „Neveu de Rameau“. Neben den bereits von Starobinski ausführlich beschriebenen Bezügen zu Rousseau und Voltaire, die im „Neveu“ mitzulesen sind, ergänzt Goggi die Bedeutung der „fable of the bees“ Mandevilles für ein Verständnis des Textes. Diese im historischen Kontext Diderots einflussreiche Fabel kann dabei letztlich als Apologie der Ungleichverteilung von Reichtümern gelesen werden, auf dem Umweg einer Argumentation, die die Vorteile von Gesellschaft, Urbanität und Arbeit betont, von denen letztlich jeder profitiere, wobei sogar dem in urbanen Kontexten florierenden „unmoralischen Verhalten“ gesamtgesellschaftlicher Nutzen zugesprochen wird. Nach dem Motto: Wenn jeder treu wäre, was würde aus den Prostituierten…

Dass Diderot diese Haltung ablehnte, weil sie Missstände geradezu zum System erhebt, vermag Goggi in seiner Lektüre des „Neveu de Rameau“, in dem Unmoral und Urbanität eine zentrale Rolle spielen, überzeugend darzulegen. Fast noch wichtiger für den Verlauf der Studie ist aber, dass Goggi gleich in diesem ersten Kapitel auch Diderots Skepsis gegenüber Denkweisen verdeutlicht, die eine Natur des Menschen postulieren, aus der sich dann zwingend gewisse Gesellschaftsmodelle ergeben oder aber verbieten. Diderots Denken ist im Gegensatz dazu ein offenes, „Mischungen“ und Möglichkeiten tolerierendes Denken und damit ein zukunftsfähiges. Nur so ist wohl auch zu erklären, wie der doch eigentlich moderne Diderot die antike Eloquenz in Anschlag zu bringen bereit ist, um Veränderung und damit „Zukunft“ zu ermöglichen. Dass der arme Abbé Raynal die Eloquenz, die Diderot durch seine Beteiligung in die „Histoire des deux Indes“ „einschleuste“, im Nachhinein nicht sehr schätzte und sie zunächst nicht wegen ihrer revolutionären Komponenten, sondern wegen ihrer die Leser unterhaltenden und aktivierenden Funktion „genehmigte“, gehört zu den unzähligen Details und Zusammenhängen, die Goggis Studie zu einer ungemein informativen, dichten und auf jeder Seite faszinierenden Untersuchung machen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Gianluigi Goggi: De l' Encyclopédie à l'éloquence républicaine. Étude sur Diderot et autour de Diderot.
EDITIONS HONORE CHAMPION, Paris 2013.
680 Seiten, 115,00 EUR.
ISBN-13: 9782745324887

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