Was liest die Welt?

Martin Amis und die Lage Englands

Von Carina BergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Carina Berg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Martin Amis polarisiert wie kein anderer zeitgenössischer britischer Schriftsteller die Meinungen des Lesepublikums. Er ist der bad boy der englischen Literaturlandschaft, dessen Werke immer wieder für ihre innovativen Formen und ihre Sprachfeuerwerke gelobt, für ihren oft sehr kruden Satirecharakter und ihre damit verbundene Holzschnittartigkeit oder gar Weltlosigkeit jedoch harsch kritisiert werden. Gerade sein jüngster Roman, „Lionel Asbo. State of England“, erschienen im Sommer des letzten Jahres, scheint dieses Verdikt zu bestätigen. „Lionel Asbo“ ist ein sehr unbequemer Roman, dessen Lektüre, trotz seiner komischen und zuweilen poetischen Elemente, ein Unbehagen hervorruft, das diskussionswürdig ist. Der Untertitel dieses bissig-satirischen Werkes lautet „State of England“ und erhebt somit den Anspruch als sozialkritischer Kommentar zum Zustand Englands verstanden zu werden. Mit diesem Untertitel reiht Amis seinen neuen Roman bewusst in die spezifisch englische Tradition der condition-of-England-novel ein und wagt eine überaus kritische Zeitdiagnose im England der Gegenwart. Mit „Lionel Asbo“ wendet er sich wieder den Schattenseiten der menschlichen Existenz und des menschlichen Zusammenlebens zu; sein mittlerweile 13 Romane und viele Kurzgeschichten umfassendes Erzählwerk zeugt durchgängig von seinem Interesse an kulturellem Niedergang und Verfallsszenarien aller Art.

Der Inhalt von „Lionel Asbo. State of England“ – die deutsche Übersetzung ist für den Herbst 2014 zu erwarten – könnte kaum befremdlicher sein. Der Titelheld, oder vielmehr Antiheld, ist Lionel Asbo, ein bildungsimmuner Krimineller, dessen Strafkarriere bereits im Alter von drei Jahren beginnt, sodass über ihn wegen Sachbeschädigung und Brandstiftung ein „Anti-Social Behaviour Order“, kurz „ASBO“, verhängt wird. Diese einstweilige Verfügung wegen antisozialen Verhaltens, 1998 unter der Labour Regierung von Tony Blair in Kraft getreten, soll eigentlich nicht-strafbare Taten wie beispielsweise Fluchen, Pöbeln und Alkoholkonsum in der Öffentlichkeit eindämmen, doch wird sie von den meisten der Delinquenten, so auch dem Protagonisten, als eine Art Ehrenorden getragen. Lionel geht sogar so weit, offiziell seinen Familiennamen von Pepperdine zu Asbo ändern zu lassen, um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass er der jüngste Bewohner Englands ist, über den ein solcher „Anti-Social Behaviour Order“ verhängt worden ist. Dieses Etikett steht paradigmatisch für seinen gesamten Lebensinhalt: Er ist ein Rowdy, ständig in Schlägereien, Diebstähle, Hehlerei verwickelt und hat wahrscheinlich mehr als die Hälfte seines jungen Lebens in verschiedenen Haftanstalten verbracht. Wie viele von Amis‘ männlichen Protagonisten hat er eine ungesunde Beziehung zur eigenen Sexualität: „You can’t go far wrong with the porn. It’s like prison. You know where you are with the porn“. Von sich selbst sagt er, dass er am haarigsten Ende eines Inkassounternehmens arbeitet („the very hairiest end of debt collection“), was als Euphemismus für seine randalierenden Streifzüge durch den fiktiven Londoner Stadtteil Diston zu lesen ist. Lionel wird zur Berühmtheit, als er den 140 Millionen Pfund schweren Lottojackpot knackt. Doch an seinem eigentlichen Lebensstil ändert sich wenig, außer dass er nun Champagner aus Bierkrügen säuft, anstelle seiner Sozialwohnung in fragwürdigen Luxushotels für drogen- und gewaltaffine Promis logiert und eine dysfunktionale Liebesbeziehung zu einem Boulevard-Sternchen pflegt.

Der eigentliche Held des Romans ist Lionels Neffe Des; seine Mutter, Lionels Schwester, ist tot und sein Vater unbekannt. Lionel hat den Jungen unter seine Fittiche genommen, doch will seine Erziehung – zum Glück – nicht recht fruchten. Des interessiert sich für englische Orthografie und Lyrik, er geht regelmäßig zur Schule anstatt, wie sein Onkel es ihm rät, zu schwänzen und Fenster einzuschlagen. Seine Figur steht in einem krassen Gegensatz zu der alltäglichen sinnlosen Gewalt und Ignoranz, von der der Kosmos des Romans geprägt ist: Des schließt erfolgreich Schule und Universität ab, wird Journalist und gründet eine Familie mit seiner Jugendliebe Dawn. Umso grotesker erscheint sein gewaltiger Fehltritt, mit dem der Roman eröffnet. Der Junge hat eine Affäre mit seiner 39-jährigen Großmutter, Granny Grace, die Des jedoch relativ schnell unterbindet. Diese Episode treibt eine weitere Nebenhandlung, eine Art Racheplot an, da Des die Entdeckung und Bestrafung durch seinen Onkel fürchtet. Schlussendlich entgeht Des der Strafe und Wut Lionels und der Roman endet mit der versöhnlichen Darstellung von Des‘ und Dawns jungem Familienglück.

Wie so viele von Amis‘ Romanen widersetzt sich „Lionel Asbo“ einer genaueren Einordnung beziehungsweise setzt sich über Gattungsgrenzen hinweg. So vereint der Roman Züge von Dystopie, Bildungsroman und Jakobinischem Racheplot. Insgesamt wirkt die Erzählung fragmentiert und inkonsistent, die einzelnen Handlungsstränge greifen nicht recht ineinander. Erst durch Amis‘ satirische Intention fügen sich diese disparaten Elemente zu einem Ganzen.

„Oh England is a pleasant place…“[1]

„Lionel Asbo“ ist in dem fiktiven Londoner Stadtteil Diston angesiedelt; Arbeitslosigkeit, Alkoholismus und Gewalt prägen den Alltag. Der Name erinnert zum einen an den realen Stadtteil Dalston (der jedoch auf Grund aktueller Gentrifizierung eher ein attraktiver Mittelpunkt multikulturellen Zusammenlebens ist als ein sozialer Brennpunkt) und erlaubt – entsprechend der satirischen Absicht – somit eine Übertragung des Romangeschehens in einen real verortbaren Kontext. Zum anderen evoziert die Vorsilbe „Dis-“ Assoziationen zu Negativem. „Dys“ als griechische Vorsilbe bezeichnet Mangel, Abnormität und legt somit eine Deutung des Schauplatzes als dystopischer Ort nahe. In der Tat wird Diston als ein verlorener Ort präsentiert, dessen Bewohner in einem Teufelskreis aus Bildungsmangel, Ignoranz, Aggressivität und Kriminalität gefangen sind – Dantes Beschreibung der Stadt Dis in der unteren Hölle, „[d]ie schaarenweis’ unsel’ge Bürger füllen“[2], scheint nicht weit von Diston entfernt.

Die Figuren, die Amis‘ neuen Roman bevölkern, stammen allesamt aus der sozialen Unterschicht und sind – was natürlich auch der satirischen Schreibweise geschuldet ist – nur schemenhaft dargestellt. Die Welt, die erzählt wird, ist ein überzeichneter und stereotypisierter Ausschnitt einer Gesellschaft, die sich aus Versatzstücken aus sozialen Klischees, Vorurteilen und britischer Populärkultur zusammensetzt. Lionels Mutter Grace ist der Inbegriff der englischen teenage pregnancy; mit 19 hat sie bereits sieben Kinder zur Welt gebracht, ihre Söhne erhalten der Reihe nach die Namen der Beatles: John, Paul, George, Ringo und der ‚vergessene‘ Beatle Stuart. Lionel, der jüngste, wird nach einem bekannten Fernsehmoderator und Stepptänzer der 80er Jahre, Lionel Blair, benannt. Auch die Demographie von Diston ist bemerkenswert. Niemand ist älter als sechzig Jahre („What is she doing still living at 78?“), die Lebenserwartung liegt auf dem Niveau von Benin und Djibouti, die Geburtenrate auf dem von Malawi und Jemen, was die enge Generationenfolge von Grace, 39, Lionel, 21 und Des, 15, erklärt. Lionel und seine kriminellen Kumpanen sind nach dem Stereotyp des britischen „chav“ gestaltet. Der Begriff „chav“ bezeichnet abwertend einen Menschen der bildungsfernen Unterschicht, im Deutschen etwa mit den despektierlichen Begriffen „Assi“ und „Prolo“ oder dem amerikanischen Stereotyp des „white trash“ vergleichbar. So trägt Lionel Asbo stets seine Jogginghose, ein ärmelloses Trainingshemd, hat eine Glatze und eine sehr lückige Zahnreihe, konsumiert Bier, Zigaretten und andere Substanzen in rauen Mengen und finanziert sich durch seine kriminellen Aktivitäten. Seine zwei Pitbulls, Joe und Jeff (später ersetzt durch Joel und Jon, Jak und Jek), sind seine ständigen Begleiter – statt zu bellen, blaffen sie regelmäßig Variationen des Wortes „Fuck“ – und werden zur Abhärtung mit Currys, rohem Fleisch, Tabasco und Starkbier gefüttert.

Die Motivation, die der Darstellung dieses überspitzt klischeehaften Gesellschaftsausschnitts zu Grunde liegt, ist eine, die sich durch das Gesamtwerk von Martin Amis zieht. Seine Romane sind in erster Linie Gesellschafts- und Zeitsatiren, die durch krude Überzeichnung versuchen, gesellschaftliche Tendenzen zur Schau und somit auch zur Diskussion zu stellen. Amis‘ Erzählwerk zeigt eine große Bandbreite an behandelten Gegenständen – vom narzisstischen Selbstporträt („The Rachel Papers“, 1973), über eine beißende Satire der Konsumkultur der 80er („Money. A Suicide Note“, 1984), Verarbeitungen von Ängsten der atomaren Bedrohung („Einstein’s Monsters“, 1987; „London Fields“ 1989), bis hin zu einer formal innovativen Darstellung der Gräuel des Holocaust („Time’s Arrow. Or, the Nature of the Offense“, 1991). Und dennoch lässt sich trotz dieser disparat wirkenden Einzelwerke fragen, ob Martin Amis nicht nur ein einziges Thema kennt, und zwar das des kulturellen Niedergangs und Verfalls. Immer wieder wendet er sich vor allem London und seinen Sozialstrukturen zu („London Trilogy“: „Money“, „London Fields“, „The Information“). Die Beschäftigung mit der Hauptstadt des Königreichs scheint stellvertretend für eine Diagnose für das gesamte Land zu stehen, da in den konkreten Verfallsszenarien mehr oder weniger unterschwellig spezifisch englische Topoi wie Verlust der Hegemonialrolle, Spätfolgen des Imperialismus und Kolonialismus oder Klassenstrukturen verarbeitet werden. Dabei ist Amis ein unerbittlicher Satiriker, der nie vor der Darstellung des Widerwärtigen, des Schockierenden und Anstößigen zurückschreckt. Seine Figuren wirken meist verloren und entfremdet, selten gibt es echte zwischenmenschliche Interaktion und Wärme, sodass die Sehnsucht nach Unschuld in seinen Satiren nur selten aufblitzt. Charaktere wie Charles Highway („The Rachel Papers“), John Self („Money“) oder aber Lionel Asbo sind abstoßende und bemitleidenswerte Figuren zugleich, von denen jeder als ein spezifisches Symptom einer Gesellschaft gelesen werden kann, die aus den Fugen geraten ist. Sie sind getriebene, passive Typen, die nach den Regeln einer Welt handeln, die sie nicht durchschauen: Charles geht auf Grund seines hochgradigen Narzissmus jegliche Möglichkeit sozialen Miteinanders ab; John lebt in einer Welt des kapitalistischen Exzesses, in der Geld zur Ersatzreligion geworden ist und Lionel ist in einer Spirale von Unbildung, Arbeitslosigkeit und Gewalt gefangen.

Amis’ Anliegen ist dabei immer ein offensichtlich politisches; er scheut sich nicht davor, Anstoß zu nehmen und soziale Schieflagen aufzuzeigen. Gleichwohl bringt es die Form der Satire mit sich, dass es den Charakteren an Tiefe und den Romanen insgesamt oft an Welthaltigkeit mangelt und es fraglich wird, inwieweit eine solche kritische Intention überhaupt fruchtbar gemacht werden kann, wenn sie Klischees und Stereotype fort- und festzuschreiben scheint. Sicherlich speist sich das satirische Potential des Textes auch aus der Typenhaftigkeit seines Personals: Des wir umso deutlicher als Held der Geschichte zu erkennen als er sich von der Einfältigkeit und Bösartigkeit seines Onkels und Gegenspielers Lionel absetzt. Amis nutzt in diesem Zusammenhang verschiedene Sprachregister, um den geistigen Horizont der beiden Protagonisten zu skizzieren. So setzt sich Des bewusst mit englischen Sprache auseinander – Granny Grace schenkt ihm ein Wörterbuch, das sie als Preis bei einem Kreuzworträtsel gewonnen hat – und sein anfänglich fehlerhaftes Englisch entwickelt sich zu einem respektablen Standard English. Ganz anders Lionel: Ihm gelingt es nicht einmal, seinen eigenen Namen korrekt auszusprechen, geschweige denn Sätze zu bilden, die über eine Verbindung von Subjekt und Prädikat hinausgehen oder korrekt deklinierte Pronomina enthalten. Seinen Namen spricht er „Loyonel“ oder „Loyonoo“, das „th“ verkommt zu einem F-Laut („miff“ statt „myth) und Possessivpronomen sind in seiner Rede nur selten gesehene Gäste („Joe and Jeff – they not pets […]. They tools of me trade.“). Diese exponierte Art der Darstellung des Dialekts, der stark an das Londoner Cockney angelehnt ist, verliert sehr schnell ihre komischen Effekte. Ständig wird Lionels Englisch von der Erzählstimme vorgeführt und korrigiert. Diese Stimme bleibt zwar anonym, doch deutet eine gehobene, zuweilen poetische Sprache an, dass Erzähler und „Loyonoo“ aus zwei grundverschiedenen Welten kommen. Zwischen Erzähler und Anti-Held klafft ein tiefer Abgrund. Es ist diese überlegene, stets deutende und spöttelnde Stimme, die den Anti-Helden unter seiner satirischen Funktion kollabieren lässt und deutlich macht, dass das Personal des Romans zwar der lower class entnommen, aber in einem Gestus der Überlegenheit dargestellt ist.

Dennoch enthält „Lionel Asbo“ relevante Ansätze einer Sozialkritik und löst – zumindest in Teilen – den im Untertitel versprochenen Kommentar zur Lage Englands ein. Die thematische Konzentration des Romans auf Vulgarität und zweifelhaften Medienruhm karikiert die englische Boulevardlandschaft und deren Besessenheit mit Promikult und Oberflächlichkeit. Sowohl Lionel als auch Des lesen die „Diston Gazette“ und „Morning Lark“, die stellvertretend für die allgegenwärtige Masse der britischen Boulevardzeitungen wie etwa „The Sun“, „Daily Mirror“, „Daily Star“ etc. stehen und betrachten diese Zeitungen als eine akkurate Wiedergabe ihrer Realität. Nachdem Lionel jedoch im Lotto gewonnen hat und von Boulevardjournalisten belagert wird, erfährt er am eigenen Leibe, wie sehr reißerische Darstellungen in solchen Blättern von seiner eigenen Lebensrealität divergieren. Lionel wird zu einer Boulevardberühmtheit und erhält den Beinamen „Lotto Lout“ (etwa: Lotto Rüpel). Seine Beziehung zu dem Oben-ohne-Model „Threnody“ – sie legt größten Wert auf die Anführungszeichen, die ihren Name einrahmen – wird von der Presse mit größter Sensationsgier verfolgt. Lionel und „Threnody“ gehören zu jenen Figuren des öffentlichen Lebens, die ohne jegliche Qualifikationen oder Verdienste Berühmtheit erlangen; diesen Promikult sieht Amis in diesem Ausmaß als ein spezifisch englisches Phänomen. Lionel ist das Produkt einer Medienkultur, die sich aus einem Fetisch für das Triviale und Oberflächliche speist und in die er selbst keine Einsicht hat.

„Lionel Asbo“ und die condition-of-England question

Gewiss hat Amis mit „Lionel Asbo“ einen – satirisch überzeichneten – Ausschnitt der englischen Gesellschaft eingefangen, den es kritisch zu hinterfragen gilt. Ob dieses Projekt jedoch den Untertitel „State of England“ verdient hat, bleibt fragwürdig. Amis ist kein Freund der Bescheidenheit und so prangt der literaturhistorisch sehr gewichtige Untertitel „State of England“ auf seinem neuen Roman. Mit Thomas Carlyles gesellschaftskritischen Analysen „Past and Present“ („Vergangenheit und Gegenwart“) aus dem Jahre 1843 ist der Begriff der condition-of-England question, der Frage nach der Lage Englands, zum geflügelten Begriff in Politik und Literatur geworden. Carlyle schreibt gegen die Missstände der Industriellen Revolution an und fragt sich, warum in seinem Land ein solches soziales Ungleichgewicht herrscht. Dabei kennzeichnet er die Lage Englands „als eine der bedrohlichsten und zugleich der seltsamsten, die man jemals in der Welt gesehen. England ist voll von Reichtum und von den mannigfaltigen Erzeugnissen zur Befriedigung aller nur denkbaren menschlichen Bedürfnisse, und dennoch geht England an Entkräftung zu Grunde.“[3] Dieser Frage gehen im 19. Jahrhundert eine Reihe von Autoren wie Benjamin Disreali, Elizabeth Gaskell und Charles Dickens nach und verstehen ihre realistischen Romane als soziales Korrektiv. Amis verortet sich selbst explizit in dieser Tradition des social realism. In seiner bisher nicht ins Deutsche übertragenen Essaysammlung „The War Against Cliché“ (2000) findet sich in einer Rezension zu Angus Wilson auch eine programmatische Standortbestimmung von Amis selbst. Er schreibt: „The contexts, the great forms of the eighteenth- and nineteenth century sagas, have been exhausted; realism and experimentation have come and gone without seeming to point to a way ahead. The contemporary writer, therefore, must combine these veins, calling on the strengths of the Victorian novel together with the alienations of post-modernism.”[4] Amis spricht sich für eine Fusion von Viktorianischen und postmodernen Formen aus; realistische Kontexte sollen mit der postmodernen Erfahrung der Entfremdung gekoppelt werden. Fraglich bleibt, inwieweit Martin Amis mit „Lionel Asbo“ dieser Programmatik gerecht wird. Dass die Form realistischen Erzählens im Stile des 19. Jahrhundert ausgeschöpft ist, ist ein Gemeinplatz. Die Stärke des Viktorianischen Romans ist für Amis ohne Zweifel die durch ihn transportierte Sozialkritik, die bisweilen auch ihre ironisch-satirischen Seiten hat. Diese Form der Kritik ist für ihn untrennbar mit der Idee der Form und des Stils verbunden, ja sind sogar eins: „style is morality“[5]. Für sein formal innovativstes Werk „Times Arrow. Or, the Nature of the Offense“ („Pfeil der Zeit“) mag dieses Credo Gültigkeit haben; der Roman erzählt die Gräuel des Holocaust rückwärts und diese umgekehrte Chronologie sperrt sich auf formaler Ebene mit ihren grotesken Darstellungen gegen jedes logische Verständnis wie sich der Holocaust auf inhaltlicher Eben einem solchen entzieht. Vor dem Hintergrund von „Lionel Asbo“ wird die Analogie von Stil und Moral jedoch schwierig, da vor allem die holzschnittartige Figur Lionels von einem eloquenten Erzähler regelrecht vorgeführt wird. Die Effekte, die die Kollision von solch zwei unterschiedlichen Stimmen mit sich bringt, sind zwar komisch bis aberwitzig, doch ist das Lachen über Lionel Asbo kein unschuldiges, sondern geht auf Kosten seiner mangelnden Einsicht in die sozialen Zusammenhänge, in denen er lebt. Zwar bleibt das politische Anliegen der Satire nachvollziehbar, doch kippt sie schnell in eine Art literarische Stereotypisierung und Stigmatisierung über. Und gerade dieser Tatsache sollte sich Amis als scharfsinniger Kritiker bewusst sein. Im Vorwort zu seiner Essaysammlung „The War Against Cliché“ schreibt er: „To idealize: all writing is a campaign against cliché. Not just clichés of the pen but clichés of the mind and clichés of the heart“[6]. Leider scheint er in „Lionel Asbo“ genau diese Kampagne nicht zu beherzigen.

Martin Amis hat für seinen neuen Roman sehr gemischte Kritiken erhalten, und auch das Lob, das er für „Lionel Asbo“ bekommen hat, scheint ein schwacher Abglanz des Lobes seiner früheren Werke. In England hat man es ihm übel genommen, dass die Publikation dieser Satire mit seiner Entscheidung koinzidiert, sein Heimatland zu verlassen und nach Brooklyn zu ziehen. Ob der Umzug nach Amerika nun mit einer persönlichen Unzufriedenheit in oder mit dem Heimatland zusammenhängt oder nicht; die Reaktionen der englischen Presse sind bezeichnend, weil sie aus Amis‘ Perspektive geradezu als Bestätigung seiner Kritik gelesen werden können. Seine Werke sind als Satiren dazu angelegt, starke Reaktionen und Meinungen hervorzurufen; kein anderer britischer Autor spaltet so sehr die Meinungen des Publikums. Dass Amis ein brillanter Stilist ist, steht außer Frage. Dass er ein akutes historisches Bewusstsein hat und sich nun schon seit über vier Dekaden Angst- und Niedergangsszenarien der westlichen und insbesondere englischen Gesellschaftsstrukturen widmet, davon zeugt sein umfangreiches Oeuvre. Über die Qualität und Intention von Amis‘ Werken ist man sich jedoch nie recht einig geworden und wird es wohl auch nie werden, da sein stilistischer und formaler Anspruch oft – und gerade im Falle seines neuen Romans – von der thematischen Umsetzung weit entfernt scheint. Vielleicht ist diese ambivalente Rezeption gerade das Berufsrisiko eines Satirikers, der hart mit seinem Heimatland ins Gericht geht und durch seine Schreibweise starke Reaktionen provoziert.

Literaturhinweise:

Martin Amis: The War Against Cliché. Essays and Reviews 1971-2000.
Jonathan Cape, London 2001
506 Seiten, 20£

Martin Amis: Experience
Jonathan Cape, London, 2000
401 Seiten, 18£

[1] Charles Kingsley: „The Last Buccaneer“. In: The Works of Charles Kinglsey. Bd. 4: Yeast. Poems. Philadelphia 1899. S. 322.

[2] Dante Alighieri: Göttliche Komödie. Übers. von Karl Streckfuß. Hg. mit berichtigter Uebertr. u. völlig umgearb. Erkl. von Rudolf Pfleiderer. Leipzig 1876. S. 48.

[3] Thomas Carlyle: Vergangenheit und Gegenwart. Übers. von Thomas U. Fischer. Leipzig 1903. S. 1.

[4] Martin Amis: The War Against Cliché. Essays and Review 1971-2000. London 2000. S. 79.

[5] Martin Amis: Experience. London 2000. S. 121.

[6] Martin Amis: The War Against Cliché. S. XV.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Martin Amis: Lionel Asbo. State of England.
Jonathan Cape Ltd, London 2012.
276 Seiten, 13,95 EUR.
ISBN-13: 9780224096218

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