Naturlesefreuden

Barthold Hinrich Brockes’ Lehr- und Preisgedicht „Irdisches Vergnügen in Gott“ erscheint in der Wallstein-Werkausgabe mit den ersten beiden Bänden

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das „Irdische Vergnügen in Gott“ gilt als die längste Gedichtsammlung der deutschen Literatur und war nach heutigen Maßstäben ein Bestseller. Die neun Teile erschienen von 1721 bis 1748 und erlebten noch zu Lebzeiten der Verfassers, des Hamburger Ratsherren, Diplomaten und Sammlers niederländischer Malerei Barthold Hinrich Brockes (1680-1747), mehrere Auflagen. Innerhalb der Werkausgabe des Wallstein Verlags sind nun der erste und der zweite Teil der Lyriksammlung erschienen. Sie dokumentieren den maßgeblichen Beitrag der Frühaufklärung zum neuzeitlichen Naturverständnis und lassen sich – was vielleicht eine kleine Überraschung ist – in dieser Ausgabe auf erstaunlich moderne Weise lesen.

Im November 1725 musste sich Brockes einer heiklen Zahnbehandlung unterziehen, ohne die Linderungen der Anästhesie. Die Motivation klingt vernünftig. „Um grössre Schmerzen zu vermeiden, / Entschloß ich mich, daß mir ein Zahn, / Der mir bishero weh gethan, / Würd’ ausgebrochen, zu erleiden“. Der Stadtphysikus Peter Carpser, ein Freimaurer, und sein Patient hielten sich „am Anfang beyde gut“. Doch dann wird es schmerzhaft, durch die „a“-Reimlaute untermalt; auch die kleinteilige Syntax vollzieht die Prozedur mit. „Er brach; ich hielte fest, noch fester doch der Zahn, / Er knackt’, ich wiche nicht. Doch endlich war mein Muth / Noch eher, als der Zahn, gebrochen.“ Mit „grässliche[m] Gekrach“ wird die Extraktion schließlich beendet. Wenig später, der Dichter ist ins Präsens gewechselt, besieht er sich die Anatomie des „nunmehr losen Zahn[s]“ und kommt angesichts der „Festigkeit“ der Krone, „der Wurzeln Stärk und Grösse“, des Zusammenhangs von Haut, Sehnen und Knochen aus dem Staunen nicht heraus. Der Zahn als eines der „Wunder-Werke“ der menschlichen Natur, das sich der geneigte Leser gar nicht oft genug zum Ruhme des Schöpfers vorstellen kann: Dieser Anblick verschmerzt den Zahnarztbesuch und verewigt das betrachtete Kunststück der Schöpfung, das immer auch eines der Sprache ist.

Brockes’ Gedicht „Der Zahn“ steht inmitten der Herbstgedichte des zweiten Teils. Es ist ein Beispiel jener detailfreudigen Beobachtung und findigen Beschreibung von unspektakulären Naturphänomenen, Pflanzen, Gewässern, Mineralien, Tieren, Jahreszeiten, die dazu geführt haben, in Brockes den „ersten Impressionisten deutscher Sprache“ (Eckart Kleßmann) zu sehen. Brockes’ Gedichte stehen in der Tradition der antiken Schöpfungsgedichte und im Dienste der Rhetorik; manchmal bedienen sie sich der Mittel von Mikroskop und Teleskop. Insofern ist Brockes’ Gotteslob naturwissenschaftlich fundiert. Die Idee, eine „Spur / Von Gottes Gegenwart in seiner Creatur“ zu entdecken, dient dem physikotheologischen Gottesbeweis ebenso wie dem rationalistischen, später durch das Erdbeben von Lissabon erschütterten Bild von der bestmöglichen Welt. Nichtbeachtung der Schönheit dieser von Gott für den Menschen gemachten Schöpfung würde eine Verachtung der Kreatur bedeuten, die Brockes in seinem Gedicht „Zu viel und zu wenig.“ mit Berufung auf die Bibel „Atheismus“ nennt.

Die von Jürgen Rathje betreute Ausgabe folgt im Ersten Teil des „Irdischen Vergnügen[s]“ der siebten Auflage von 1744 (der als Druckvorlage dienende Oktavband befindet sich in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel) und im Zweiten Teil der vierten Auflage von 1739 (hier stammt die Druckvorlage aus der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg). Die Gedichte werden vollständig und in unveränderter Reihenfolge wiedergegeben. Die Vorreden Weichmanns fehlen allerdings ohne Angabe von Gründen (vielleicht aufgrund der wechselnden Herausgeber in den diversen Auflagen). Dafür enthält der editorische Anhang Lesarten und hilfreiche Erläuterungen. Die Bände sind drucktechnisch und editionsphilologisch anspruchsvoll gemacht, eine willkommene Einladung an den Leser, in diesem frühen „Weltbuch“ der Natur zu lesen, ohne das es die moderne Naturlyrik Sarah Kirschs oder Peter Rühmkorfs nicht geben würde.

Titelbild

Barthold Heinrich Brockes: Irdisches Vergnügen in Gott. Erster und zweiter Teil.
Herausgegeben von Jürgen Rathje.
Wallstein Verlag, Göttingen 2013.
1478 Seiten, 89,00 EUR.
ISBN-13: 9783835311923

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