Großbritanniens Booker Prize

Die diesjährige Shortlist und was sie über kulturelle und literarische Tendenzen der britischen Gegenwartsliteratur auszusagen vermag

Von Regina RoßbachRSS-Newsfeed neuer Artikel von Regina Roßbach

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Irgendwo in Simbabwe, in einer Barackensiedlung mit dem ironischen Namen „Paradise“, spielen Darling und ihre Freunde im Matsch, der gerade noch feucht genug ist, um die Spielfelder für das ‚country-game‘ darin einritzen zu können. Bevor das Renn- und Fangspiel beginnen kann, legen sie fest, wer welches Länderfeld besetzen darf. Gefragt sind die USA, Großbritannien, Kanada, Australien, die Schweiz, Frankreich, Italien, Schweden, Deutschland, Russland oder Griechenland. „These are the country-countries. If you lose the fight, then you just have to settle for countries like Dubai and South Africa and Botswana and Tansania and them. They are not country-countries, but at least life is better than here. Nobody wants to be rags of countries like Congo, like Somalia, like Iraq, like Sudan, like Haiti, like Sri Lanka, and not even this one we live in – who wants to be a terrible place of hunger and things falling apart?”   

Die Kinder in Noviolet Bulawayos Roman „We need new names”, einem der sechs Titel der diesjährigen Booker Preis-Shortlist, sind alles andere als naiv. Ihr Verständnis von der globalen Mächtehierarchie ist so zutreffend wie gnadenlos ehrlich.

Der Booker Preis, seine Organisation und Funktion, wird selbst immer wieder als Spiegel solcher postimperialistischer Rangordnungen in Betracht gezogen. Seit 1969 wird er jährlich für den besten englischsprachigen Roman verliehen, der in dem jeweiligen Jahr in einem britischen Verlag erschienen ist und dessen Autor aus dem Commonwealth oder seinen ehemaligen Mitgliedsstaaten stammen muss. Ursprünglich war er eine Initiative von Booker PLC, einem weltweit agierenden Großhandelsunternehmen, das im 19. Jahrhundert durch seine Investitionen in der Zuckerindustrie von British Guyana selbst an der Ausbeutung der Kolonien beteiligt war. Die Kursänderung ist mit dem Namen Jock Campbell verbunden, der das Unternehmen zwischen 1952 und 1967 leitete und sich für Wiedergutmachung und faire Arbeitsbedingungen auf den Zuckerplantagen einsetzte. Er war es auch, der sich für das Engagement des Konzerns im Bereich Kulturförderung und die Etablierung eines Literaturpreises stark machte. Die ehemals koloniale Struktur des Commonwealth bildete also von Anfang an einen notwendigen Kontext für den Preis.[1] Er ist auch dazu gedacht, die kulturelle Vielfalt des Commonwealth abzubilden, kreative Auseinandersetzungen mit seiner Geschichte zu fördern und literarische Kommunikation zwischen beziehungsweise Identitätssuche innerhalb der Mitgliedsländer voranzubringen.

Kritik daran, dass die Entscheidung dennoch zentralistisch in London getroffen und auch die Verleihungszeremonie dort veranstaltet wird, ist oft wiederholt worden. Auch hat man ihn als einen Preis kritisiert, der in hohem Maß die Anforderungen des Literaturbetriebs und die Konsumgewohnheiten der Industrieländer repräsentiert und bestätigt. Er fördere eine Literatur, die diesen Anforderungen entspreche und in Sprache, Bildern und Stilen nur das reproduziere, was als stereotypes Repertoire im Erwartungshorizont des Massenpublikums bereits vorhanden ist. Diese Diskussion hat sich durch die in diesem Jahr bekannt gegebene Entscheidung, in Zukunft alle englischsprachigen Romane – ohne die Bindung an den Commonwealth – einzubeziehen, noch verschärft. Von Jonathan Taylor, Präsident der Booker Prize Foundation, hieß es am 18. September: „We are embracing the freedom of English in its versatility, in its vigour, in its vitality and in its glory wherever it may be. We are abandoning the constraints of geography and national boundaries.”[2] Also eine Antwort auf die generell fortschreitende Globalisierung. Aber handelt es sich dabei um eine Entscheidung, die der literarischen Entwicklung zugutekommt? Oder ist es nicht vielmehr eine Konzession an wirtschaftliche, vielleicht auch sprachliche Prozesse, denen ein Förderpreis viel eher entgegenwirken sollte? Der Literaturpreis ist schließlich ein steuerbares „Instrument der Kulturpolitik“: „Wer einen Preis stiftet, will meist etwas. Er will etwas bekanntmachen, ins Licht rücken, auszeichnen. […] Jeder Preis setzt Akzente, schafft eine Solidargemeinde oder eine Ablehnungsfront, strahlt aus, findet Zustimmung oder erregt Widerspruch – falls er nicht, was auch vorkommt, die mit Preisen übersättigte Öffentlichkeit gänzlich kalt läßt.“[3]

Die Sorge, dass durch die Änderung der Statuten der im Vergleich zur amerikanischen ohnehin ungleich weniger gelesenen Literatur aus den Ländern des Commonwealth in Zukunft noch weniger Aufmerksamkeit gelten wird, ist sicher nicht unberechtigt.

Weltreise: Die Internationalen

In nur einem der sechs Romane der diesjährigen Finalisten ist England der Schauplatz. Vier der anderen handeln zudem von Auswanderern, Sprach- und Kulturwechslern und befassen sich auf die ein oder andere Weise mit kulturellen Differenzen zwischen ‚Heimat‘ und ‚Fremde‘. Das Figurenpersonal deckt förmlich die Weltkarte ab: Indien, Simbabwe, Neuseeland, Japan, die USA und Israel, um nur die prominent behandelten zu nennen. Wie augenscheinlich die Romane selbst ihre Orientierung am Massenmarkt herausstellen, lässt sich schon daran erkennen, dass Darling, das afrikanische Mädchen aus „We need new names“ ebenso wie Subhash, der bengalische Junge in „The Lowland“ in die USA emigrieren, während Nao, die japanische Erzählerin in „A Tale for the Time Being“ nach einer glücklich in den USA verbrachten Kindheit wieder nach Japan zurückkehrt. Die Frage ist also nicht, ob sich die Autoren mit Globalisierungsprozessen beschäftigen, sondern vielmehr wie. Und hier sind die Unterschiede markant: Von prekär über populär bis differenziert.

„Prekär“ mag eine starke Wertung sein – auf das Japan-Bild in „A tale for the time being“ trifft das Urteil leider zu. Die japanischstämmige kanadische Autorin Ruth – die Verbindung zu Ruth Ozeki selbst liegt nahe – findet am Strand eine in eine Tüte gewickelte Hello Kitty-Dose, die offensichtlich von jener Tsunami-Welle angespült worden ist, die im Jahr 2011 unter anderem die Katastrophe von Fukushima verursacht hat. Es ist das Tagebuch der Teenagerin Nao, niedergeschrieben in einem in den Umschlag von Prousts Recherche eingebunden Notizbuch: „Hi! My name is Nao, and I am a time being. Do you know what a time being is? Well, if you give me a moment, I will tell you.” Nao spricht ihren Leser direkt an. Der angeschlagene Ton des altklugen Erklärens zieht sich durch ihre Aufzeichnungen. Die Figur scheint dazu angelegt, den Leser zu belehren – im permanenten Bewusstsein, dass dieser weder des Japanischen mächtig ist, noch die japanische Kultur kennt. Japanische Begriffe bleiben in der Originalsprache stehen und werden in Fußnoten oder von Nao selbst erklärt. Sie berichtet auch von Origami, Tatami, Sushi und Co. sowie von den Selbstmordversuchen ihres Vaters und ihrer Urgroßmutter Jiko, die als buddhistische Nonne in einem Tempel lebt, der nur über Tausende von Stufen erklommen werden kann. Wie aus einem Zen-Ratgeber mutet Naos Erklärung der Meditationsmethode „Zazen“ an – mit der Aufforderung, es selbst einmal auszuprobieren und die eigene „superpower“ zu entdecken. Das Klischee Japans könnte vollständiger kaum sein. Noch dazu hat der Verlag ein interaktives Bild auf das Cover gedruckt, das man per Handy animieren kann, um Meeresrauschen, Möwengeschrei und der sanften Stimme Naos lauschen zu können. Die Anlage des Romans als ein Gespräch zwischen Nao und Ruth und damit zwischen Japan und Kanada scheitert schon daran, dass Nao selbst eine durch und durch amerikanische Jugendliche ist. Japan erweist sich für ein Mädchen, das zur Freiheitsliebe, Individualität und zum Konsum erzogen worden ist, als die unterlegene Kultur: „Compared with that, furiitaa [Freiberufler, d.V.] probably sounds pretty great, but it isn’t. Japan isn’t a great place to be a free anything, because free just means all alone and out of it.“ Ein in solcher Weise für den westlichen Leser aufbereitetes Konstrukt des „Japanischen“ wirkt im Ganzen unglaubwürdig und unreflektiert.

In Jhumpa Lahiris Roman ist die titelgebende bengalische Region „The Lowland“ in der Nähe Kalkuttas schon differenzierter gestaltet. Für Subhash, der als Kind mit seinem Bruder Udayan die Gegend durchstreift, wird die Herkunft lebensbestimmend sein. Trotz der Unabhängigkeit Bengalens seit 1947 bleibt die Wirtschaft bis in die sechziger Jahre, während derer die Erzählung einsetzt, feudal organisiert; die in der Kolonialzeit geprägte Zweiklassengesellschaft bestimmt noch immer das Unterlegenheitsgefühl der indischen Bevölkerung. Im Roman repräsentiert der örtliche Golfclub das Ungleichgewicht zwischen Besitzenden und arbeitender Bevölkerung und die Omnipräsenz der inmitten der Gesellschaft verlaufenden Grenzen: „From time to time, Bismillah had said, there was a birthday party for the child of a British family still living in India, with ice cream and pony rides, a cake in which candles burned. Though Nehru was Prime Minister, it was the new Queen of England, Elizabeth II, whose portrait presided in the main drawing room.” Die durch diesen Boden genährte Wut macht sich 1967 Luft: Es kommt zu bewaffneten Bauernaufständen, organisiert durch die kommunistische Gruppierung der Naxaliten. Die Polizei schlägt sie nieder und verfolgt die von da an im Untergrund agierenden Aktivisten mit autoritärer Strenge und Gewalt. Ohne Subhashs Wissen wird sein Bruder Udayan Teil des Netzwerks. Die Entscheidungen Subhashs – sein Studium in den USA fortzusetzen etwa – haben immer auch mit der Mischung aus Konkurrenz und tiefer Verbundenheit zu seinem Bruder zu tun. Als er erfährt, dass Udayan vor den Augen seiner Familie von der Polizei erschossen worden ist, verändert das für ihn alles. Die psychologisch fein gestaltete Geschwisterbeziehung und die historischen Bedingungen Bengalens bestimmen Subhashs Persönlichkeit und Beziehungen in einer Weise, die ihn unbewusst Erlebnisse wiederholen und Beziehungen kopieren lässt: Wie die Lebenslinien im Muster seiner Handfläche wurden sie ihm schon im Kindesalter eingeschrieben. Das neue Leben in Rhode Island ist nur eine Folie, vor der sich seine besondere Vergangenheit umso deutlicher abzeichnen kann. Die in England geborene Autorin Jhumpa Lahiri wirkt in Interviews so elegant wie ihr Schreibstil. Sie ist Pulitzer-Preisträgerin und Mitglied des amerikanischen PEN-Clubs; ihr Roman „The Namesake“ ist aufwendig in Hollywood verfilmt worden. Auch „The Lowland“ böte sich hierfür an: Figurenpsychologie und Handlung folgen der beliebten Mischung aus Sentimentalität und Schlichtheit, die schon Hosseinis „The Kite Runner“ und Swarups „Q and A“ (als „Slumdog Millionaire“ verfilmt)  zu Welterfolgen gemacht haben. Lahiri ist eine souveräne Erzählerin, aber auch sie liefert ein genüsslich konsumierbares, global funktionierendes Buch, das dem Leser keinerlei Verstehenshindernisse entgegenstellt. Wie Ozekis Roman wäre auch dieser ein treffendes Beispiel für Richard Todd, der die wachsende Bedeutung des Booker-Preises für den britischen Buchmarkt mit der immer stärker an Konsumbedürfnissen orientierten Entwicklung der gesamten Literaturlandschaft in Verbindung gebracht hat: „What follows is my attempt to explain how this conviction has been arrived at in the assumption that consumerism now actively strives, as never before, to be part of Britain’s cultural life.“[4]

Noviolet Bulawayos eingangs zitierter Roman „We need new names“ dagegen wagt sich auf wirklich neues Terrain. Es mag damit zusammenhängen, dass die Autorin bis zu ihrem 18. Lebensjahr in Simbabwe gelebt hat: Ihr Blick ist der einer Afrikanerin. Die Kindheit Darlings zwischen ihren Freunden ist von den Problemen der armen afrikanischen Bevölkerung zwar ebenfalls in fast klischeehafter Weise bestimmt – ihr Vater kommt nach langer Zeit AIDS-krank aus Südafrika zurück, ihre elfjährige Freundin Chipo wurde von ihrem Großvater geschwängert, die Kinder sind ausgehungert und verwahrlost – doch Bulawayo findet für all das im wörtlichen Sinn „new names“: eine gänzlich neue Sprache. Es ist die Sprache kindlicher Ehrlichkeit. Mit staunenden Augen betrachtet Darling ihre Umwelt und immer wieder belächelt sie die Menschen, die diese Umwelt nicht verstehen oder nicht wahrhaben wollen; also auch uns als Leser. Sie und ihre Freunde verstehen sehr gut, wie sie sich verhalten müssen, wenn der NGO-Van kommt. Bereitwillig grinsen sie „Cheeeese“ in die Kameras und wissen, dass sie diesen Preis zahlen müssen, um die – häufig enttäuschenden – Geschenkpäckchen der Hilfsorganisationen abzustauben. Sie achten darauf, die Helfer nicht zu berühren, denn das wollen die nicht. Einer Engländerin, der die Truppe auf der Suche nach Guavenbäumen begegnet und die neugierig und mitleidig auf sie reagiert, rufen die Kinder Beleidigungen nach: „We shout and we shout and we shout; we want to eat the thing she was eating, we want to hear our voices soar, we want our hunger to go away. The woman just looks at us puzzled, like she has never heard anybody shout, and then quickly hurries back into the house […].“ Durch Darlings Augen wird die Lächerlichkeit unseres Afrikabildes erkennbar. Auch als ihr großer Traum wahr wird und ihre Tante Fostalina sie nach „Destroyedmichigan” holt, behält sie ihre Bodenständigkeit. Witzig berichtet sie von ihrer Enttäuschung: „Had it been that somebody had taken me aside and explained the cold and its story properly, I just don’t know what I would have done, if I would really have gotten in that plane to come.“ Sie staunt über die Fettleibigkeit der Amerikaner und sehnt sich nach ihren Freunden. Doch da sie weiß, dass zuhause nichts mehr so ist, wie es einmal war und da immerhin bei ihrer Tante der Kühlschrank gefüllt ist, wird sie wohl in diesem komischen Land bleiben. Am Ende scheint sie selbst eine mitleiderfüllte, aufgeblasene Amerikanerin geworden zu sein. „I know it’s bad, Chipo, I’m so sorry. It pains me to think about it, I say. What is so bad? Why are you feeling pain? she says. What they have done to our country. All the suffering, I say. Well, everywhere where people live, there is suffering, she says. I know. But last week I saw on BBC – “

Darlings Bild von ihrem Land ist schon verzerrt – der Roman ist ein literarisches Zurückdenken nach „Paradise“, um es ein Stück weit zurechtzurücken.

Altes neu schreiben: Der Literat

Die Romane von Jim Crace und Colm Tóibín unterscheiden sich von denen der anderen Nominierten in mehrfacher Hinsicht. Beide sind etablierte Autoren, Crace ist zum zweiten, Tóibín schon zum dritten Mal für den Booker nominiert. Ihre Romane haben mit Interkulturalität wenig zu tun, entwerfen viel eher von der Gegenwart weit entrückte Szenarien, an die sich große, überzeitliche Fragen knüpfen. Beide entfalten durch ihre Deutungsoffenheit eine starke Nachwirkung.

Tóibíns „The Testament of Mary“ erzählt die Kreuzigung Christi aus Marias Perspektive neu. Es ist eine Aktualisierung des Bibelstoffes, die Maria der klassisch christlichen Rezeptionslinie entreißt, um sie als trauernde Mutter zu zeigen. Die nüchterne Sprache ihres Berichts zeugt von Fassungslosigkeit und Verzweiflung über den Verlust des Sohnes und die Gewalt, mit der man ihn zu Tode gequält hat. Erboste Leserreaktionen aus den USA, von denen Tóibín berichtet hat, hängen vermutlich mit Marias Weigerung zusammen, jene Interpretationen anzunehmen, die zu den Grundsätzen des christlichen Glaubens geworden sind: „[I]f you want witnesses then I am one and I can tell you now, when you say that he redeemed the world, I will say that it was not worth it. It was not worth it.” Es ist eine Aussage, aus der Verbitterung spricht – über den Tod des Sohnes und die Unwürdigkeit der Menschheit. Eine weitere Variation wird erkennbar, wenn Maria ihren Sohn als von ihr entfernt und entfremdet beschreibt. Sie erkennt in ihm den kleinen, hilfsbedürftigen Jungen nicht wieder, den sie einmal groß gezogen hat. Diese ins menschlich-mütterliche umgebogenen Gefühle der ‚Mutter Gottes‘ führen dagegen nicht zu einer Milderung der Faszination, die Jesus und seine Geschichte auf uns ausüben können; eher verstärkt sich der Eindruck seiner beeindruckenden Ausstrahlung: „And then time created the man who sat beside me at the wedding feast of Cana, the man not heeding me, hearing no one, a man filled with power, a power that seemed to have no memory of years before, when he needed my breast for milk, my hand to help steady him as he learned to walk, or my voice to soothe him to sleep.” Tóibíns Darstellung einer menschlichen Maria hebt den literarischen Wert des Stoffes hervor. Streckenweise liest sich der Text wie eine Kriminalgeschichte; die Ereignisse haben den Anschein einer geheimnisvollen Verschwörung. Durch ihr vielschichtig gezeichnetes emotionales Innenleben ist Maria von einer Heiligen zur Figur geworden. Für den Leser muss das keinesfalls eine Reduktion bedeuten; viel eher ist es eine Wiederbelebung durch poetische Mittel, die nicht zuletzt dazu anregt, sich neu und immer wieder mit dem reichen Repertoire der Bibel zu beschäftigen.

Historisch: Die Viktorianer

Auch in Jim Craces „Harvest“ erscheint das Menschliche alles andere als gottesähnlich. Der Schauplatz des Romans – ein fiktives Dorf, das auch historisch nicht eingeordnet wird – verfügt bezeichnenderweise weder über eine Kirche noch einen Priester: „We are a heathen company, more devoted to the customs and the Holy days than to the Holiness itself.“ Es ist eine feudal organisierte bäuerliche Gemeinde, über die am letzten Erntetag plötzlich Veränderungen hereinbrechen, als ein Stall des Gutsbesitzers in Flammen aufgeht und drei mysteriöse Gestalten auftauchen, die von der Gemeinschaft sogleich ohne Schuldbeweis für den Brand zur Verantwortung gezogen werden. Zeitgleich trifft der rechtmäßige Erbe der Ländereien ein, von einem Landvermesser bei seinem Vorhaben unterstützt, die Weizenfelder in profitablere Weideflächen für die Schafzucht umzufunktionieren. Es geht darum, nach welchen Regeln Land verteilt wird, auf dem Menschen leben. So liegen bis heute politisch brisante Fragen in der Luft, wenn die Dorfbewohner gegen ihren Willen von dem Grund und Boden vertrieben werden, auf dem sie seit Generationen leben. Andererseits: Ist das Recht auf Land allein durch Besiedelung zu erlangen? Eine solche Moral wird verdächtig, als den Neuankömmlingen Gastfreundschaft oder gar Aufnahme in die Gemeinschaft brutal verweigert wird; man sie stattdessen zu Außenseitern und Sündenböcken degradiert – „Why should we share with strangers?“ Die Stärke des Romans liegt in der mysteriösen Stimmung, die sich vor allem durch Craces verschleiernden Sprachduktus vermittelt: „Secrets are like pregnancies hereabouts. You can hide them for a while but then they will start screaming.” Zuweilen rutscht seine Sprache jedoch ins Altbackene ab – dann wirkt sie so antiquiert wie das viktorianisch anmutende Zeitalter, von dem Crace erzählt. Auch der Autor selbst findet seine Bücher nicht mehr ganz zeitgemäß, weshalb er angekündigt hat, nach „Harvest“ mit dem Schreiben aufzuhören.

Der zweite Roman, der Viktorianisches wiederbelebt, tut das ganz offenkundig und wohl noch viel konsequenter. Eleanor Cattons „The Luminaries“, der diesjährige Siegerroman, manövriert seinen Leser nicht nur ins Jahr 1866, sondern imitiert auch auf ganzer Linie die Schreibstile der Realisten. Dass „The Luminaries“ trotzdem als der frischere, zeitgemäßere Roman bezeichnet werden muss, liegt daran, dass Erzählkonventionen nicht nur verwendet, sondern in einer Weise überspitzt und ironisiert werden, dass am Ende das Erzählen selbst in Frage steht.

Der Roman setzt mit der Ankunft Walter Moodys in dem kurz zuvor erst entstandenen neuseeländischen Goldgräberort Hokitika ein. Nach stürmischer Überfahrt will er im Raucherraum des Crown Hotel ein Glas Brandy einnehmen und trifft er auf eine seltsam wirkende Versammlung zwölf sehr verschiedener Personen. Die Nacherzählung der Ereignisse, die zu dieser nächtlichen Konferenz geführt haben, nimmt die ersten 360 Seiten in Anspruch und entfaltet ein riesiges Rätselpuzzle, dessen Einzelteile vom plötzlichen Tod eines Einsiedlers über einen verschwundenen wohlhabenden Grubenbesitzer bis zu einer opiumsüchtigen Prostituierten reichen, in deren Kleider ohne ihr Wissen Goldstückchen eingewebt wurden, deren Wert dem im Haus des Eremiten gefundenen Vermögen in nichts nachsteht. Die absurden Verwicklungen und verwirrenden Konstellationen werfen ein Licht auf die gerade entstehende Gemeinde, deren Bewohner von überallher gekommen sind, um  ihr Glück zu machen: ein Herd für Spekulationen, Intrigen und zwielichtige Geschäfte. In der neuen Welt interessieren Biographien und Stände nicht mehr. Jeder kann sich neu erfinden. Vielleicht lässt Catton deshalb die realistische Erzählweise vom Anfang am Ende zerbröckeln: weil die langen Detailschilderungen über Herkunft und Aussehen jetzt nichts mehr wert sind: „What’s family shame, without a family?“ Nur Handlung, Gefühl und Charakter spielen jetzt noch eine Rolle. Die den Kapiteln nach der Manier von Fielding oder Dickens vorangestellten Synopsen überschreiten am Ende des Romans an Umfang den tatsächlichen Kapitelinhalt. Irgendwann verschwinden auch die leitenden Regieanweisungen des auktorialen Erzählers und machen einer nüchternen, aufs Nötigste reduzierten Sachlichkeit Platz. Auch die zugrundeliegende, schwer entschlüsselbare astronomische Systematik, die die Figuren wie Planeten anordnet und ihnen die Charakterzüge „Reason“, „Desire“, oder „Force“ zuweist, lässt die Geschichte des einzelnen zugunsten seiner Eigenschaften zurücktreten.

„The Luminaries“ ist der Versuch, sich an die Traditionen des British Empire anzunähern, sich ihrer Kultur – zumindest der literarischen – auch ein Stück weit liebevoll zu erinnern; sich dann aber entschieden davon wegzuschreiben: „England – that’s the old country. You miss the old country. Of course you do. But you don’t go back.“ Insofern ist der Roman sicherlich der, der die Zielsetzung des Preises am besten verwirklicht. Die mit 28 Jahren jüngste Booker-Preisträgerin Eleanor Catton, die den längsten jemals nominierten Roman geschrieben hat, ist der Auszeichnung in jeder Hinsicht würdig.

[1] Zur Geschichte des Booker Prize vgl. Luke Strongman: The Booker Prize and the Legacy of Empire. Amsterdam/New York 2002; Graham Huggan: Prizing ‘Otherness’. A Short History of the Booker. In: Studies in the Novel 1997 29/3 (1997), S. 412-433.

[2] Man Booker Prize announces global expansion http://www.themanbookerprize.com/news/man-booker-prize-announces-global-expansion (23.11.2013).

[3] Hans Maier: Literaturpreise als Instrument der Kulturpolitik. In: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung (Hrsg.): Jahrbuch 1987. Darmstadt 1988, S. 107-115.

[4] Richard Todd: Consuming Fictions: The Booker Prize and Fiction in Britain Today. London 1996.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Ruth L. Ozeki: A Tale for the Time Being.
Canongate Books, Edinburgh 2013.
420 Seiten, 8,80 EUR.
ISBN-13: 9780857867971

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Jim Crace: The Harvest.
Picador, Ney York 2013.
256 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9780385520775

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Jhumpa Lahiri: The Lowland.
Bloomsbury Publishing, London 2013.
352 Seiten, 12,95 EUR.
ISBN-13: 9781408844557

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Eleanor Catton: The Luminaries.
Granta Books, London 2013.
848 Seiten, 13,95 EUR.
ISBN-13: 9781847088765

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Colm Tóibín: The Testament of Mary.
Penguin, London 2013.
112 Seiten, 8,70 EUR.
ISBN-13: 9780241962978

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NoViolet Bulawayo: We Need New Names.
Chatto & Windus, London 2013.
304 Seiten, 17,50 EUR.
ISBN-13: 9780701188030

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